Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
Der Generalstab der Lemminge gibt bekannt, ab sofort sind Einzelselbstmorde zu unterlassen. Wer ableben will, ordne sich gefälligst unseren klugen Marschbefehlen unter. Was ist ein individueller Suizid gegen das disziplinierte Ende in der Gemeinschaft von Kameraden. Deutschland brachte es in Stalingrad zum Untergang einer Viertelmillion, beim Zusammenbruch des Mittelabschnitts der Ostfront zum kollektiven Tod einer halben Million Soldaten. Es klappte bei guter Vorbereitung und einsatzwilligem Menschenmaterial. Was zeigt, Tucholskys Wort Soldaten sind Mörder bedarf der akkuraten Korrektur in Soldaten sind Selbstmörder und pflichtgetreu glücklich, wenn der Abmarsch gelingt. Natürlich bedarf der Sprung in die Tiefe 1. einer ausgeklügelten Strategie und 2. eines dankbaren Abgrunds, der hält, was er verspricht. Wahre Lemminge üben solange, bis restlos alle zusammen unten zerschmettern. Die Erde bleibt hernach im ursprünglich paradiesischen Zustand zurück, eine rotierende Gedenkkugel unseres heldenhaften Volkes.
Von Hartwig Runge alias Ingo Graf aus Leipzig (Folge 13 und Nachwort 4) neue Kunde. Setzte er vordem den Chemnitzer Marx-Nischel mit einem virtuellen Ballack-Kopf fort, ist er jetzt beim Musikus Richard Wagner angelangt. So wächst die sächsische Walpurgis-Walhalla von Haupt zu Haupt, Tor zu Tor und Note zu Note. Doch Hartwig R. reagiert auch pünktlich auf meine Antworten im Interview mit Schattenblick:
„HR: Wer technologisch scheitert, kann sozial nichts hinzu gewinnen – und wer ideologisch ›siegte‹, hat schon technologisch fast nichts hinzu gewonnen. Kapital und Arbeit sind halt siamesische Zwillinge, die durch keine Operation getrennt über–leben können. Daher muss der Staat sich so demokratisch modifizieren, dass die Expro–priateure statt von ihrem Eigentum von jenen gewaltig reichen F r ü c h t e n aus (scheinbar) ›ihrem‹ arbeitenden Eigentum enteignet werden, die nicht in den realen Reproduktionsprozeß zurückfließen – durch ein mächtiges Steuerpaket, statt es – moralisch motivieren wollend – umgekehrt denen zu ›spenden‹. Dann käme so etwas wie ein 3. Weg auf den Weg. Kapitalismus ›abschaffen‹ war schon immer eine der dümmsten Formeln für intelligente oder gar intellektuelle Geister, der und denen Marx nicht erlegen war – wohl aber eine zu große Schar von quasireligiösen Marxisten, die wahllos Marx-Zitate zelebrierten wie andere Bibel-Psalme ... Bloch ist halt kein Ideologe sondern Optionist.“
Am 6. Januar 2010 gab es in der FAZ einen kurzen Lichtblick vom Friedens-
1956 war Chruschtschows Jahr mit riskanten Veränderungsversuchen. Der Erfolg hing von der Reformbereitschaft in der SU, in Polen, Ungarn, der CSSR und DDR ab. In Polen und Ungarn entwickelte sich die Situation evolutionär. In der DDR gab es Differenzen im Politbüro und bei Intellektuellen. Die CSSR hielt still und fiel aus. In Ungarn eskalierten die Oktoberunruhen, bis die sowjetische Armee eingriff.
1. Der Startschuss fiel am 30. Januar 1957 in der Leipziger Kongreßhalle Beim Historikertag 1994 in Leipzig konnte Guntolf Herzberg, der über Stasi und Philosophie sprach, das Desinteresse der Geheimen an der Philosophie selbst und die Fokussierung auf die politische Wirkung der Philosophie an zahlreichen Beispielen belegen. Bei der Delegitimierung Blochs allerdings musste die Philosophie selbst mit delegitimiert werden, wozu das 5-Punkte-
Richtete sich 1957 der erste Hauptstoß gegen Blochs Philosophie, gab es 1958 eine abschließende Abrechnung mit Fritz Behrens und seiner oppositionellen Politökonomie. (u.a. Folge 94/95) Die Verbindung Bloch-Behrens erst verdeutlicht die Dimension eines möglichen 3.Weges in der DDR und erklärt zugleich die Energie, mit der Ulbricht die Restalinisierung betrieb, die er so gar nicht wünschte, doch ging es damals um seine Machtposition. As sie gefestigt genug war, versuchte er sich selbst als Reformer (NÖSP) und scheiterte damit an der Verzögerungstaktik und dem Misstrauen der Politbürogenossen in Ostberlin und Moskau.
Werten wir die Moskauer Vorgänge vom März 1956 als Reformationsversuch von oben, bildete sich nach dem ungarischen Oktoberaufstand in der DDR eine Gegenreformation von oben. Die Parteimitglieder wurden nicht gefragt und hatten zu gehorchen. In einem Gebiet, wo Luther und Münzer einst die christliche Reformation betrieben hatten, galt es jetzt den Bloch-Geist samt der ökonomischen Behrens-Folgen auszutreiben.
1956 war ein alternatives Sozialismus-Modell am Horizont aufgetaucht, das mit den Namen Lenin und Trotzki verbunden war. Von 1957 bis 1989 hoffte ich vom Westen aus auf einen 3. Weg, den nur China auf seine Weise fand. Im Rückblick wird klar, 1957 ist unsere Alternative verhindert worden. Das wiederholte sich 1989/90, als die Alternative misslang und erst die DDR, dann die SU verschwand. Womit der altbekannte Krisen- und Kriegskreislauf erneut begann. Das wissen wir seit Marx, und es gibt keinen vernünftigen Grund, dem weiteren Zerfall und Abstieg bis in den Untergang zu applaudieren, auch wenn der Zynismus des Beobachters und Kriegsberichterstatters nicht ohne Reiz sein mag.
Ab 1957 sollte der tote Stalin nur scheintot gewesen sein. Dazu musste die Leipziger philosophische Schule ausgetrieben werden. Die Ideologen erhielten die Chance, das Land der Hoffnung zugrunde zu richten. Dass sich das noch über drei Jahrzehnte hinzog, spricht für seine zähe Gesellschaftsstruktur. Sachsen samt DDR ließen sich unter Wert verkaufen. Für Sachsen war das ein besonders schmerzlicher Verlust, weil damit die kontinuierlich gewachsene moderne Struktur von Industrie, Handel und Arbeiterbewegung abbrach, was bis heute nachwirkt.
In der FAZ vom 2. Januar 2010 äußerte Richard von Weizsäcker im Rückblick auf das Jahr 1960: „In der DDR geriet der große Philosoph Ernst Bloch mit seinem Hauptwerk ›Das Prinzip Hoffnung‹ in massive Kritik. Bloch war nach seinem Exil einem Lehrauftrag an die Universität Leipzig gefolgt, wurde dort alsbald aber wieder zwangsemeritiert. Der SED-Chefideologe Kurt Hager warf ihm vor, die ›Arbeiter- und Bauernkinder zu verseuchen.‹“
Das ist nicht falsch. Jeder einzelne Satz der drei Sätze meint etwas, sagt es aber so allgemein, wie derlei Rückblicke gewohnheitsmäßig ausfallen. Wenn selbst ein Richard von Weizsäcker, kaum bietet das Blatt der Banker die Gunst des Abdrucks einer ganzen Seite, in die frühere Gutgläubigkeit des Wehrmachtshelden von der Leningradfront zurückfällt, kann nur noch das Rote Kreuz helfen. Die Anmerkung zu Bloch fällt unter die Rubrik bloßer Meinungsflachheiten. Seinen in Nürnberg angeklagten Vater hatte der Sohn damals sachkundig und mit Raffinesse verteidigt, beim „großen Philosophen Ernst Bloch“ wird eben mal etwas so hingehuscht. Das ist die deutsche Differenz. So dient der Fall Bloch als Exempel weitverbreiteter westlicher Überlegenheit. Mangelnde Kenntnis und Tiefe reicht nicht für eine „Option Bloch“. In einem Interview gestand Weizsäcker vor einiger Zeit, er sei als junger Wehrmachtssoldat 1939 voller blauäugiger Unwissenheit mit nach Polen einmarschiert. So ging es weiter bis vor Leningrad. 2010 ist die Unwissenheit als elitäre Krankheit noch umfassender geworden. Karriere als Negativauslese führt über den konsequenten Tunnelblick zum Leben im Tunnel, dabei verspricht der FAZ-Abdruck den Aufbruch Zu neuen Ufern. Es sind die alten Ufer der Bild-Zeitung, in deren Sonntagsausgabe am 6. 9 09 zu lesen stand, Weizsäckers Regimentskommandeur habe den Hauptmann noch kurz vor Kriegsende zur Nennung im Ehrenblatt des deutschen Heeres vorgeschlagen, denn „sein freiwilliger schneidiger Einsatz ist besonders hoch zu bewerten.“ Und weiter mit der Eloge: … „leuchtendes Beispiel … notfalls härteste Maßnahmen… Tausende gerettet …“
Der Belobigte dazu bescheiden: „Als Held… fühle ich mich nicht.“ Ein Wehrmachtshauptmann, die Brust voller Orden, doch kein Held. Ist er wenigstens passabler als unser Hessen-Stahlhelm Dregger war, frage ich mich gerade weil ich meinen Leipziger Genossen von 1957 vorwerfe, durch ihr konformes Schweigen die damalige Reform-Chance verspielt zu haben. Offenbar sind Abstufungen auf der Skala Freiheit – Tapferkeit (Zivilcourage) nötig. Die DDR-Genossen glaubten an ihre gesellschaftliche Aufgabe, die Wehrmachtsoffiziere gehorchten ihrem Führer erst aus völkischer Überheblichkeit und später aus Feigheit vor der befreienden Tat. Hinterher haben alle im Krieg nur Flüchtlinge vor der Roten Armee gerettet.
Die DDR, ursprünglich als besseres Deutschland konditioniert, erhielt 1956 für sieben Monate die Möglichkeit zur Verwirklichung. Sie wurde vertan. Aus lauter Angst vor dem kurzen Ende wählte man das lange Ende – zuletzt noch gesponsert mit dem Strauß'schen Milliardenkredit und totgestottert vom versehentlichen Mauerbrecher Schabowski – der Politbüro – ND-Chef heute ein gerngesehener CDU-Festtagsredner. Karrieren sind das, als würden Krokodile auf dem Fahrrad zu Artisten.
Als ich in Leipzig den versammelten Kulturgenossen statt der fälligen Selbstkritik das ganze angefeindete Gedicht vortrug, war mir beinahe ein wenig stolz zumute Wer kriegt schon so einen irren Saal voller erwartungsvoller Zuhörer präsentiert – was für eine tolle Atmosphäre zur Dichterlesung. Mit Loest am Abend beim schnellen Bier fragten wir uns, wie viele solcher Siege wir uns noch erlauben durften.
Meine alte kriegserprobte Angewohnheit, auf Gefahren mit unordentlichen Versen zu reagieren, konnte fatal enden. Also mal ohne Umschweife – wer ist schon so blöd, seinen Oberen vor Publikum ins Gesicht zu deklamieren: „… Buben gleich habt ihr geschlafen, lange, nur nicht so gesund. Die Revolution fuhr auf Grund und das mitten im Hafen …“
Ich liebte eben mein Land und meine Genossen. Sogar die von ganz oben. Die Revolution ging mir über alles wie den anderen ihr Deutschland (-Lied).
In Stalingrad starben immer mehr tapfre Soldaten von einem Augenblick zum anderen. Am 18.12.1942 wurde der Pathologe Dr. Hans Girgensohn zur VI. Armee eingeflogen. Er stammte aus Dorpat und war 1941 in Leipzig habilitiert worden.
Man lagerte 50 Leichen um ein Feuer, um sie aufzutauen. Es ergab sich, 25 Kameraden waren den Hungertod gestorben. Soviel wussten die 600 Militärärzte im Kessel auch. Nur war ihnen verboten, das zu benennen. Es handelte sich um ein besonderes Verhungern. Statt langsam zu ermatten, hielt der Soldat sich aufrecht bis zum Sekundentod, der als deutsches Express-
Die militärische Tapferkeit Richard von Weizsäckers bei der Rettung von Flüchtlingen, die es ohne ihn und seine Kameraden gar nicht gegeben hätte, die in Sekundenschnelle aufrecht Verhungernden von Stalingrad, die Genossen von Leipzig, die der Wiederauferstehung Stalins parteiergeben schweigend zustimmten, das 5- Punkte-Programm zur Abwicklung von Ernst Bloch – dies alles bezeugt das rituelle Opfer, das der eigenen Vergangenheit gebracht wird. Es fehlt die Kraft zur existentiellen Differenz. (Jacques Derrida) Sie verbleiben in der Pauschalität ihrer Sklavensprache, die Revolte scheuend, wie Victor Klemperer konstatierte (LTI), ihrem Nietzsche gehorchend, der sie anherrscht: „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll.“ Da Bloch entgegnete, der Mensch sei noch im Werden begriffen, wurde er erst zum Schweigen verurteilt und dann weggeekelt. Sie wollen nicht Mensch werden, sie wollen ihn überwinden. Und die anderen holen ihren übermenschlichen Stalin zurück, denn wer weiß schon, wie viele Napoleons noch aufbrechen die Welt zu beherrschen.
Gert Gablenz, mein Pseudonym Nr. 1 behauptet, Sachsen sei der Nabel Europas wie Tibet das 3. Auge Asiens ist. Tatsächlich gleichen Karl May und der Dalai Lama einander in kecker Abenteuerlust. Gablenz sucht die Sachsen und Tibeter mit den Chinesen zu verkoppeln (verkuppeln), denn Tibet war vor der chinesischen Besetzung ein schäbiger despotischer Feudalstaat und Sachsen fällt ohne China in einen zurück. Man stelle sich am Rhein von Basel bis Rotterdam beiderseits einen 50 km breiten Streifen vor und denke sich so einen Streifen von Rostock über Berlin bis zum Erzgebirge, Leipzig und Dresden einbegriffen, da sähe man bei den Westlern viermal soviel Kapital und Produktion wie bei den Ostlern. Im Verhältnis zum Westen ist der Osten ein deutsches Tibet geworden. Verarmtes Land mit viel Volk außerhalb. Nachdem der Versuch, die DDR als Groß-Sachsen zu begründen am Unwillen der Götter scheiterte, helfen uns nur Sonderbeziehungen zu den benachbarten Tschechen und Polen bis zu den Russen und Chinesen. Der vielsprachige vielversprechende Sorbe Tillich sollte seine CDU mit der sächsischen Linkspartei zur großen Dresdner Koalition verbinden. Trainiert hatte er ja schon in DDR-Zeiten. Wenn Christen wie Marxisten ihren Jesus und Marx beim Wort nehmen, fallen Grenzmauern wie einst in Jericho.
Das mehrmals erwähnte kleine Freiheitsgedicht, Erstdruck im Sonntag vom 1. Juli 1956, brachte soviel Bedrängnis ein, dass man beinahe an die Wirkung des Wortes glauben könnte. Kleine 40 Jahre später, exakt am 1./2. Juli (Sonnabend/Sonntag) 2006 druckte Neues Deutschland den Text nach. Hatte die Erstveröffentlichung unsere damalige DDR-Kultur erschüttert, antwortete dem Nachdruck eisernes Schweigen. Ich verstehe, die Revolution ist im Eimer. Stattdessen haben wir heute die globale Freiheit zum Kriegführen. Es ist ja auch kein schönes Gedicht. Etwas naiv und so verwirrend, dass es in Der Widerspruch 1974 beim S. Fischer Verlag in Frankfurt am Main gleich 2 x (Seiten 91 und 196) gedruckt wurde. Doppelt hält besser. Zum fairen Ausgleich sparte der Aufbau Verlag 1991 bei der Taschenbuch-
Am Anfang wurde Hartwig Runges Satz von der Bloch-Option zitiert, der zu erweitern wäre in eine Bloch-Behrens-
Wer das als bloße DDR-Historie betrachtet, verkennt die heutige Situation. Der Rückkehr der DDR zu Stalin entspricht die drohende Rückkehr der Berliner Republik zu kaiserlichen Kriegsverbrechen. Bereits im Oktober 1995 stellte BW-Generalinspekteur General Naumann „die Niederschlagung des Boxeraufstandes in China 1900 und den Ausrottungskrieg gegen die Hereros in Deutsch-Südwestafrika 1904“ als legitime Handlungen und Beispiele für die Bundeswehr dar. (zitiert nach Günter Verheugen am 6.11.1995) So korrespondiert das Zurück zu Stalin in der DDR von 1957 dem Zurück zum Kaiser im vereinigten Deutschland von heute. Offensichtlich sind die Zukunftsoptionen in Vergangenheitsentscheidungen umgetauscht worden. Aus Blochs futuristischem Satz, der Mensch sei etwas, das noch im Werden begriffen sei, wurde der Rückgriff auf Nietzsches fatales Diktum „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll.“ Bei solchen radikalen Schwenks stehen uns noch gewaltige Überraschungen bevor. Da in den letzten Jahren die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung ihren Büchnerpreis gern an kohlschwarze Kreuzritter und mobile Kriegsprediger verteilte, erlauben wir uns die kleine Dekonstruktion und ziehen unsern fatalen Kollegen den Genossen Walter Ulbricht vor, der mit der Endzerstörung des Berliner Schlosses büchnergetreu Friede den Hütten, Krieg den Palästen demonstrierte statt wie heute üblich umgekehrt.
Ein weiteres Nachwort ist für Montag, den 08.02.2010, geplant.
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Gerhard Zwerenz
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