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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | 13. Nachwort

Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

  13. Nachwort

Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung

  Richard Wagner für die Chemnitzer Walpurgis-Walhalla (Montage von Hartwig Runge)
Der Generalstab der Lemminge gibt bekannt, ab sofort sind Einzel­selbst­morde zu unter­lassen. Wer ableben will, ordne sich gefälligst unseren klugen Marsch­befehlen unter. Was ist ein indivi­dueller Suizid gegen das disziplinierte Ende in der Gemeinschaft von Kameraden. Deutschland brachte es in Stalingrad zum Untergang einer Viertel­million, beim Zusammen­bruch des Mittel­abschnitts der Ostfront zum kollektiven Tod einer halben Million Soldaten. Es klappte bei guter Vorbe­reitung und einsatzwilligem Menschen­material. Was zeigt, Tucholskys Wort Soldaten sind Mörder bedarf der akkuraten Korrektur in Soldaten sind Selbstmörder und pflicht­getreu glücklich, wenn der Abmarsch gelingt. Natürlich bedarf der Sprung in die Tiefe 1. einer ausge­klügel­ten Strategie und 2. eines dank­baren Abgrunds, der hält, was er verspricht. Wahre Lemminge üben so­lange, bis restlos alle zusammen unten zer­schmettern. Die Erde bleibt hernach im ursprüng­lich paradie­sischen Zustand zurück, eine rotierende Gedenkkugel unseres heldenhaften Volkes.
Von Hartwig Runge alias Ingo Graf aus Leipzig (Folge 13 und Nachwort 4) neue Kunde. Setzte er vordem den Chemnitzer Marx-Nischel mit einem virtuellen Ballack-Kopf fort, ist er jetzt beim Musikus Richard Wagner angelangt. So wächst die sächsische Walpurgis-Walhalla von Haupt zu Haupt, Tor zu Tor und Note zu Note. Doch Hartwig R. reagiert auch pünktlich auf meine Antworten im Interview mit Schattenblick:
„HR: Wer techno­logisch scheitert, kann sozial nichts hinzu gewinnen – und wer ideologisch ›siegte‹, hat schon technologisch fast nichts hinzu gewonnen. Kapital und Arbeit sind halt siamesische Zwillinge, die durch keine Operation getrennt über–leben können. Daher muss der Staat sich so demokratisch modifizieren, dass die Expro–priateure statt von ihrem Eigentum von jenen gewaltig reichen F r ü c h t e n aus (schein­bar) ›ihrem‹ arbeitenden Eigentum enteignet werden, die nicht in den realen Repro­duktions­prozeß zurück­fließen – durch ein mächtiges Steuerpaket, statt es – moralisch motivieren wollend – umgekehrt denen zu ›spenden‹. Dann käme so etwas wie ein 3. Weg auf den Weg. Kapitalis­mus ›abschaffen‹ war schon immer eine der dümmsten Formeln für intelli­gente oder gar intel­lektuel­le Geister, der und denen Marx nicht erlegen war – wohl aber eine zu große Schar von quasi­religiö­sen Marxisten, die wahllos Marx-Zitate zele­brierten wie andere Bibel-Psalme ... Bloch ist halt kein Ideologe sondern Optionist.“
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Losung des Neoliberalismus (satirische Collage von Hartwig Runge)

 
Jeder Runge-Satz bedürfte gesonderter Re­fle­xion. Hier nur zwei davon. Nr. 1: Die So­wjet­union schei­terte tech­no­logisch und wirt­schaft­lich. Der Gegen­satz ist China, das bisher mit seinem kom­munis­tischen Kapita­lismus standhält. Es ging nicht unter, fesselte sich aber an die USA. Und nun die Nr. 2 zu Runges Schluss-Satz: „Bloch ist halt kein Ideologe, sondern Optionist.“ Das ist so gut, dass es keine De­konstruktion erfordert, weil es zu Blochs These von der Liebe zum Gelingen gehört. Anders gesagt, nein gefragt. Wie entgehen wir dem kollek­tiven Hang der Lemminge zum Selbstmord?
Am 6. Januar 2010 gab es in der FAZ einen kurzen Lichtblick vom Friedens-Akti­visten Jürgen Todenhöfer: „Der Bumerang – Thesen zu einem sinn­losen Krieg“. Gut gemeint und geschrieben, lieber Verfasser, viele Ihrer Mit-Christen aber halten den Krieg durchaus für sinnvoll. Am selben Tag darf sich der „Professor Dr. Klaus Schröder“ im selben Blatt über eine ganze Seite herzens­ergießen: „In den neuen Ländern ist Kritik an den politischen und gesell­schaft­lichen Verhält­nis­sen in der Bundes­republik weit verbreitet. Die DDR wird dagegen zur sozialen Idylle verklärt – zwei Seiten einer Medaille.“ Das geht dem in Berlin tätigen Histo­riker und SED-Diktatur-Forscher Klaus Schröder gewaltig gegen den Strich, auf den er geht.
1956 war Chruschtschows Jahr mit riskanten Verän­derungs­ver­suchen. Der Erfolg hing von der Reform­bereit­schaft in der SU, in Polen, Ungarn, der CSSR und DDR ab. In Polen und Ungarn ent­wickelte sich die Situa­tion evolutionär. In der DDR gab es Diffe­renzen im Politbüro und bei Intel­lektuel­len. Die CSSR hielt still und fiel aus. In Ungarn eska­lierten die Oktober­unruhen, bis die sowje­tische Armee eingriff.
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Walter-Ulbricht-Brief, mit dem das 5-Punkte-Programm gegen Bloch begann

 
Am 28.11.56 schrieb Walter Ulbricht einen Brief an Paul Fröhlich, den 1. Sekretär der Leipziger SED-Bezirks­leitung. Es war der Beginn seines Re­stalini­sie­rungs-Programms, das zwei Punkte umfasste. Als erstes gingen Polizei und Justiz zum Angriff über. Zum anderen sollte die ver­flüchtigte ideo­logische Dominanz der Gruppe Ulbricht wieder her­gestellt und gesichert werden. Zum Teil 1 sind die Fakten hin­reichend bekannt. Zum Teil 2 nicht. War 1956 charak­teri­siert von Chruscht­schows Reform­ver­suchen, wurde das Jahr 1957 in der DDR zur sta­linis­tischen Reaktion auf die anti­stali­nis­tischen Aktivi­täten beim 20. Parteitag in Moskau. Initiator und treibende Kraft bei der Gegen­reformation wurde Walter Ulbricht. Die bisher unbekannt geblie­bene Drama­turgie umfasste 5 einzelne Akte:

1. Der Start­schuss fiel am 30. Januar 1957 in der Leipziger Kongreß­halle
2. Die Anti-Bloch-Konfe­renz fand am 4./5. April ebenfalls in Leipzig statt. Über­raschend schnell und noch im selben Jahr lag das Protokoll in Buchform vor: Ernst Blochs Revision des Marxismus, Untertitel: Kritische Aus­einander­set­zung marxis­tischer Wissen­schaftler mit der Blochschen Philo­sophie (VEB Deutscher Verlag der Wissen­schaften, Berlin 1957)
3. Kultur­konferenz am 10./11. Oktober 57 in Leipzig Zur Vorbe­reitung der Kulturkonferenz des ZK der SED
4.
33. Plenum des ZK der SED in Berlin, genaue­res Datum unbekannt, Teil­berichte ab 20.Oktober 57 (Neues Deutschland)
5.
Anti-Bloch-Tribunal am 12./13. Dezember 57 als Sitzung der Partei­gruppe des Präsidial­rates des Kulturbundes im „Gäste­haus der Regierung“ (Dieses 5-Punkte-Anti-Bloch-Programm wurde bisher ignoriert. Warum?)

Beim Historikertag 1994 in Leipzig konnte Guntolf Herzberg, der über Stasi und Philosophie sprach, das Des­interesse der Geheimen an der Philosophie selbst und die Fokus­sierung auf die politische Wirkung der Philo­sophie an zahl­reichen Beispielen belegen. Bei der Delegi­timierung Blochs aller­dings musste die Philo­sophie selbst mit delegitimiert werden, wozu das 5-Punkte-Programm zur Abwicklung Blochs diente, dessen unter­schiedliche Ziel­gruppen taktisch klug ausgewählt waren. Selbst der erste Schlag am 30.1.57 in der Leipziger Kongreßhalle mit der Haupt-Attacke auf mein Frei­heits­gedicht zählte zur Strategie – es war im Sonntag erschienen, der Wochen­zeit­schrift des Kulturbundes, und das Anti-Bloch-Tribunal zum Jahres­ende am 12./13. Dezember im Berliner Regie­rungs­gäste­haus zielte über den Prä­sidial­rat des Kultur­bundes exakt aufs gleiche kulturell interessierte Publikum.
Richtete sich 1957 der erste Haupt­stoß gegen Blochs Philo­sophie, gab es 1958 eine abschließende Abrech­nung mit Fritz Behrens und seiner oppo­sitionel­len Polit­ökonomie. (u.a. Folge 94/95) Die Verbin­dung Bloch-Behrens erst verdeutlicht die Dimen­sion eines möglichen 3.Weges in der DDR und erklärt zugleich die Energie, mit der Ulbricht die Restali­nisie­rung betrieb, die er so gar nicht wünschte, doch ging es damals um seine Macht­position. As sie gefestigt genug war, versuchte er sich selbst als Reformer (NÖSP) und scheiterte damit an der Ver­zögerungs­taktik und dem Miss­trauen der Polit­büro­genossen in Ostberlin und Moskau.
Werten wir die Moskauer Vorgänge vom März 1956 als Reformationsversuch von oben, bildete sich nach dem ungarischen Oktoberaufstand in der DDR eine Gegenreformation von oben. Die Parteimitglieder wurden nicht gefragt und hatten zu gehorchen. In einem Gebiet, wo Luther und Münzer einst die christliche Reformation betrieben hatten, galt es jetzt den Bloch-Geist samt der ökonomischen Behrens-Folgen auszutreiben.
1956 war ein alternatives Sozialismus-Modell am Horizont aufgetaucht, das mit den Namen Lenin und Trotzki verbunden war. Von 1957 bis 1989 hoffte ich vom Westen aus auf einen 3. Weg, den nur China auf seine Weise fand. Im Rückblick wird klar, 1957 ist unsere Alternative verhindert worden. Das wiederholte sich 1989/90, als die Alternative misslang und erst die DDR, dann die SU verschwand. Womit der altbekannte Krisen- und Kriegskreislauf erneut begann. Das wissen wir seit Marx, und es gibt keinen vernünftigen Grund, dem weiteren Zerfall und Abstieg bis in den Untergang zu applaudieren, auch wenn der Zynismus des Beobachters und Kriegsberichterstatters nicht ohne Reiz sein mag.

Scheidemann gegen Friedrich Eberts Sachsenschlag, denn „Der Feind steht rechts“

 
Fragt sich, was uns das im Jahr 2010 noch angeht. Plagen uns nicht ganz andere Sorgen? Was aber, wenn unsere aktuellen Sorgen die struk­turel­len Folgen vergan­gener Ent­schei­dungen sind? Am 30. Januar 1957 schwiegen mehrere hundert in der Leipziger Kongreß­halle versammelte Kultur­genossen aus Partei­disziplin, als die Parole Zurück zu Stalin ausgegeben wurde. Die geteilte Feig­heit verschmolz nach der laut beju­belten fried­lichen Revo­lution von 1989 zur be­que­men einheit­lichen Feigheit. An jenem 30. Januar hatte die SED Verrat am Moskauer Reform­versuch und zugleich an der sächsi­schen Arbeiter­be­wegung be­gan­gen, ganz wie die Sozial­demokratie von 1923, als Friedrich Ebert die Reichs­wehr nach Sachsen schick­te, um die gewählte Links­regierung per Sachsenschlag (Folge 30) aufzu­lösen. Die Folgen waren nach 1923 so katas­trophal wie 1957, als der DDR mit Stalins Auf­erweckung der Untergang verordnet wurde.
Ab 1957 sollte der tote Stalin nur scheintot gewesen sein. Dazu musste die Leipziger philo­sophische Schule ausge­trieben werden. Die Ideologen erhielten die Chance, das Land der Hoffnung zugrunde zu richten. Dass sich das noch über drei Jahr­zehnte hinzog, spricht für seine zähe Gesell­schafts­struktur. Sachsen samt DDR ließen sich unter Wert verkaufen. Für Sachsen war das ein besonders schmerz­licher Verlust, weil damit die kontinu­ier­lich gewach­sene moderne Struktur von Industrie, Handel und Arbei­ter­bewegung abbrach, was bis heute nachwirkt.
In der FAZ vom 2. Januar 2010 äußerte Richard von Weizsäcker im Rück­blick auf das Jahr 1960: „In der DDR geriet der große Philosoph Ernst Bloch mit seinem Hauptwerk ›Das Prinzip Hoffnung‹ in massive Kritik. Bloch war nach seinem Exil einem Lehr­auf­trag an die Uni­versität Leipzig gefolgt, wurde dort alsbald aber wieder zwangs­emeri­tiert. Der SED-Chef­ideo­loge Kurt Hager warf ihm vor, die ›Arbeiter- und Bauern­kinder zu ver­seuchen.‹“
Das ist nicht falsch. Jeder einzelne Satz der drei Sätze meint etwas, sagt es aber so allgemein, wie derlei Rückblicke gewohnheits­mäßig ausfallen. Wenn selbst ein Richard von Weizsäcker, kaum bietet das Blatt der Banker die Gunst des Abdrucks einer ganzen Seite, in die frühere Gutg­läubigkeit des Wehr­machts­helden von der Leningrad­front zurück­fällt, kann nur noch das Rote Kreuz helfen. Die Anmerkung zu Bloch fällt unter die Rubrik bloßer Meinungsflachheiten. Seinen in Nürnberg angeklagten Vater hatte der Sohn damals sachkundig und mit Raffinesse verteidigt, beim „großen Philo­sophen Ernst Bloch“ wird eben mal etwas so hingehuscht. Das ist die deutsche Differenz. So dient der Fall Bloch als Exempel weit­verbrei­teter westlicher Über­legenheit. Mangelnde Kenntnis und Tiefe reicht nicht für eine „Option Bloch“. In einem Interview gestand Weizsäcker vor einiger Zeit, er sei als junger Wehrmachtssoldat 1939 voller blauäugiger Unwissenheit mit nach Polen ein­marschiert. So ging es weiter bis vor Leningrad. 2010 ist die Unwissen­heit als elitäre Krankheit noch umfassender geworden. Karriere als Negativ­auslese führt über den konse­quenten Tunnelblick zum Leben im Tunnel, dabei verspricht der FAZ-Abdruck den Aufbruch Zu neuen Ufern. Es sind die alten Ufer der Bild-Zeitung, in deren Sonntags­ausgabe am 6. 9 09 zu lesen stand, Weizsäckers Regimentskommandeur habe den Hauptmann noch kurz vor Kriegsende zur Nennung im Ehrenblatt des deutschen Heeres vorgeschlagen, denn „sein freiwil­liger schneidiger Einsatz ist besonders hoch zu bewerten.“ Und weiter mit der Eloge: … „leuch­tendes Beispiel … notfalls härteste Maßnahmen… Tausende gerettet …“
Der Belobigte dazu bescheiden: „Als Held… fühle ich mich nicht.“ Ein Wehr­machts­hauptmann, die Brust voller Orden, doch kein Held. Ist er wenigstens passabler als unser Hessen-Stahl­helm Dregger war, frage ich mich gerade weil ich meinen Leipziger Genossen von 1957 vorwerfe, durch ihr konformes Schweigen die damalige Reform-Chance ver­spielt zu haben. Offenbar sind Ab­stufungen auf der Skala Freiheit – Tapferkeit (Zivil­courage) nötig. Die DDR-Genos­sen glaubten an ihre gesellschaftliche Aufgabe, die Wehr­machts­offi­ziere gehorch­ten ihrem Führer erst aus völkischer Überheb­lich­keit und später aus Feigheit vor der befrei­enden Tat. Hinter­her haben alle im Krieg nur Flüchtlinge vor der Roten Armee gerettet.
Die DDR, ursprünglich als besseres Deutschland kondi­tioniert, erhielt 1956 für sieben Monate die Möglichkeit zur Verwirklichung. Sie wurde vertan. Aus lauter Angst vor dem kurzen Ende wählte man das lange Ende – zuletzt noch gesponsert mit dem Strauß'schen Mil­liarden­kredit und tot­gestot­tert vom versehent­lichen Mauer­brecher Schabowski – der Politbüro – ND-Chef heute ein gern­gesehener CDU-Fest­tags­redner. Karrieren sind das, als würden Krokodile auf dem Fahrrad zu Artisten.
Als ich in Leipzig den versammelten Kultur­genossen statt der fälligen Selbst­kritik das ganze angefeindete Gedicht vortrug, war mir beinahe ein wenig stolz zumute Wer kriegt schon so einen irren Saal voller erwartungs­voller Zuhörer präsentiert – was für eine tolle Atmo­sphäre zur Dichter­lesung. Mit Loest am Abend beim schnellen Bier fragten wir uns, wie viele solcher Siege wir uns noch erlauben durften.
Meine alte kriegs­erprobte Ange­wohnheit, auf Gefahren mit unordent­lichen Versen zu reagieren, konnte fatal enden. Also mal ohne Umschweife – wer ist schon so blöd, seinen Oberen vor Publikum ins Gesicht zu deklamieren: „… Buben gleich habt ihr geschlafen, lange, nur nicht so gesund. Die Revolution fuhr auf Grund und das mitten im Hafen …“
Ich liebte eben mein Land und meine Genossen. Sogar die von ganz oben. Die Revo­lution ging mir über alles wie den anderen ihr Deutschland (-Lied).
In Stalingrad starben immer mehr tapfre Soldaten von einem Augenblick zum anderen. Am 18.12.1942 wurde der Pathologe Dr. Hans Girgensohn zur VI. Armee eingeflogen. Er stammte aus Dorpat und war 1941 in Leipzig habilitiert worden.
Man lagerte 50 Leichen um ein Feuer, um sie aufzutauen. Es ergab sich, 25 Kameraden waren den Hunger­tod gestorben. Soviel wussten die 600 Militär­ärzte im Kessel auch. Nur war ihnen verboten, das zu benennen. Es handelte sich um ein besonderes Verhungern. Statt langsam zu ermatten, hielt der Soldat sich aufrecht bis zum Sekundentod, der als deutsches Express-Sterbe-Syndrom in die Medizin­geschichte einging. Gehorsam ausharren bis zum letzten Atemzug. Aufrecht sterben statt aufrecht leben. Den Patho­logen flog man vor dem Ende wieder aus. Er wurde noch gebraucht.
Die militärische Tapferkeit Richard von Weizsäckers bei der Rettung von Flüchtlingen, die es ohne ihn und seine Kameraden gar nicht gegeben hätte, die in Sekundenschnelle aufrecht Verhungernden von Stalingrad, die Genossen von Leipzig, die der Wieder­auf­erstehung Stalins partei­ergeben schweigend zustimmten, das 5- Punkte-Programm zur Abwicklung von Ernst Bloch – dies alles bezeugt das rituelle Opfer, das der eigenen Vergangenheit gebracht wird. Es fehlt die Kraft zur existentiellen Differenz. (Jacques Derrida) Sie verbleiben in der Pauschalität ihrer Sklavensprache, die Revolte scheuend, wie Victor Klemperer konstatierte (LTI), ihrem Nietzsche gehorchend, der sie anherrscht: „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll.“ Da Bloch entgegnete, der Mensch sei noch im Werden begriffen, wurde er erst zum Schweigen verurteilt und dann weggeekelt. Sie wollen nicht Mensch werden, sie wollen ihn überwinden. Und die anderen holen ihren über­menschlichen Stalin zurück, denn wer weiß schon, wie viele Napoleons noch aufbrechen die Welt zu beherrschen.
Gert Gablenz, mein Pseudonym Nr. 1 behauptet, Sachsen sei der Nabel Europas wie Tibet das 3. Auge Asiens ist. Tatsächlich gleichen Karl May und der Dalai Lama einander in kecker Abenteuerlust. Gablenz sucht die Sachsen und Tibeter mit den Chinesen zu verkoppeln (verkuppeln), denn Tibet war vor der chinesischen Besetzung ein schäbiger despotischer Feudalstaat und Sachsen fällt ohne China in einen zurück. Man stelle sich am Rhein von Basel bis Rotterdam beiderseits einen 50 km breiten Streifen vor und denke sich so einen Streifen von Rostock über Berlin bis zum Erzgebirge, Leipzig und Dresden einbegriffen, da sähe man bei den Westlern viermal soviel Kapital und Produktion wie bei den Ostlern. Im Verhältnis zum Westen ist der Osten ein deutsches Tibet geworden. Verarmtes Land mit viel Volk außerhalb. Nachdem der Versuch, die DDR als Groß-Sachsen zu begründen am Unwillen der Götter scheiterte, helfen uns nur Sonderbeziehungen zu den benachbarten Tschechen und Polen bis zu den Russen und Chinesen. Der viel­sprachige viel­versprechende Sorbe Tillich sollte seine CDU mit der sächsischen Linkspartei zur großen Dresdner Koalition verbinden. Trainiert hatte er ja schon in DDR-Zeiten. Wenn Christen wie Marxisten ihren Jesus und Marx beim Wort nehmen, fallen Grenzmauern wie einst in Jericho.
Das mehrmals erwähnte kleine Freiheits­gedicht, Erstdruck im Sonntag vom 1. Juli 1956, brachte soviel Bedrängnis ein, dass man beinahe an die Wirkung des Wortes glauben könnte. Kleine 40 Jahre später, exakt am 1./2. Juli (Sonnabend/Sonntag) 2006 druckte Neues Deutschland den Text nach. Hatte die Erstveröffentlichung unsere damalige DDR-Kultur erschüttert, antwortete dem Nach­druck eisernes Schweigen. Ich verstehe, die Revolution ist im Eimer. Stattdessen haben wir heute die globale Freiheit zum Kriegführen. Es ist ja auch kein schönes Gedicht. Etwas naiv und so verwirrend, dass es in Der Widerspruch 1974 beim S. Fischer Verlag in Frankfurt am Main gleich 2 x (Seiten 91 und 196) gedruckt wurde. Doppelt hält besser. Zum fairen Ausgleich sparte der Aufbau Verlag 1991 bei der Taschen­buch-Ausgabe das Gedicht ganz ein.
Am Anfang wurde Hartwig Runges Satz von der Bloch-Option zitiert, der zu erweitern wäre in eine Bloch-Behrens-Option, also neue Philosophie plus neue Ökonomie, eine BB-Option wie Bertolt Brecht, der am 14. August 1956 verstarb, als auch in Ostberlin noch Chruschtschows Antistalinkurs galt. Am 28. November folgte dann der Startschuss zur Restau­ration mit Walter Ulbrichts Brief gegen Bloch.
Wer das als bloße DDR-Historie betrachtet, verkennt die heutige Situation. Der Rückkehr der DDR zu Stalin entspricht die drohende Rück­kehr der Berliner Republik zu kaiserlichen Kriegs­verbrechen. Bereits im Oktober 1995 stellte BW-General­inspekteur General Naumann „die Nieder­schla­gung des Boxer­aufstandes in China 1900 und den Aus­rot­tungskrieg gegen die Hereros in Deutsch-Südwestafrika 1904“ als legitime Hand­lungen und Beispiele für die Bundeswehr dar. (zitiert nach Günter Verheugen am 6.11.1995) So korres­pondiert das Zurück zu Stalin in der DDR von 1957 dem Zurück zum Kaiser im vereinigten Deutschland von heute. Offensichtlich sind die Zukunfts­optionen in Ver­gan­genheits­entschei­dungen umgetauscht worden. Aus Blochs futuristischem Satz, der Mensch sei etwas, das noch im Werden begriffen sei, wurde der Rückgriff auf Nietzsches fatales Diktum „Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll.“ Bei solchen radikalen Schwenks stehen uns noch gewaltige Über­raschungen bevor. Da in den letzten Jahren die Darmstädter Akademie für Sprache und Dich­tung ihren Büchner­preis gern an kohl­schwarze Kreuz­ritter und mobile Kriegs­prediger verteilte, erlauben wir uns die kleine Dekon­struktion und ziehen unsern fatalen Kollegen den Genos­sen Walter Ulbricht vor, der mit der End­zer­störung des Berliner Schlosses büchner­getreu Friede den Hütten, Krieg den Palästen demon­strierte statt wie heute üblich umgekehrt.

Ein weiteres Nachwort ist für Montag, den 08.02.2010, geplant.

Fotos zur Lesung mit Gerhard Zwerenz aus der Sächsischen Autobiographie am 19.11.2009 im Haus des Buches, Leipzig   externer Link

Lesungs-Bericht bei Schattenblick  externer Link

Interview mit Ingrid und Gerhard Zwerenz bei Schattenblick  externer Link

Gerhard Zwerenz   01.02.2010   
Gerhard Zwerenz
Serie
  1. Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
  2. Wird Sachsen bald chinesisch?
  3. Blick zurück und nach vorn
  4. Die große Sachsen-Koalition
  5. Von Milbradt zu Ernst Jünger
  6. Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
  7. Reise nach dem verlorenen Ich
  8. Mit Rasputin auf das Fest der Sinne
  9. Van der Lubbe und die Folgen
  10. Unser Schulfreund Karl May
  11. Hannah Arendt und die Obersturmbannführer
  12. Die Westflucht ostwärts
  13. Der Sänger, der nicht mehr singt
  14. Ich kenne nur
    Karl May und Hegel
  15. Mein Leben als Prophet
  16. Frühe Liebe mit Trauerflor
  17. Der Schatten Leo Bauers
  18. Von Unselds Gegner zu Holtzbrincks Bodyguard
  19. Karl May Petrus Enzensberger Walter Janka
  20. Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen
  21. Tanz in die zweifache Existenz
  22. General Hammersteins Schweigen
  23. Die Pleiße war mein Mississippi
  24. Im Osten verzwergt und verhunzt?
  25. Uwe Johnson geheimdienstlich
  26. Was fürchtete Uwe Johnson
  27. Frühling Zoo Buchmesse
  28. Die goldenen Leipziger Jahre
  29. Das Poeten-Projekt
  30. Der Sachsenschlag und die Folgen
  31. Blick zurück auf Wohlgesinnte
  32. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (I)
  33. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (II)
  34. Brief mit Vorspann an Erich Loest
  35. Briefwechsel mit der Welt der Literatur
  36. Die offene Wunde der Welt der Literatur
  37. Leipzig – wir kommen
  38. Terror im Systemvergleich
  39. Rachegesang und Kafkas Prophetismus
  40. Die Nostalgie der 70er Jahre
  41. Pauliner Kirche und letzte Helden
  42. Das Kickers-Abenteuer
  43. Unser Feind, die Druckwelle
  44. Samisdat in postkulturellen Zeiten
  45. So trat ich meinen Liebesdienst an …
  46. Mein Ausstieg in den Himmel
  47. Schraubenzieher im Feuchtgebiet
  48. Der Fall Filip Müller
  49. Contra und pro Genossen
  50. Wie ich dem Politbüro die Todesstrafe verdarb
  51. Frankfurter Polzei-buchmesse 1968
  52. Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
  53. Als Atheist in Fulda
  54. Parade der Wiedergänger
  55. Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
  56. Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
  57. Fragen an einen Totalitarismusforscher
  58. Meine fünf Lektionen
  59. Playmobilmachung von Harald Schmidt
  60. Freundliche Auskunft an Hauptpastor Goetze
  61. Denkfabrik am Pleißenstrand
  62. Rendezvous beim Kriegsjuristen
  63. Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
  64. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
  65. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
  66. Der Bunker ...
  67. Helmut auf allen Kanälen
  68. Leipzig anno 1956 und Berlin 2008
  69. Mit Konterrevolutionären und Trotzkisten auf dem Dritten Weg
  70. Die Sächsischen Freiheiten
  71. Zwischen Genossen und Werwölfen
  72. Zur Geschichte meiner Gedichte
  73. Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten
  74. Der Dritte Weg als Ausweg
  75. Unendliche Wende
  76. Drei Liebesgrüße für Marcel
  77. Wir lagen vor Monte Cassino
  78. Die zweifache Lust
  79. Hacks Haffner Ulbricht Tillich
  80. Mein Leben als Doppelagent
  81. Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein
  82. Vom Langen Marsch zum 3. Weg
  83. Die Differenz zwischen links und rechts
  84. Wo liegt Bad Gablenz?
  85. Quartier zwischen Helmut Schmidt und Walter Ulbricht
  86. Der 3. Weg eines Auslandssachsen
  87. Kriegsverrat, Friedensverrat und Friedenslethargie
  88. Am Anfang war das Gedicht
  89. Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
  90. Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
  91. Im Hotel Folterhochschule
  92. Brief an Ernst Bloch im Himmel
  93. Kurze Erinnerung ans Bonner Glashaus
  94. Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
  95. 94/95 Doppelserie
  96. FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller
  97. Rainer Werner Fassbinder ...
  98. Zähne zusammen­beißen ...
  99. Das Unvergessene im Blick
    1. Nachwort
Nachworte
  1. Nachwort
    siehe Folge 99
  2. Auf den Spuren des
    Günter Wallraff
  3. Online-Abenteuer mit Buch und Netz
  4. Rückschau und Vorschau aufs linke Leipzig
  5. Die Leipziger Denkschule
  6. Idylle mit Wutanfall
  7. Die digitalisierte Freiheit der Elite
  8. Der Krieg als Badekur?
  9. Wolfgang Neuss über Kurt Tucholsky
  10. Alter Sack antwortet jungem Sack
  11. Vor uns diverse Endkämpfe
  12. Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren
  13. Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
  14. Kampf der Deserteure
  15. Fritz Bauers unerwartete Rückkehr
  16. Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
  17. Als Fassbinder in die Oper gehen wollte
  18. Was zum Teufel sind Blochianer?
  19. Affentanz um die 11. Feuerbach-These
  20. Geschichten vom Geist als Stimmvieh
  21. Von Frankfurt übern Taunus ins Erzgebirge
  22. Trotz – Trotzalledem – Trotzki
  23. Der 3. Weg ist kein Mittelweg
  24. Matroschka –
    Die Mama in der Mama
  25. Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
  26. Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller
  27. Jan Robert Bloch –
    der Sohn, der aus der Kälte kam
  28. Das Buch, der Tod und der Widerspruch
  29. Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad
  30. Bloch und Nietzsche werden gegauckt ...
  31. Hölle angebohrt. Teufel raus?
  32. Zwischen Heym + Gauck
  33. Von Marx über Bloch zu Prof. Dr. Holz
  34. Kafkas Welttheater in Auerbachs Keller
  35. Die Philosophenschlacht von Leipzig
  36. Dekonstruktion oder Das Ende der Ver­spä­tung ist das Ende
  37. Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
  38. Meine Weltbühne im poetenladen
  39. Von Blochs Trotz zu Sartres Ekel
  40. Die Internationale der Postmarxisten
  41. Dies hier war Deutschland
  42. Kopfsprünge von Land zu Land und Stadt zu Stadt
  43. Einiges Land oder wem die Rache gehört
  44. Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen
  45. Macht ist ein Kriegszustand
  46. Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
  47. Damals, als ich als Boccaccio ging …
  48. Ein Traum von Aufklärung und Masturbation
  49. Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
  50. Leipzig am Meer 2013
  51. Scheintote, Untote und Überlebende
  52. Die DDR musste nicht untergehen (1)
  53. Die DDR musste nicht untergehen (2)
  54. Ein Orden fürs Morden
  55. Welche Revolution darfs denn sein?
  56. Deutschland zwischen Apartheid und Nostalgie
  57. Nietzsche dekonstruierte Gott, Bloch den Genossen Stalin
  58. Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter
  59. Von Renegaten, Trotzkisten und anderen Klassikern
  60. Die heimatlose Linke (I)
    Bloch-Oper für zwei u. mehr Stimmen
  61. Die heimatlose Linke (II)
    Ein Zwischenruf
  62. Die heimatlose Linke (III)
    Wer ist Opfer, wer Täter ...
  63. Die heimatlose Linke (IV)
    In der permanenten Revolte
  64. Wir gründen den Club der
    heimatlosen Linken
  65. Pekings große gegen Berlins kleine Mauer
  66. Links im Land der SS-Ober­sturm­bann­führer
  67. Zweifel an Horns Ende – SOKO Leipzig übernimmt?
  68. Leipzig. Kopfbahnhof
  69. Ordentlicher Dialog im Chaos
  70. Büchner und Nietzsche und wir
  71. Mit Brecht in Karthago ...
  72. Endspiel mit Luther & Biermann & Margot
  73. Die Suche nach dem anderen Marx
  74. Wer ermordete Luxemburg und Liebknecht und wer Trotzki?
  75. Vom Krieg unserer (eurer) Väter
  76. Wohin mit den späten Wellen der Nazi-Wahrheit?
  77. Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen
  78. Die Heldensöhne der Urkatastrophe
  79. Die Autobiographie zwischen
    Schein und Sein
  80. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
  81. Atlantis sendet online
  82. Zur Philosophie des Krieges
  83. Deutsche, wollt ihr ewig sterben?
  84. Der Prominentenstadl in der Krise
  85. Der Blick von unten nach oben
  86. Auf der Suche nach einer moralischen Existenz
  87. Vom Krieg gegen die Pazifisten
  88. Keine Lust aufs Rentnerdasein
  89. Von der Beschneidung bis zur
    begeh­baren Prostata
  90. Friede den Landesverrätern
    Augstein und Harich
  91. Klarstellung 1 – Der Konflikt um
    Marx und Bloch
  92. Bloch & die 56er-Opposition zwischen Philo­sophie und Verbrechen
  93. Der Kampf ums Buch
  94. Und trotzdem: Ex oriente lux
  95. Der Soldat: Held – Mörder – Heiliger – Deserteur?
  96. Der liebe Tod – Was können wir wissen?
  97. Lacht euren Herren ins Gesicht ...
  98. Die Blochianer kommen in Tanzschritten
  99. Von den Geheimlehren der Blochianer
Aufsatz