Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
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Reise nach dem verlorenen Ich
Ernst Bloch
private Aufnahme
Dank an G. und I. Zwerenz
und Jan Robert Bloch
Der jüdische Linksdenker, Prophet und Philosoph Ernst Bloch kam Ende der vierziger Jahre aus dem amerikanischen Exil nach Leipzig und übernahm die Leitung des Philosophischen Instituts, wo ich ihn Anfang des Jahres 1952 aufsuchte. Er saß in seinem tabakverräucherten Geschäftszimmer, rätselhaft wie die Sphinx, berühmt wie das Völkerschlachtdenkmal am östlichen Stadtrand und begierig nach Informationen wie ein Spion. Spät erst begriff ich, dass er alles das war, Sphinx, Denkmal, Spion und vieles mehr, weil es zum Kern seines Denkens gehörte, rätselhaft, großartig, neugierig und nie ganz und gar kenntlich zu sein. Ich hätte nicht im Traum daran gedacht, von dem Mittsechziger für das nächste Vierteljahrhundert in Bann geschlagen zu werden. Ein Hochschullehrer ist so was wie ein Lehrer, nur ein wenig höher, dachte ich, man lernt bei ihm etwas und dann adieu, Meister. Keine Ahnung, was draus werden würde. Er saß da, erkundigte sich nach dem Leben im Lande, das er offensichtlich nicht kannte, gab Kindheitseindrücke aus seiner Geburtsstadt Ludwigshafen von sich und reagierte mit sympathischer Neugier auf meine Eröffnung, ein eidetisches Gedächtnis zu besitzen und darunter zu leiden. Kaum hatte ich das heraus, begann es hinter den dicken Brillengläsern zu funkeln, die theatralische Gesichtslandschaft geriet in Zuckungen, von heftigen Handbewegungen begleitet. Eine Dame erschien, offenbar die Sekretärin, die irgendeinen wichtigen Termin anmahnte, der zur Nebensächlichkeit degradiert, verschoben oder annulliert wurde, was die Dame zu einem resignierten Rückzug unter leichten Seufzern bewog.
Ich nahm alle meine unordentlich verstreuten Energien zusammen und erklärte ungefähr: „Als Kind einer durchschnittlich sächsischen Arbeiterfamilie aufgewachsen, war ich ein Mensch, bis ich Soldat wurde. Um wieder Mensch zu werden, ging ich zu den Russen, die mich über vier Jahre lang behielten und danach in eine Volkspolizeikaserne schickten. Um dort nicht zu verkommen und am Ende gar noch General werden zu müssen, ärgerte ich mir eine Tbc in beiden Lungenflügeln an, und als ich das Sanatorium verließ, ernannte die Partei mich ohne Umschweife zum Dozenten für Gesellschaftswissenschaft an der Staatlichen Ingenieurschule Zwickau. Dort geht es mir gut, ich habe eine Karriere hinter mir und eine vor mir, bin bei den Kollegen und Studenten gut angesehen, gelte als zuverlässiger Genosse und leide lediglich darunter, dass ich gar keine Karriere machen wollte.“
Eine Atempause einlegend, wie es der herabgeminderte Zustand meiner Lungen verlangte, ich trug links einen Pneu und ging von Zeit zu Zeit aufpumpen, schnappte ich nach Luft, was den Zuhörer zur Zwischenfrage veranlasste.
„Warum wollen Sie studieren? Mehr als Sie jetzt sind, können Sie danach auch nicht werden.“
Ich wiederholte mein Desinteresse an jeder Karriere und öffnete mein jumpendes Herz einen Spalt weiter. „Als Leseratte las ich bereits im Kindesalter mehr, als daß ich lebte. Bei den Sowjets und danach und im Sanatorium und jetzt noch jede Nacht lese ich alles, was ich kriegen kann.“
„Lesen muß kein Übel sein“, sagte der Philosoph. Das konnte ich nur bestätigen, aber: „Sehen Sie, das ist so, mein eidetisches Gedächtnis ermöglicht mir, ganze Buchseiten abzurufen und herzusagen.“
„Tatsache?“ Er stand auf und holte ein Büchlein aus dem Regal. Ich sah, es war das Kommunistische Manifest. Er schlug aufs Geratewohl Seiten auf, ich gab ihm einige Proben meines idiotischen Könnens.
Er schlug das schöne Buch zu. „Phänomenal!“
„Sie können es auch mit der Bibel versuchen oder mit ...“
„Schon gut.“
„Ich kann mein vergangenes Leben genauso in einzelnen Bildern zurückrufen, aber ...“
„Aber?“
„Es wird ein Panorama in Bruchstücken. Mir fehlt das Verbindende. Sie verstehen, ich vermute, mir ist mein Ich abhanden gekommen.“
„So wie Peter Schlemihl der Schatten?“
„Schlimmer. Ich bin der Schatten.“
„Und Sie glauben, das läßt sich reparieren?“
„Ich bin in meiner Kindheit schon einmal klüger gewesen. Lehren Sie mich die Rückkehr.“
Er schüttelte unwillig das zerknitterte Haupt. „Keine Rückkehr. Nach vorn gehen.“
Ich begriff, vor mir saß der Philosoph des tätigen Optimismus, der Zusammendenker von Judentum und Bolschewismus, der eine Straße baute von Leningrad nach Moskau und Jerusalem und wieder zurück. Ich wollte ihn gern verstehen, nur standen einige meiner Erfahrungen dagegen. Ich sagte: „Um nicht gegen aufständische Polen schießen zu müssen und weil ich nicht gegen die Rote Armee kämpfen wollte, desertierte ich im August 1944 – ich warf das Gewehr weg, mit dem Resultat, daß sie mir Oktober 1948 wieder ein Gewehr in die Hand drückten.“
„Für die Verteidigung des Roten Oktober“, sagte der Philosoph.
Ich versuchte herauszukriegen, war es Sarkasmus oder revolutionäre Religiosität, was ihn so sprechen ließ. Ich wollte kein Gewehr mehr und keine Kompromisse, und er lieferte die Gegenargumente. Mein Nie-wieder-Waffen stand gegen sein Nie-wieder-Kapitalismus. Das mir indessen auch gefiel.
Wir einigten uns auf das Abenteuer, den Fall zu studieren. Ich legte eine Sonderreifeprüfung ab, was mir bei meinen eidetischen Energien nicht schwerfiel, begann im Herbstsemester 1952 das Studium und begab mich mit klopfendem Herzen auf die Reise zum verlorenen Ich.
Von Zeit zu Zeit informierte ich den hochgelehrten Herrn Philosophen über das Leben im Lande und den Zustand der Köpfe.
Nach unserem ersten Gespräch gab es viele Wiederholungen, denn der Philosoph war kein abgeschlossenes kluges Haus mit weit heruntergezogenem Dach, im Gegenteil, er kannte die Bücher und wollte die Menschen kennenlernen. Wir schwadronierten also immer wechselseitig von unseren Erfahrungen, er redete von Ludwigshafen, ich von Crimmitschau, Zwickau, Chemnitz, Dresden, er ließ mich in seine US-Exil-Vergangenheit blicken, ich schilderte ihm das Deutschland des Dritten Reiches und das Rußland der Sowjetunion. In diesen Gesprächen begann ich mich zum ersten Male über meinen sonderbar wechselhaften Lebensweg zu wundern. Ich betrachtete das mit Distanz: von der Weimarer Republik ins Dritte Reich und nach Rußland und in die SBZ, die sich in DDR umtaufte und unsereinen väterlich anzog und bald wieder abstieß. Gewonnen, zerronnen.
Als Dimitroff nach dem Reichstagsbrandprozeß das Reichsgericht freien Fußes verließ und Göring wutschnaubend im Sog der Geschichte verkam, blieb der Bulgare als Denkmal über der Pleiße stehen, so sah ich ihn fast täglich, und den Holländer van der Lubbe, dem sie das Berliner Feuer auflasteten, dachte ich mir hinzu, weil das Jahr 1933 und die Berliner Reichstagsflammen mein Leben bestimmen sollten, was ich damals als Achtjähriger nicht wissen konnte, als Neunzehnjähriger in Russland zu spüren bekam und als Siebenundzwanzigjähriger an Leipzigs Geschichtsdollpunkt täglich mit der staubigen Luft einatmete. Der Satz „Als Dimitroff das Reichsgericht freien Fußes verließ …“ wurde mir zur Erkennungsmelodie, ein Satzfragment, das beendet werden musste mit Lebenstagen, die Alpträume gab's umsonst dazu. Keine 200 Schritt östlich vom Gericht, kurz hinter dem Pleißenfluß am Peterssteinweg lehrte Ernst Bloch revolutionäre Erneuerung, was die Genossen, die sich hier von 1945 bis 1989 an der Macht hielten, nur bis 1956 aushielten und noch ein Jahrfünft den zum Schweigen gebrachten Philosophen, den sie säuerlich hinnahmen wie Göring den davonziehenden Dimitroff. Bloch gab sie 1961 auf, und sie sich selbst. Sie ahnten's nicht.
Zwischen Vorlesung und Seminar, wenn etwas Zeit blieb, umrundeten wir die beiden Gebäudekomplexe – einmal über die Pleiße westwärts und ostwärts zurück. Es lag ein verführender Duft von Frühling in der Luft. Meinen kaputten Lungen tat das gut. Die heutigen Herren suchen uns aus ihrem Geschichtsbuch zu streichen nach der Parole: Da war nichts, ausgenommen Übles. Sie wissen so wenig wie ihre machthabenden Vorgänger, dass hier an diesem Ort ein Denker den Marxismus zu erneuern versucht hatte. Ich sehe ihn heute noch oder wieder am Werk. Ich sehe den todgeweihten Holländer und den freigekommenen Bulgaren, beide zusammen impften mir den lebenslang bitternötigen Antifaschismus ein. Ich wende mich vom Reichsgericht ab und zur Pleiße um, erblicke das Blochquadrat vor mir und das Tor, in das die zum Tode Verurteilten zur Vollstreckung geführt wurden. Doch das ist schon eine andere Geschichte. Keine andere Geschichte ist, dass Göring 1933 im Leipziger Prozess Dimitroff drohte: „Sie werden Angst haben, wenn ich Sie erwische, wenn Sie hier aus dem Gericht heraus sind, Sie Gauner, der längst an den Galgen gehört.“ An den Galgen gehörte Hermann Göring, der, 1946 im Nürnberger Kriegsverbrecherprozess zum Tode verurteilt, sich im Schatten des Galgens vergiftete. Stalin und Dimitroff hatten ihn besiegt. Die Geschichte kann gerecht sein. Und ungerecht. Als Stalin, der Georgier, 1953 verstarb, schlüpfte er in die Gestalt des Sachsen Walter Ulbricht, der Ernst Bloch drei Jahre später von der Universität ausschloss und zur Unperson verurteilen wollte. Es war wie in der Konstellation Göring-Dimitroff ein Vorspiel zum Untergang.
Die Jahre von 1952 bis Anfang 1957, die ich jetzt in Leipzig lebte, anfangs als wissbegieriger, verspäteter Student, dann als junger Schriftsteller, der sich erst unter Druck zu verleugnen suchte, dem Verrat dann widerstand, diese Zeit prägte wie vordem Krieg und Gefangenschaft. So bildeten Reichsgericht und Blochquadrat meine neue Pleißenlandschaft, die an das industrielle Pleißengebiet der Herkunft anschloss. Das Reichsgerichtsgebäude bestätigte mir tagtäglich die Richtigkeit meines Weges von der Wehrmacht zur Roten Armee. Tätiger Antifaschismus blieb die einzig mögliche Wahl. Das Blochquadrat aber verhieß eine potentielle Abkehr von der falschen Alternative Hitler – Stalin, zu der auch Dimitroff zählte. Wer also wagte es, sein Herz über zwei Hürden zu werfen? Reichsgericht und Blochquadrat ergeben das Herzstück Leipzigs, ein verkanntes Mahnmal der Doppelbedeutung. Das Todesurteil für van der Lubbe war ein Sieg Hitlers wie Dimitroffs Freiheit Deutschlands Niederlage vorwegnahm. Der Einzug des Philosophen Bloch bezeugte die Stärke der neuen Macht, seine Entfernung signalisierte ihr Ende.
Suchte Hitlers Deutschland Stalins Russland zu vernichten, brach Stalin als Antwort Hitler das Genick. Vor dem Dritten Reich warnte Ernst Bloch im Mai 1932, denn „die Jugend bürgerlicher und verführter Kreise … ist ein guter Boden für Nazis.“ Über den Philosophen weiß FAZ-Mitherausgeber Frank Schirrmacher am 10. 10. 2007 im Buchmessen-Leitartikel seines Blattes zu vermelden: Bloch sei ein „Mystiker, der leider später ins rote Prophetentum abglitt.“ Ja hätte er vielleicht wie einer der Schirrmacher Feuilleton-Vorgänger Friedrich Sieburg ins braune Proselytentum abgleiten sollen? Im übrigen beurteilte Walter Ulbricht diesen Ernst Bloch ebenso dumm und konterrevolutionär – welch ein schmuckes Argument für die Totalitarismustheorie. Bleibt Carl von Ossietzkys Menetekel im Mai 1933: „Die Folgen Hitlers werden aufstehen, und spätere Generationen noch werden zu jenem Gürtelkampf antreten müssen, zu dem die deutsche Republik zu feige war.“ Und weiter: „Was er an bösen und hässlichen Instinkten hervorgerufen hat, wird so leicht nicht verwehen …“
Von all diesen Vorgängen um die Dimitroff-Bloch-Meile wurde vor 1990 kaum die Hälfte wahrgenommen und danach noch weniger. Im Reichsgericht walten wieder Juristen, im Blochquadrat Polizeibedienstete ihres Amtes. Der Geist antifaschistischen Widerstandes und philosophischer Revolte wurde ausgetrieben. So führt das Desinteresse an den Höhen und Tiefen eigener Vergangenheit in den Sumpf verschämter Geschichtslosigkeit, was einen Auslandssachsen wie mich bekümmert. Schließlich sprach ich all diese Worte schon mal an Ort und Stelle auf dem Dimitroffplatz in Kameras und Mikrophone. Doch über die vom MDR produzierte und dort ausgestrahlte Dokumentation hinaus hat das öffentlich-
rechtliche Fernsehen dafür keinen Sendeplatz, sondern vor dem Ungewohnten Schiss.
Am Montag, den 29. Oktober, erscheint das nächste Kapitel.