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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | 52. Nachwort
Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
52. Nachwort |
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Die DDR musste nicht untergehen (1)
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Tucholskys
letzter Pass
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Sie ging unter, weil sie vor Kafkas Tür hocken blieb. Kafka nannte die Kurzgeschichte Vor dem Gesetz. Wir erinnern uns: Ein Mann vom Lande will durch eine Tür gehen und wird vom Türsteher gewarnt. Beeindruckt bleibt er davor sitzen, bis er seinen Geist aufgibt, falls er welchen hatte. Courage hatte er nicht. Doch zuviel Respekt vorm Türsteher. Wer aber ist das? Um diese Frage zu erörtern, engagierten wir Kafka als Türsteher vor Auerbachs Keller. Unser Publikum kennt sich aus. Wer genauer wissen möchte, was es mit Kafkas Tür-Parabel auf sich hat, findet Auskunft in unserem Buch Sklavensprache und Revolte, Kapitel „Die Goldenen Leipziger Jahre“.
Muss Europa unter- oder in Deutschland aufgehen? Die jüngsten Talk-Runden legen das Dilemma nahe. Eine Übernahme Europas durch Deutschland bedeutete den Anschluss europäischer Länder an Deutschland wie die DDR sich 1990 wohl oder übel der BRD anschloss, weil sie ökonomisch nicht als autarker Staat weiterexistieren konnte. Als Unterschied bleibt, die Ostdeutschen mussten keine nationalen Widerstände überwinden. Anders bei den traditionellen Ländern Europas, denen der Anschluss als nachgeholte Eroberung erscheinen dürfte. Wenn das aber so ist und weil die ursprünglich beabsichtigte Europäisierung misslungen ist, wenn überdies in Kürze eintrifft, dass Spanien, Italien, endlich auch Frankreich unter einen aufgespannten Finanz-Schutzschirm flüchten müssen, den schließlich niemand mehr aufzuspannen in der Lage sein wird, so kann nur noch die Renationalisierung Europas helfen, möglichst mit dem Aspekt eines klügeren und kleineren Versuchs von Europa-Konstruktion.
Fragt sich, ob die musealen, wo nicht verrotteten Eliten des maroden Kontinents dazu noch in der Lage sein würden, von den schwerttragenden Christ-Schauspielern zwischen Rhein und Oder einmal abgesehen.
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Tito einte das Land mit Druck und Energie für lange Jahre
Das fatal misslingende Euro-Experiment hat einen Vorgänger. In der von Tito mit eiserner Faust zusammengehaltenen Volksrepublik Jugoslawien staute sich in den reicheren nördlichen Provinzen Kroatien und Slowenien Unmut wegen der ständigen Transferleistungen für die ärmeren Südregionen. Ein Zerfall, der zum Kriegsfall eskalierte, befreite den Norden von der Süd-Verpflichtung. Wirtschaft, Horatio!
Die Rollen auf dem Balkan sind inzwischen anders verteilt. Griechenland am Euro-Tropf. In Bulgarien und Rumänien korruptionale Blütezeit. Serbien und Kroatien mit dem Zählen ihrer Toten beschäftigt. Slowenien zwischengelagert. Ungarn im Rechtsschwenk. Kosovo grenzerweiternd albaniensüchtig wie einst die DDR chancenlos BRD-süchtig. Volle Fahrt in die Freiheit. Und wer bezahlts? Wenn das Berliner Deutschland sein Berliner Schloss wiedererrichten will, ist das Kaiserreich nicht weit. Warum nur an fremden Monarchien schmarotzen. Wäre k.u.k.-Österreich die Rettung für den Balkan? Falls das, wie einst, Russland missfällt, ließe sich der 1. Weltkrieg in Neuauflage wiederholen. Im Vergleich zum 2. Weltkrieg wäre der Rückschritt ein Fortschritt. Und die USA könnten es nochmal mit Wilsons 14-Punkte-Friedensplan versuchen, ohne von Europa dabei gestört zu werden.
Die Postmoderne führt per Konsequenz ins universelle Kolosseum, wo wohldotierte Gladiatoren ihre diversen Kämpfe auf Tod und Leben aufführen. Seitab in der Etappe sitzen schwatzhafte Politiker, Generäle und Talkshowspieler, die rituell untereinander die Plätze tauschen, denn sie zählen zur selben maulflinken Klasse der Megazwerge, wie wir Nietzsches misslungene Züchtung von Übermenschen klassifizieren. Inzwischen erklimmen unsere hauptstädtischen Talker die höhere Dimension von Endzeit- Parodien, wie sie der Kinogänger aus dem Berliner Führerhauptquartier kennt, falls es sich tatsächlich so abspielte, wie die zarten Söhne der Heldenväter meinen. Es war aber wohl alles unvorstellbar dümmlicher.
Dem Ende der DDR folgte das Ende der SU. Moskaus Finale steht Pekings Anfang und Aufstieg entgegen. Washington ist bei den roten Kapital-Chinesen bis über die Halskrause verschuldet, versucht es mit der alten Leier und reagiert ratlos bis zum Chaos. Es riecht nach 1914. Alle Welt spielt Sarajevo. Die Attentate sind vervielfacht. Nur Deutschland bleibt vorläufig verschont. Ihm genügt der Alarmzustand, während Merkel die Kasse zählt. Wie weit wird der aufgespannte Schirm noch reichen? Unser Vorschlag: Hoch und höher verschulden, Euro drucken und drucken, mit China verbünden, bis Peking statt des Dollars unseren Euro hortet und hortet. Zur klugen Globalpolitik gehört freilich eine weltläufige Elite. Von China lernen heißt siegen lernen? Die DDR ging voran. Hätte sie sich von Moskau ab- und Peking zuwenden sollen? Da sie es versäumte, sollte Merkel klüger re(a)gieren. Als ostdeutscher Christin dürfte für sie der Weg zum Genossen Konfuzius nicht so weit sein wie für die westdeutschen Alt-Antikommunisten.
Ja, Sie haben ganz recht, das sind meine Tagesnotizen fürs Theater in Auerbachs Keller. Brecht wartet schon, er ist als toter Regisseur zwar informiert, aber unwillig wegen der ewigen Wiederholungen mit Krieg, Zwischenzeit, Krieg, ich liefere ihm die fürs Bühnenstück nötigen Details, er und Goethe machen draus Gedichte, Klassik plus Revolutionsromantik, gleich geraten sich Prof. H. H. Holzstoß und Peter Hacksbeil in die Haare, was ist Klassik, was Romantik, Kleist tritt dazwischen, erschießt sich mit dem Terzerol und wird von den letzten 7 Genossen in der jungen Welt würdig endbestattet. Jetzt tritt Genscher auf. Von der alten Frontberichtserstattung blieb fürs Fernsehen ein schmuckes Foto des jungen Wehrmachtsoldaten, Genscher, der sagenhaften Armee Wenk zugehörig, von der Hitler sich Befreiung aus dem eingeschlossenen Berlin erhoffte, was misslang, weil Genscher, zur FDP retirierend, Außenminister wurde, statt ins Kriegergrab zu sinken, ein helles Glückskind aus Halle an der Saale. Statt den Führer aus dem Bunker befreite er später DDR-Flüchtlinge aus der Prager Botschaft für die Ausreise in den Westen. Nachdem die Leipziger Universität infolge Entrevolutionierung nicht mehr den Namen Karl Marx tragen darf, steht zur Debatte, soll sie nach Hans-Dietrich Genscher oder Erich Loest benannt werden. Das Volk hat die freie Wahl, die Revolution zu Ende zu bringen, falls es der Verfassungsschutz erlaubt.
Im Nachwort 51 beschrieben wir mit dem Scheitern Blochs in Leipzig und dem Verschwinden Fritz Bauers in Frankfurt/Main zwei exemplarische Vorgänge, die das Abrücken der beiden deutschen Nachkriegsstaaten von ursprünglichen Projektionen signalisieren.
Am kommenden 21. Dezember 2010 wird sich Kurt Tucholskys Tod zum 75. Mal jähren. In den Feuilletons wird seiner mehr oder weniger treffend gedacht werden, meistens weniger. Ich blättere in meinem Buch Soldaten sind Mörder von 1988 nach und finde auf Seite 260 einen zeitgemäßen Anknüpfungspunkt:
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Ernst Note: Kann oder will der Professor nicht exakt lesen?
Im Buch folgte dann die Tucho-Satire samt Erklärung für besonders hirnverklemmte Rechts-Intelligenzler. Für das lange Zitat entschuldige ich mich nicht, obwohl sie's auch mit Erläuterung nicht kapieren. Am 7.3.2008 war in der FAZ ein Satz vom „alten Friede-den-Hütten-Käse Georg Büchners“.zu lesen. Dem Verfasser stinkt der hessische Schorsch tatsächlich wie Handkäs mit Musik. Den Mief und Muff in vielen miesen Frankfurter Politiker- und Journalisten-Köpfen erfasste keiner so scharf wie Rainer Werner Fassbinder mit dem Titel Der Müll, die Stadt und der Tod. Die Formulierung ist aktualisierbar zu Der Müll, das Land und der Tod. Kurzfassung: Müll Europa Tod. Europa als vorläufige Endstation von BRD plus DDR gleich Berliner Republik plus Euro gleich Null(en). In Blochs Metapher heißt das Schach statt Mühle – Mühlespielen ist Sklavensprache und verschwurbelte Artikulation, Schach als Dekonstruktion ist die Suche nach essentieller und existentieller Evidenz. Alles andere bleibt Stümperei, sagt Mephisto. Gleich eilt Genscher herbei, klopft Robin Szolkowy auf die Schulter und streicht Aljona Savchenko übers Blondhaar. Endlich entschuldigt er sich beim Chemnitzer Eiskunstlauf-Meistertrainer Ingo Steuer für die unfaire, ungerechte Behandlung. So jung wie Sie als IM war ich als Soldat in Hitlers Armee Wenk, erklärt Genscher unerwartet zivilcouragiert. Das imponiert mir, weils Einsicht beweist.
Zurück zu Tucholsky & Ossietzky. Am 21.12.2005 ist Tucholsky in der FAZ ein „besonders übles Exemplar“. Am 25.10.2009 meldet das Blatt:
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Immerhin nahm die Zeitung von der Tucholsky-Preis-Verleihung an ihren leitenden Redakteur Notiz. Als die Auszeichnung 2007 an Lothar Kusche und Otto Köhler ging, wollte man lieber nichts davon wissen. Drei unliebe Oppositionelle auf einem Haufen überschritten für eines der führenden deutschen Blätter die Grenzen des Erträglichen.
Der Historiker Kurt Pätzold, dessen Artikel ich gern lese, irrte sich, als er am 13. Dezember 2010 in der jungen Welt schrieb, Tucholsky habe sich im schwedischen Exil Hindas „ein Anwesen gekauft“. Es war nur gemietet, was insofern nicht ganz unwichtig ist, als es mit den Ursachen von Tucholskys Freitod zu tun hat. Darüber schrieb ich am 24. Mai 1980 in der Frankfurter Rundschau: „Was keiner der Biografen mitteilt, weil es keiner weiß, weil keiner nachforschte: Tucholsky hinterließ außer Schulden eine Barschaft von ganzen 300 Schwedenkronen. Er wusste nicht, wie er hätte seine Schulden zurückzahlen können, mit den 300 Kronen wäre er noch über Weihnachten hinweggekommen, aber er hätte schon die Januarmiete nicht mehr bezahlen können. Dieser Satiriker überlebte bis zu dem Tag, an dem er nicht mehr wusste, wie er weiterleben könnte. So einfach ist das und so hart und traurig, ein tödlicher Witz deutscher Literaturgeschichte.“
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Tucholsky-Artikel in der FR (1980)
Musste der Mann so sterben? Welch ein Ende. Welch Untergang mit stilvoll leerer Kasse. Typisch deutsch? Wir zählen ein Halbdutzend Untergänge: Kaiserreich 1918, Weimarer Republik 1933, Drittes Reich 1945, DDR 1989/90, BRD auch 1990, Berliner Republik …? Statt Käse wird der Euro zum (Stuttgarter) Bahnhof gerollt? Jedem Untergang ging die operative Entfernung des linken Flügels voraus. Tucholsky als Zeuge wofür? Vor jedem Untergang werden die guten kritischen Geister ausgetrieben, zum Schweigen gezwungen, umgebracht. Aber die DDR – musste sie untergehen und warum? Es gibt tausend schlechte Gründe. Der Weltuntergang, vom Volksmund seit langem auf den 30. Mai terminiert, sieht keine Ausnahmen vor. Tucholsky am 24. August 1935: „Der Kommunismus in Europa ist tot, und man darf sich bei Stalin bedanken.“ Vier Monate später war auch Tucholsky tot. Und Stalin verband sich 1939 mit Hitler, bevor er dessen Tod von 1945 besorgte. Die DDR? Sie war unser Versuch, daraus zu lernen. Sie musste nicht untergehen. Denke und fühle ich dem Ereignis nach, kommt mir eine Szene in den Sinn:
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Gerhard Zwerenz
Gute Witwen weinen nicht
Kranichsteiner Literaturv. 2002
Die Beerdigungsszene ist im Band Gute Witwen weinen nicht – Exil. Lieben. Tod. Die letzten Jahre Kurt Tucholskys zu finden, erschienen 2000 im Kranichsteiner Literaturverlag. Bei den zahlreichen Lesungen daraus weinten weder die Verlegerin Kathrin Hampf noch der Verfasser. Wir trafen ein aufmerksam lauschendes Publikum, das betroffen unbekannte Details über das Sterben des Satirikers erfuhr und sich dennoch gern an den Kurt Tucholsky erinnerte, der uns immer wieder lachen ließ und lässt. 1933 aber schrieb er in einem Brief an den Freund Walter Hasenclever: „Ich brauche Ihnen nicht zu sagen, dass das, was wir einmal die deutsche Linke genannt haben, nicht mehr wiederkommt. Und mit Recht nicht.“
Dieses Fazit will widerlegt werden.
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