Fragen an einen Totalitarismusforscher
Leider erfahre ich die frohe Botschaft zu spät, sonst hätte ich unbedingt an Ort und Stelle hören wollen, wie revolutionär Herr Eppelmann gewesen ist und welchen dritten Weg zwischen Marxismus und Marktwirtschaft Frau Lengsfeld ging. Ich kenne leider nur unsere Vorstellungen vom dritten Weg aus dem Jahr 1956, als unsere revolutionären Genossen von Harich bis Janka in Bautzen verschwanden und danach weder staatlich gaucken noch ministrabel wie Eppelmann werden durften, die als »führende DDR-Oppositionelle« (Originalton FAZ) die DDR in die Entindustrialisierung sowie Massenarbeitslosigkeit führten, Kriege bis zum Hindukusch inbegriffen. Wir wissen aus den Geschichtsbüchern: Schon Napoleon setzte die Revolution mit Kriegszügen bis zum bitteren Ende fort. In Chemnitz übrigens lehrt nicht nur Eckhard Jesse, der »zehn Jahre danach« seine intellektuelle Revolutionsgarde von 1989 zur Siegesfeier um seinen Lehrstuhl versammelte, in der Stadt befindet sich auch der berühmt-berüchtigte Marx-Kopf, sächsisch Nischel genannt, von dem in wachhabenden Staatsschutzkreisen geraunt wird, der Alte rüste sich, demnächst für seinen Weg zwischen Marxismus und Marktwirtschaft zu demonstrieren. Aber Spaß beiseite. Was den »Dritten Weg« betrifft, verdanken wir diesen Begriff wie auch den vom »Sozialismus mit menschlichem Antlitz« polnischen Genossinnen und Genossen. Als Ernst Bloch 1957 die Worte benutzte, verdächtigte Erich Mielke ihn des Trotzkismus. Bloch konnte das erst später bei einer Rede im Trierer Geburtshaus von Karl Marx klarstellen. Mag sein, Jesses »führende DDR-Oppositionelle« von 1989 wissen nichts darüber. Vielleicht sollte man 2009 eine treffendere Vortragsreihe in Chemnitz ansetzen, schließlich gibt es eine ganze Anzahl erinnerungswerter mit der Stadt verbundener Oppositioneller, alles Juden übrigens, Herr Professor! Genannt seien Walter Janka, in Chemnitz geboren, 1933 inhaftiert in Bautzen und im KZ Sachsenburg, 1957 in Ostberlin mit fünf Jahren Zuchthaus bestraft. Leo Bauer, in Chemnitz aufgewachsen, 1933 verhaftet, 1952 in Ostberlin durch das sowjetische Militärtribunal zum Tode verurteilt, später zu 25 Jahren Arbeitslager begnadigt. Nicht zu vergessen die Chemnitzer Stefan Heym und Stephan Hermlin, deren antifaschistischer Widerstand erst die Voraussetzungen schuf, dass 1989 bürgerliche Oppositionelle zu Wort kommen konnten, wenn es auch befremden muss, wie pünktlich zum Beispiel Vera Lengsfeld oder Rainer Eppelmann ihren Pazifismus mit dem Ende der DDR ins Kriegerische verwandelten.
Soeben erschien im Kai Homilius Verlag der Band »Zwischen Aufbruch und Abbruch – Die DDR im Jahre 1956«. Falls die revolutionäre Garde um Professor Jesse etwas über ihre fernen Vorgänger erfahren möchte – aus diesem Buch könnten sie lernen, was es mit dem dritten Weg auf sich hat, einschließlich des Holzweges der Kolonisierung von 1989. Da das Chemnitzer Umland mit Mulde und Pleiße meine Geburtsheimat ist, die ich wegen meines Engagements für den dritten Weg 1957 verlassen musste, stehe ich dem dortigen aus dem Westen zugereisten Politwissenschaftler und seinen tapferen DDR-Oppositionellen gern für historische Auskünfte zur Verfügung, zumal in Sachsen wie dem gesamten Osten in Widerstandsfragen vorwiegend verordnete Lücken klaffen; das betrifft schon die Kriegsfrage von 1914 an. Auch habe ich als früher Oppositioneller von 1956/57 Fragen an die DDR-Oppositionellen von 1989, zum Beispiel was sie heute von ihrer Revolution halten in einem Land, das von der Jugend verlassen, von Industrie und Arbeitsplätzen befreit, von Hausärzten entblößt wird. Was erleben wir denn: Fabriken schließen, Ortschaften versteppen, ganze Siedlungen geraten unter die Abrissbirne, eine Bevölkerung, die 1989 noch hoffnungsfroh auf den Westen blickte, verfällt der Lethargie oder den braunen Lemuren, weil der allgemeine Rückbau durch Parteien und Staat längst einkalkuliert ist. Sollten wir DDR-Oppositionellen von vorgestern und gestern nicht einmal beim Marx-Nischel in Chemnitz darüber beraten, wo der Hase im Pfeffer liegt? Chemnitz, das goldene Tor zum Erzgebirge, war Mittelpunkt einer hochentwickelten Industrie- und Kulturlandschaft – sind da nicht wirkliche Revolutionäre gefragt, die voraussetzungslos bereit sind, es erneut dazu werden zu lassen? Auch ich setzte 1989 auf den dritten Weg zwischen Marx und Marktwirtschaft. Damit war alles andere als die Liquidierung sozialer Absicherungen gemeint. Doch jetzt erleben wir die Verödung eines Landstrichs zum Altersheim der Republik.
Also wende ich mich direkt an den Professor und Politikwissenschaftler für Totalitarismusforschung, den Stipendiaten der Friedrich-Ebert-Stiftung, Mitarbeiter der rechtsextremen Zeitschrift Mut, Extremismusexperten der Bundeszentrale für Politische Bildung, des Innenministeriums und des Bundesamtes für Verfassungsschutz mit der Frage, ob es nicht höchste Zeit wäre für eine Chemnitzer Vortragsreihe zur prekären Lage im Lande Sachsen und zu den Hemmnissen der Vereinigung. Als Wehrmachtsdeserteur vom August 1944, DDR-Oppositioneller von 1956/57, als kritischer Schriftsteller in der DDR, der Bonner und Berliner Republik hätte ich einiges vorzubringen, woran es bei Frau Lengsfeld und Herrn Eppelmann mangelt: eine durchgängige Antikriegshaltung, die dem totalen Krieg die Waffenlosigkeit des totalen Friedens entgegenzusetzen wagt, statt nach jeder Niederlage erneut aufzurüsten und Bomben zu werfen. Die Konsequenz des dritten Weges ist die Sabotage jeder Kriegsgesellschaft. Wäre das nicht auch eine bedenkenswerte Aufgabe für einen Politikspezialisten? Der dritte Weg übrigens mag in Europa versäumt und verleumdet worden sein, in Lateinamerika und China wird er offenbar erfolgreich erprobt. Blühende Landschaften entstehen dort, wo Menschen die Abenteuer des Neuen suchen und nicht die alten kalten und heißen Kriege fortsetzen. Es wäre klüger, vom Marx-Denkmal aus in diese aufstrebenden Länder zu blicken, statt im Zustand der von den Ruinenbaumeistern verhängten Destruktion zu verharren. »In Mumien verliebt die einen, die andern in Gespenster«, so der Sachse Nietzsche, der das »eine rechte Schweineart« nannte.
Dieser Artikel mit meinen Fragen an den Chemnitzer Professor Jesse erschien erstmals am 27. Januar 2007 in der Zeitschrift Ossietzky und blieb bisher unbeantwortet. Als indirekte Auskunft darf jetzt eine Botschaft der hessischen Landtagsabgeordneten Dr. Carmen Everts gelten, die zu den vier SPDlern zählt, die Ypsilanti plötzlich nicht mehr wählen wollten. Nun lese ich, SPD-Genossin Everts soll nach einem Mannheimer Studium in Chemnitz bei Prof. Jesse über das Thema politischer Extremismus gearbeitet haben. Der naive Vergleich von Republikanern und PDS erbrachte den Doktortitel der Philosophischen Fakultät in Chemnitz. Die Folgen traten in Hessen jüngst zutage. Da ich meine schönen heimatlichen Städte Chemnitz und Leipzig unverdrossen liebe, liegt mir allerdings ein Vergleich der Philosophischen Fakultäten von Chemnitz und Leipzig nahe und ich begreife endlich, weshalb Ernst Bloch 1957 in Leipzig ausgesperrt wurde und sein Werk auch nach 1989 ausgesperrt blieb. Sachsen erträgt keinen Ernst Bloch mehr. Chemnitz muss schon einen steinernen Marx-Kopf ertragen. Als Kontrast fungiert der den Totalitarismus erforschende Prof. Jesse samt Jüngern und Jüngerinnen. Es geht nicht um eine Viererbande. Es geht um eine Sozialdemokratie, die sich entscheiden muss, ob sie Bebels oder Adenauers Werk vollenden will.
Als Nazideutschland in Polen einmarschiert war, wurden zwischen zehn- und zwanzigtausend Professoren und Wissenschaftler pünktlich erschossen. Sowjetrussen, die ihren Teil Polens 1939 besetzten, leisteten sich die Massenmorde von Katyn und füllten ihre Arbeitslager mit der eroberten geistigen Elite. Als die Bonner Republik sich die DDR einverleibte, wurde die Mehrzahl der DDR-Intellektuellen humanerweise nur evaluiert. Wären Ernst Bloch, Hans Mayer, Werner Krauss, Walter Markov, Fritz Behrens 1990 noch auf ihren Lehrstühlen anzutreffen gewesen, hätten die Sieger sie genauso entfernt, denn fortan galt bewährter Antifaschismus im Verein mit wissenschaftlichen Leistungen als verfassungsfeindlich. Wer im Dritten Reich verfolgt, in der DDR behindert und belästigt worden ist, der sollte seiner Gesinnung wegen in der Berliner Republik nicht ungeschoren davonkommen.
Adolf Hitler: »Ich werde den Pazifismus, den Marxismus und das krebsartige Geschwür der Demokratie ausrotten.« Nachdem die sozialistischen Professoren endlich weg waren vom Fenster, standen die neu installierten Herren vor einer schwierigen Frage. Hans Mayer war im Westen, Markov im Ruhestand, Krauss verstorben, Bloch aber vom Genossen Ulbricht schon anno 1957 zur Unperson erklärt, 1977 in Tübingen begraben, dennoch nicht ganz vergessen worden. Cornelius Weiss, der neue sozialdemokratische Leipziger Uni-Rektor sagte sich, hatte man Bloch drei Jahrzehnte lang beschwiegen, kann das ruhig noch Jahrzehnte lang so bleiben. Allerdings muckten einige Unruhestifter auf und man beschloss, den Mantel des Schweigens ein wenig zu lüften. Weil es dazu an Worten mangelte, wurde eine glanzkaschierte Foto-Ausstellung über den Philosophen präsentiert, denn Bilder benötigen weder Sprache noch Gedanken. Den Rest liefert ein Totalitarismusforscher in Chemnitz. Die Kulturszene aber scheint erstarrt.
Nach dem Ende der DDR entstand dort im Land eine erstaunlich breitgefächerte Untergrund-Literatur, die nicht unter der Ladentheke, jedoch unterhalb des Werbe-Etats angeboten wird. Biographien, Sachbücher, Abrechnungen erscheinen in Mini- und Selbstverlagen. Da ich oft Bücher dieses Untergrunds zugeschickt bekam, las ich wochenlang nichts als das. Obenauf lag Leben in Walldorf vom Verlag Die Furt in einem mir unbekannten Jakobsdorf. Der nicht unbekannte Erzähler Hans Joachim Nauschütz: »Walldorf ist kein realer Ort...« Es folgen 91 Seiten einer Prosa, die so bemerkenswert ist wie die wirkliche »märkische Schweiz« im »Sommer 1989«, wo die klug erzählte Geschichte spielt.
Ich las: Wir brauchen einen langen Atem – Die deutschen Vertriebenen 1990 - 1999. Eine Innenansicht, Verlag Neue Literatur, Autor Bernhard Fisch. Das Sachbuch zählt zur Vertriebenenliteratur einer anderen Sichtweise, weder konservativ noch deutschtümelnd, vielmehr der »Versuch einer Eigenständigkeit« – ostdeutsch im besten Sinne. Die westdeutsche Vertriebenenliteratur wird detailliert und scharfsinnig in ihre engen Schranken verwiesen.
Ein Glücksfall auch Martialische Idole von Peter Franz über Die
Kriegerdenkmäler in Thüringen und ihre Botschaften. Nach Lektüre und Betrachten der Fotos von Gefallenen-Denkmälern und bombastischen Trauerparaden frage ich mich, ob ein Land mit einer derart falschen Glorifizierungsgeschichte überhaupt friedensfähig sein kann. Ein Kapitel ist überschrieben: »Kriegerdenkmäler, die besser nicht errichtet worden wären«, dem folgt die Aufzählung einer Reihe des Kitsches, der Einfalt, des Mittelmaßes, der Massenware und der Peinlichkeit. Zu finden sind Dokumente wie »Reichstrauertag der N.S.D.A.P. am Sonntag, dem 9. November 1930 … 8 Uhr vorm Gedächtnisgottesdienst Martinskirche, Predigt Pf. Heßler … anschließend Kranzniederlegung am Kriegerdenkmal. Das nationale Apolda ist hierzu herzlich eingeladen...« Und so arbeitete das nationale Deutschland an der Produktion neuer »Gefallener« samt Kriegerdenkmälern … Dieses exemplarische Buch erschien offenbar im Privatverlag. Angegeben ist ein »Thüringer Forum für Bildung und Wissenschaft e.V.« (Käthe-Kollwitz-Straße 6 in Jena).
Auf meinem Stapel von Publikationen des Untergrunds (Ost) finde ich zwei Kriegsbücher mit Titeln der Landsersprache. Der Hölle entkommen ist Band 2 der Lebenserinnerungen des H.K., die Initialen stehen für den Autor Hans Koschan. Auf der Rückseite des Buches ist eine Empfehlung von mir gedruckt, ich erinnere mich an das Manuskript. Mein Eindruck damals: Verflucht und zugenäht, das ist nicht mein Stil, vielleicht kein Stil, aber so voll vom Krieg, wie er tatsächlich war. Erschienen im Schkeuditzer Buchverlag. Ähnlich die Kriegserinnerungen mit dem einprägsamen Titel: Germanski Kamerad karascho! Den Marburger Blaue Hörner Verlag gibt es tatsächlich, nur dachte ich immer, der Teufel trage Hörner schwarz wie die Nacht. Der Text schockiert wie eine beinabreißende Granate, um in der Sprache des Peter Raubach zu bleiben, seine Geschichten enthalten nicht erfindbare Details.
Von soviel Krieg mich erholend, lese ich Christentum, Marxismus und das Werk von Emil Fuchs;, herausgegeben von der Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, denn der Theologe Emil Fuchs, im Westen kurioserweise höchstens als »Vater des Atomspions Klaus Fuchs« bekannt, lehrte an der Leipziger Universität, als sie noch den Namen Karl Marx trug. Im Rückblick ist das heute ein schwarzes Gedächtnisloch.
Ein verrückter Text heißt kurzum CREDO, erschien im Jahr 2000 bei Spottless und beschreibt die DDR-Literaturlandschaft aus kritisch sympathisierender Sicht. Das setzt gleich mit einem Paukenschlag ein: »Das Leseland DDR war keine Legende.« Folgt eine beherzte Sottise auf die andere. Den Autor Erich Köhler kippten die Kollegen Sieger aus dem vereinigten deutschen PEN, so will's der Totalitarismus. Inzwischen verstarb Köhler.
Ich greife zu Rolf Neuberts Lehrling in der Nazizeit, bei Frieling erschienen, typische DDR-Karriere – vom Kriegsgesellen zum Diplomwirtschaftler bei Carl Zeiss Jena, 1992 in Pension: War das alles? Totaler Krieg – Engagement mit Kopf und Herz für Sozialismus, neue totale Niederlage. War das wirklich alles? Das kann's doch wohl nicht gewesen sein, Genossen. Unsere Vergangenheiten sind kein Schrott. Was aber den Totalitarismus betrifft – also links gleich rechts – welche Nazis leisteten denn Hitler und seinen Spießgesellen einen Widerstand, der dem Märtyrertum linker Genossen vergleichbar wäre? Vergleichen wir Auschwitz und Bautzen, stoßen wir auf Ungleichheiten und Ungleichzeitigkeiten. Jeder Deutsche, der aus Stalin einen Hitler macht, erweist damit, in welchem Maß er der Vergangenheit verhaftet ist. Wer ruft: Ihr seid so schrecklich wie wir (waren) – wird zur Nachhut eigener Vergangenheit, die er zu entschrecklichen versucht.
Russische Hybris
Es gibt nichts Frecheres als die Russen. Nachdem wir sie 1945 erst geschlagen haben, stehen sie heute schon wieder an der Grenze zu Georgien. Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 24. November 2008.
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Gerhard Zwerenz
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