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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Folge 67

Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

67

Helmut auf allen Kanälen

Oberleutnant Helmut Schmidt, Oberleutnant Strauß, Hauptmann Dregger, Major Mende und die Karriereleiter hoch zu Hitlers und Adenauers Generälen samt Staatssekretären der Sorte Globke – ich find' sie im Rückblick alle zum Davonlaufen und bin diesen Herren als Neunzehn­jähriger im Krieg mangels Alternative davon­gelaufen. Soll unsereiner vor den National­kotz­brocken immer nur die Flucht ergreifen? Dann gab's das andere Deutsch­land. Großer Anfang, schräges Ende. Wenn sich die Genossen Generäle nach ihrer Niederlage gegen die sieg­reichen West­offiziere heute verbal zur Wehr setzen, versteh' ich das, nur geht es mir zu sehr um die beidseitige armselige Offiziers-Ehre und zu wenig um die Niederlage, deren Gründe kaum artikuliert werden. Wäre ich Ost-General, wollte ich vom West-General nicht anerkannt sein. Ich hätte mich, nebenbei bemerkt, erschossen. Wer aber lebt, also überlebt, sollte entweder schweigen oder die Dekonstruktion der eigenen Seite und Vergangen­heit wagen. Jede Niederlage beruht erst einmal auf eigenen Fehlern. Für uns von der deutschen Linken heißt das, die Entfernung von Marx war zur Unendlichen geworden. Nicht Selbstaufgabe ist das Motto, sondern Bewahr­heitung und Widerstand gegen den kollektiven Trend zur Endzeit mit Schluss­punkt.
Der neunzigjährige Helmut Schmidt wetterleuchtete Ende 2008 auf allen Kanälen und machte als grimmiger Glosseur gar keine so schlechte Figur. Verglichen mit dem Nachfolgepersonal scheint die vorher regierende Wehrmachts­offiziers­kaste überhaupt der bessere Teil zu sein. Desto schlimmer sind die Tatsachen. Die forschen Militärs waren nach 1945 und ihrer gehorsamsten Teilnahme an Hitlers Krieg potentiell bereit, den Kampf gegen die Russen fortzusetzen. Im Falle Schmidt und Strauß inklusive Nuklearkriegs-Risiko. Mindestens dreimal stand Deutschland, obwohl geteilt, nur Minuten vor der atomaren Vernichtung. Das wussten wir damals schon. Heute sind die Fakten so klar wie unabweislich. Es klingt zwar verständig und weise, mokiert Helmut Schmidt sich heute über die Bundeswehr in Afghanistan, doch der Hindukusch ist nur eine weitere Stufe auf der Eskalationstreppe. Es begann mit Adenauers Atomwaffen-Naivität und setzte sich mit Schmidts Doppelbeschluss-Rüstung fort. Willy Brandt war nur eine Zwischenepisode. Sehen wir mal genauer nach, was dessen Nachfolger so von sich gab.
In der ARD-Sendereihe »Soldaten für Hitler« erklärte vor einiger Zeit der als »Leutnant« vorgestellte Helmut: Ich habe z.B. von der Vernichtung der Juden erst nach dem Kriege erfahren. Obwohl mich das natürlich wahnsinnig interessierte, was etwa mit den Juden geschah. Denn meine elterliche Familie und ich selber, wir fielen auch unter diese sogenannten Nürnberger Gesetze, aber von der Vernichtung von Juden haben wir keine Kenntnis gehabt... – Das können Sie eine Zweiteilung des Bewusstseins nennen. Auf der einen Seite wissen, dass das Ganze ein Unfug ist, was wir hier machen, möglicherweise sogar ein verbrecherischer Unfug gegenüber dem eigenen Volk, und auf der anderen Seite das Bewusstsein: Man hat aber seine Pflicht zu erfüllen. Und ich nehme an, dass das vielen Deutschen so gegangen ist – jungen Deutschen...
Derart unpräzis-schweifend drückte sich unser Bundeskanzler a.D. damals aus. Der war zwar Oberleutnant, was die ARD aber nicht wissen konnte, schließlich wusste der Zeit-Herausgeber ja auch nichts von der Juden­vernichtung. Exakt ausgedrückt: Wir sind umgeben von tapfren Leuten, die nichts wussten, nie etwas wussten, nie etwas wissen oder nichts wissen wollen oder, was sie wussten, nicht gewusst haben möchten.
Ich besitze eine Anzahl Zeugnisse für alle diese Kategorien. Warum aber redete der Bundeskanzler a.D. so widersprüchlich? Wenn er oder seine Familie rassisch bedroht waren, wie brachte er es dann zum Wehrmachts­offizier? Wenn Staat und Heer nicht darüber informiert waren, dass Herr Oberleutnant unter die Nürnberger Gesetze fielen, wieso verhielt sich der Bedrohte dann nicht besonders aufmerksam und argwöhnisch?
Er führte gehorsam den Ostkrieg mit, nahm aber die Massaker nicht zur Kenntnis, wurde als Zuschauer zum Prozess gegen die Männer des 20. Juli 1944 abkommandiert und blieb dennoch unwissend. Darüber wunderte sich seinerzeit schon Franz Josef Strauß, der sich besser über sich selbst gewundert hätte. Hat Schmidt deutschmeisterlich verdrängt, oder wagt er nicht, ehrlich in den Spiegel zu blicken?
Im Frühjahr 1943 machte ich als 18jähriger Soldat in Berlin meinen Wehr­machts­führerschein. Jeder von uns wusste, was im Osten geschah. Ein geflügeltes Wort ging um: Wenn die uns das heimzahlen, dann gnade uns Gott! Sowas weiß ein kleiner dummer Landser, ein Offizier kann das natürlich nicht gewusst haben. Oder fürchtet er im Greisenalter um sein Image? Weshalb orakelt Schmidt so unbestimmt herum, als wäre er Helmut Kohl? Wovon erfuhr Helmut Schmidt »erst nach dem Kriege«? Falls er von den Vernichtungslagern spricht, ist es nachvollziehbar. Nur eine Minderheit wusste davon. Vor den Tötungen durch Gas aber gab es die Massenmorde durch Totschlagen, Erhängen, Erschießen, Verhungern lassen. Die Zahlen der von Einsatzkommandos unter Mithilfe der Wehrmacht ermordeten Opfer schwanken um knapp eine Million. Schmidt nahm am Ostkrieg teil. War ihm auch davon nichts bekannt? Wie viele Blinde und Taube dienten in der Wehrmacht?
Betrachten wir noch einmal des Oberleutnants TV-Sätze, in denen er sein Nichtwissen selbst widerruft, von seiner »Zweiteilung des Bewusstseins« sprechend: »Auf der einen Seite wissen, dass das Ganze ein Unfug ist, was wir hier machen« – hier stutzt der Zeitzeuge wegen der eigenen Wortwahl und verbessert: »...möglicherweise sogar ein verbrecherischer Unfug gegenüber dem eigenen Volk«. Wer das vernimmt, grübelt nach: gegenüber dem eigenen Volk? Nun ja, der Nationale denkt an seine Nation zuerst, wofür fiele er sonst in fremdes Land ein. Alle Deutschnationalen können beruhigt reagieren: Wenn es ein Sozi so sieht, kann es nicht falsch sein. Das walte Noske. Und Schmidt liefert »nach der einen Seite« auch noch die »andere Seite des Bewusst­seins«: »Man hat aber seine Pflicht zu erfüllen...«
Nehmen wir großmütig an, Schmidt habe nur seinen damaligen geistigen Kriegszustand illustrieren wollen. Weshalb gelingen ihm dann Jahrzehnte später keine Sätze mit Stringenz? Als typischer Vertreter seiner Generation hat er versagt, weil er lebenslang nicht wagte, sich der scharfen Wahrheit zu stellen, die er immerhin andeutet, wenn er von seiner Bewusst­seins­zwei­teilung raunt. In Wirklichkeit spaltete er sich für die politische Karriere auf in einen offiziellen und den anderen Helmut. Vorn groß an der Rampe der Weltpolitiker. Hinten klein, hässlich, verdrängt der deutsche Militärmitläufer. Diese Botschaft lieferte er im Fernsehen ab. Verquast, verduckt, verquer - ein Zeugnis wider Vernunft und Charakter.
Auf diese deutsche Unwahrhaftigkeit werden noch viele Aufklärungs-Bücher niederprasseln, und die Herren Betroffenen nuscheln ungerührt weiter bis zum Staatsbegräbnis.
Am 10.8.1983 erschien in der taz ein Artikel mit der Überschrift: »Die notwendige Umkehr des Christen Schmidt« und ich gestehe, dieses pubertäre Ansinnen entstammte meiner Schreibmaschine. In der Tat, mit 58 Jahren glaubte ich noch an die Mär, es könne einer vom Saulus zum Paulus mutieren. Hier sei das Dokument meiner Naivität letztveröffentlicht:
Für Leute meinesgleichen stellte sich die schwerwiegende Frage nach der moralischen Berechtigung oder Nichtberechtigung zur atomaren Bedrohung der Sowjetunion schon einmal vor vielen Jahren, als die Luftwaffe der Bundeswehr Flugzeuge erhielt, deren Aktionsradius sie befähigte, sowjetische Gebiete zu bomben. Wir beruhigten uns damals bei dem Gedanken, dass die Bundeswehr nur konventionelle Waffen benutzte und Kernwaffen unter amerikanischem Verschluss blieben.
Ich sage: Wir beruhigten uns, doch das ist ein kleiner Euphemismus. Im Kern blieb das moralische Dilemma bestehen.
Wenn ich es recht sehe, handelt es sich um die spezifisch deutsche Variante jener grundsätzlichen Existenzfrage, die sich allen Menschen und Völkern stellt. Alle müssen sich heute vor Augen halten, dass sie im Ernstfall sich selbst und möglicherweise den gesamten Erdball zu Tode verteidigen werden. Die Deutschen allerdings kennen noch die zusätzliche Belastung durch ihre Vergangenheit. Der Überfall Hitlers auf die Sowjetunion, die Niederlage des 3. Reichs und das Bewusstsein der übergroßen, kaum tragbaren Kriegsschuld, dies alles kann offenbar auf dreierlei Arten ertragen werden: Die einen Deutschen (DDR-Genossen und west­deutsche Kommu­nisten) entscheiden sich blind für die Sowjets; die andern Deutschen verdrängen jede Schuldfrage; die wieder andern Deutschen minimalisieren sie, erklären die Sowjets aber ihres Systems wegen zum Todfeind und verspüren deswegen nicht die geringsten Skrupel, Vernichtungswaffen auf sowjetisches Kerngebiet zu richten. Strauß ist der Meister dieser brutalen Ausblendungstechnik. Seine eigene Vergangenheit als Ober­leutnant wiegt ihm leicht wie ein Staubkorn auf der Seele. Wenn ich nun den ursächlichen Anteil berücksichtige, den Helmut Schmidt beim Zustande­kommen des Doppel­beschlusse auf sich nahm, und wenn es dann, wie es aussieht, zur Aufstellung der neuen Raketen kommen sollte, so weiß ich nicht, wie der Mann das mit seinem eigenen sozial­demokratisch-christlichen Gewissen überhaupt vereinbaren kann.
Dabei meine ich keineswegs jene Form von Schuld, die juristisch veri­fizierbar wäre, sondern nur die nicht verfolgbare Schuld. Vielleicht muss ich das ein wenig genauer ausführen. Während Helmut Schmidt das Unglück widerfuhr, gleich zu Beginn des 2. Weltkriegs als Soldat daran teilnehmen zu müssen, hatte ich das Glück, erst 1942 Soldat zu werden. Ein weiterer Glücksumstand war, dass ich nie am Krieg gegen die Sowjets teilnehmen musste. Als unsere Division dann, im Sommer 1944, von Italien nach Warschau gebracht wurde, musste ich dort, kaum ausgeladen, mit ansehen, wie unsere Truppen mit den überlebenden Gefangenen des Warschauer Aufstands umgingen. Unter dem Eindruck der Exekutionen desertierte ich, das war 1944, und zu meinem Glück begegnete ich keinem Filbinger.
In fast fünf Jahren Kriegs­gefangenschaft fragte ich mich immer wieder nach meinem eigenen Schuldanteil. Es war gar nicht mein eigenes Verdienst, dass er gering war. Ich sagte mir, den Rest von Schuld, der dich dennoch trifft, hast du ausgetilgt, indem du die nicht geringen Gefahren der Desertion auf dich nahmst. Außerdem arbeiteten wir, die Kriegsgefangenen in der Sowjetunion, ja unsere Schuld auf oder ab, und dabei starben nur zu viele Gefangene beileibe keinen Heldentod.
Dies, etwa, war meine eigene Rechnung. Ich mute niemandem zu, eine solche Rechnung für sich aufzustellen. Aber ich weiß nicht, wie jemand leben und überleben kann, wie jemand von sich annehmen darf, er sei überzeugter Sozialdemokrat, Christ, Politiker, wenn er sich eine solche Rechnung schuldig bleibt. Ich stelle mir vor, ich wäre ein Politiker, der das Aufstellen jener Pershing 2 zu verantworten hat, die im Ernstfall Leningrad vernichten.
Ich stelle mir vor, ich müsste mir sagen: Du trägst schwere Schuld am Tod von Millionen Sowjetbürgern. Du bist mitschuldig am Massentod der Lenin­grader, mitschuldig am Massentod in anderen Städten, Ländern, Lagern.
Begünstigt durch verschiedene Glücksumstände kann ich mich individuell völlig frei fühlen von aller Schuld gegenüber der Sowjetunion. Dennoch möchte ich keine einzige Pershing 2 verantworten.
Wie jemand sie verantworten kann, der selbst schwer verstrickt ist in die Mörderei des 2. Weltkrieges, das begreife ich nicht. Wenn Helmut Schmidt jetzt seinen ZEIT-Aufsatz überschreibt: »Mit den Russen leben«, dann verstehe ich nicht, wie sich eine solche Auffassung mit der auf Leningrad, Minsk, Königsberg gerichteten Pershing 2 verträgt, Helmut Schmidt beging als Bundeskanzler einen schweren Fehler, als er die Amerikaner dazu brachte, Mittelstreckenraketen für Westdeutschland zu bauen. Das ist eine politische Dummheit, ein militärischer Fehler und strategischer Unsinn, und darüber ließe sich so manches sagen.
Schwerer aber noch wiegt jene blinde Beharrung, die den eigenen Schuld­anteil am vergangenen Unrecht leugnet und zur seelischen Verhärtung führt. Das persönliche Versagen des vormaligen Bundes­kanzlers brachte die SPD in eine schwierige Situation, und sein Erbe hindert sie noch heute daran, sich frei und unreflektiert so zu entscheiden, wie die meisten Mitglieder und Wähler es wollen: gegen die Pershing 2.
Der Bundeskanzler a.D. könnte seiner eigenen Partei keinen größeren Dienst erweisen als den der eigenen Vergangenheitsbewältigung, wobei mir das Wort, das ich benutze, nicht recht behagt. Seines Beiklangs wegen. Vorurteilslos betrachtet aber gibt es wohl nichts Größeres im Leben, als dass wir uns selbst korrigieren. Helmut Schmidt, weise und einsichtig geworden, an der Spitze der Friedensbewegung, neben Petra Kelly und Gerd Bastian, das könnte den Raketen den Boden unterm Raketenträger wegnehmen, den kein anderer als Helmut Schmidt dort hinschaufeln ließ; Quo vadis, Genosse Christ? Martin Niemöller war ein berühmter Krieger und U-Boot-Kommandant, bevor er sich zum Antifaschisten mauserte. Heinrich Albertz hat sich als Regierender Bürgermeister von Westberlin nicht gerade mit Zivilcourage bekleckert und erst eine ganze Zeit nach der Ermordung Ohnesorgs fand er zurück zu jener achtungsgebietenden Friedensgestalt, als die wir ihn nicht mehr missen möchten. Helmut Schmidt habe die Güte, Größe und Statur eines alten Mannes, der in diese Reihe gehört. Es fällt nie leicht, Fehler zu korrigieren. Aber wenn einer erkannt hat, dass wir mit den Russen leben müssen und wenn er zugleich weiß, dass das nicht heißen kann, sich den Sowjets zu unterwerfen, dann sollte er doch wohl endlich auch Energie und Kraft für die dritte Einsicht finden, die da lautet: Der Klügere gibt nicht nach, sondern hält ein mit der tödlichen Eskalation.
Der Klügere ist selten der Sieger des letzten Krieges. Wir, die Deutschen, haben diesen letzten Krieg verloren, und das ist Gnade, wie es ein Vorteil ist. Den Sowjets wie den Amerikanern blieben alle jene Einsichten fern und unbekannt, die wir Unterlegenen, die blutigen Verlierer kennenlernen mussten.
Helmut Schmidt, Oberleutnant und Bundeskanzler a.D., hat noch etwas zu leisten. Niemand kann es ihm befehlen, höchstens anraten. Christen, die in die Kirche gehen, haben wir noch viele. Die Kirche auf die Straße zu tragen und zwischen die Raketenstellungen, das fällt gewiss schwerer.
Soweit meine so inständige wie naive Aufforderung in der taz vom 10.8.1983 mitten in der Nach- und Vorrüstungsdebatte zum Raketendoppelbeschluss und Schmidts Anteil daran. Vergeblich, wie wir wissen. Die Herren Krieger können gar nicht anders.
Als Ernst Bloch 1977 in Tübingen gestorben war, schickte Helmut Kohl ein respekt­volles und F.J. Strauß ein auffallend kenntnis­reiches Beileids­schreiben. Über Helmut Schmidt notierte ich später in Sklavensprache und Revolte: Der Bundeskanzler der BRD schrieb in seinem Beileidstelegramm an Karola, er habe Ernst Bloch noch dieses Jahr aufsuchen wollen, um mit ihm über die Utopie zu reden. Seltsamerweise fiel ihm das die vorher­gehenden sechzehn Jahre nicht ein, die Bloch schon im Lande lebte. Inzwischen hatten die staatlichen Empiriker der Jugend alle Hoffnungen und Utopien so gründlich ausgetrieben, dass ein Teil, in den Nihilismus abirrend, zur Waffe griff. Man hat dieser Jugend alles genommen, die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft, die Möglichkeiten von Reformen, die Glaubwürdigkeit des Vorbilds, und zuletzt raubte man der Jugend noch erträgliche Schulen, Universitäten und ausreichende Arbeitsplätze. Nun wird geschossen, denn der junge Mensch lässt sich nicht widerspruchslos auf Null stellen. Bundeskanzler Helmut Schmidt aber wollte mit dem Philosophen über Utopie sprechen. Leider hat er zu lange gezögert. Der Philosoph, der lange Geduld und ein langes Leben hatte, verstarb darüber. Guter Wille der SPD kommt immer zu spät, wenn er überhaupt kommt.
Der beleidigende Fauxpas des nihilistischen Pragmatikers Schmidt, der mit Bloch »über die Utopie« reden wollte und erheblich zu spät dran war, unterläuft nicht Schmidt-Schnauze, sondern dem selbs­terklärten Empiriker, Popper-Schüler und Hamburger Preußen, der vor sich selbst auf die Knie fällt und die Schuhgröße des Genossen Willy anmaßte. Der immer wieder hinausgeschobene Besuch beim Philosophen in Tübingen lässt einen Hauch von Demut alias Erkenntnis vermuten. Bloch verkörperte die Tragödie des deutsch-jüdischen Linksintellektuellen, Schmidt die altdeutsche Kasernen-Klamotte als Wagner-Oper inszeniert. So wagte sich Helmut 2008 als Siegfried auf den Platz vor dem zum Bundestag ernannten Reichstag und hielt die letzte Durchhalterede für die heilige Wehrmacht und die erste für die Bundeswehr im »Einsatz«.
Willy Brandts Kniefall 1970 im Warschauer Ghetto war nicht der eigenen Vergangenheit geschuldet, die ihm von vielen Deutschen und ihren Rechtspolitikern mit schamloser Bösartigkeit verübelt wurde – uneheliches Kind, Emigration, nein, Flucht aus Deutschland, aktiver Antifaschismus, Vaterlandsverrat …
Helmut Schmidt zeigte sich später bei einer Rede in Auschwitz sichtbar aufgewühlt, was die achtenswerte Parallele wie die fatale Differenz beider Politiker enthüllt. Der eine verkörperte und vergeistigte den Widerstand, der andere seine acht Jahre soldatischer Hitler-Treue. Fehlt noch als Dritter im SPD-Führungszirkel Herbert Wehner, der zwischen Hitler, Stalin, Adenauer und Ulbricht zum verbalen Donnergott eskalierte, ein lädierter Sachse wie Ulbricht, und beide als schuldlos schuldige Gladiatoren zwischen den Welten.
Helmut Schmidt erscheint als die Inkarnation einer permanenten Kriegs­pflicht­erfüllung, die mit der Berliner Gelöbnis-Rede von 2008 in einer NATO-Vorne­verteidigung mündet, deren Front vom Baltikum über Polen bis zur Ukraine und Georgien reicht. Eine dritte Ostfront.
Dazu Wolfgang Borchert, ein anderer Hamburger Bürger: »Dann gibt es nur eins: ›Sag NEIN!‹«
Joseph Heller | Gut wie Gold
Joseph Heller
Gut wie Gold
Roman
S. Fischer (1976)
In den tv-Maschinen kreisen weiterhin die ungezählten Geburts­tags­festivitäten für den Ex-Kanzler Schmidt. Gestern abend scherzten er und Henry Kissinger mal wieder in Hamburg. Erinnert sich noch jemand an den amerikanischen Autor Joseph Heller und seinen epochalen Roman Gut wie Gold? Ein Anti-Kissinger-Buch sui generis. Heller über den Politiker: »Wie er diesen zischelnden Namen liebte und verabscheute.« Herrn Schmidt verabscheue ich nicht. Muss ich ihn lieben? Er kämpfte nur acht Jahre mit Hitler gegen Stalin. Da hielt ich es mit Trotzki: Wenn Hitler die Sowjetunion angreift, stehen wir mit Stalin gegen Hitler. Damit komme ich auf Schmidts planmäßig versäumten Bloch-Besuch in Tübingen.
Die Gründe sind einer genaueren Besichtigung wert. Vorher müssen wir noch direkt und intensiv nach Leipzig und Berlin schweifen, wo ein paar ältere Herren Genossen ihre Geschichte so zu erzählen belieben, wie sie nicht war, was wir genauso lachhaft finden wie den Dünkel der vorläufigen Sieger im kalten Westen.

Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 9. Februar 2009.

Gerhard Zwerenz   02.02.2009   
Gerhard Zwerenz
Serie
  1. Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
  2. Wird Sachsen bald chinesisch?
  3. Blick zurück und nach vorn
  4. Die große Sachsen-Koalition
  5. Von Milbradt zu Ernst Jünger
  6. Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
  7. Reise nach dem verlorenen Ich
  8. Mit Rasputin auf das Fest der Sinne
  9. Van der Lubbe und die Folgen
  10. Unser Schulfreund Karl May
  11. Hannah Arendt und die Obersturmbannführer
  12. Die Westflucht ostwärts
  13. Der Sänger, der nicht mehr singt
  14. Ich kenne nur
    Karl May und Hegel
  15. Mein Leben als Prophet
  16. Frühe Liebe mit Trauerflor
  17. Der Schatten Leo Bauers
  18. Von Unselds Gegner zu Holtzbrincks Bodyguard
  19. Karl May Petrus Enzensberger Walter Janka
  20. Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen
  21. Tanz in die zweifache Existenz
  22. General Hammersteins Schweigen
  23. Die Pleiße war mein Mississippi
  24. Im Osten verzwergt und verhunzt?
  25. Uwe Johnson geheimdienstlich
  26. Was fürchtete Uwe Johnson
  27. Frühling Zoo Buchmesse
  28. Die goldenen Leipziger Jahre
  29. Das Poeten-Projekt
  30. Der Sachsenschlag und die Folgen
  31. Blick zurück auf Wohlgesinnte
  32. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (I)
  33. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (II)
  34. Brief mit Vorspann an Erich Loest
  35. Briefwechsel mit der Welt der Literatur
  36. Die offene Wunde der Welt der Literatur
  37. Leipzig – wir kommen
  38. Terror im Systemvergleich
  39. Rachegesang und Kafkas Prophetismus
  40. Die Nostalgie der 70er Jahre
  41. Pauliner Kirche und letzte Helden
  42. Das Kickers-Abenteuer
  43. Unser Feind, die Druckwelle
  44. Samisdat in postkulturellen Zeiten
  45. So trat ich meinen Liebesdienst an …
  46. Mein Ausstieg in den Himmel
  47. Schraubenzieher im Feuchtgebiet
  48. Der Fall Filip Müller
  49. Contra und pro Genossen
  50. Wie ich dem Politbüro die Todesstrafe verdarb
  51. Frankfurter Polzei-buchmesse 1968
  52. Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
  53. Als Atheist in Fulda
  54. Parade der Wiedergänger
  55. Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
  56. Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
  57. Fragen an einen Totalitarismusforscher
  58. Meine fünf Lektionen
  59. Playmobilmachung von Harald Schmidt
  60. Freundliche Auskunft an Hauptpastor Goetze
  61. Denkfabrik am Pleißenstrand
  62. Rendezvous beim Kriegsjuristen
  63. Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
  64. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
  65. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
  66. Der Bunker ...
  67. Helmut auf allen Kanälen
  68. Leipzig anno 1956 und Berlin 2008
  69. Mit Konterrevolutionären und Trotzkisten auf dem Dritten Weg
  70. Die Sächsischen Freiheiten
  71. Zwischen Genossen und Werwölfen
  72. Zur Geschichte meiner Gedichte
  73. Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten
  74. Der Dritte Weg als Ausweg
  75. Unendliche Wende
  76. Drei Liebesgrüße für Marcel
  77. Wir lagen vor Monte Cassino
  78. Die zweifache Lust
  79. Hacks Haffner Ulbricht Tillich
  80. Mein Leben als Doppelagent
  81. Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein
  82. Vom Langen Marsch zum 3. Weg
  83. Die Differenz zwischen links und rechts
  84. Wo liegt Bad Gablenz?
  85. Quartier zwischen Helmut Schmidt und Walter Ulbricht
  86. Der 3. Weg eines Auslandssachsen
  87. Kriegsverrat, Friedensverrat und Friedenslethargie
  88. Am Anfang war das Gedicht
  89. Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
  90. Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
  91. Im Hotel Folterhochschule
  92. Brief an Ernst Bloch im Himmel
  93. Kurze Erinnerung ans Bonner Glashaus
  94. Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
  95. 94/95 Doppelserie
  96. FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller
  97. Rainer Werner Fassbinder ...
  98. Zähne zusammen­beißen ...
  99. Das Unvergessene im Blick
    1. Nachwort
Nachworte
  1. Nachwort
    siehe Folge 99
  2. Auf den Spuren des
    Günter Wallraff
  3. Online-Abenteuer mit Buch und Netz
  4. Rückschau und Vorschau aufs linke Leipzig
  5. Die Leipziger Denkschule
  6. Idylle mit Wutanfall
  7. Die digitalisierte Freiheit der Elite
  8. Der Krieg als Badekur?
  9. Wolfgang Neuss über Kurt Tucholsky
  10. Alter Sack antwortet jungem Sack
  11. Vor uns diverse Endkämpfe
  12. Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren
  13. Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
  14. Kampf der Deserteure
  15. Fritz Bauers unerwartete Rückkehr
  16. Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
  17. Als Fassbinder in die Oper gehen wollte
  18. Was zum Teufel sind Blochianer?
  19. Affentanz um die 11. Feuerbach-These
  20. Geschichten vom Geist als Stimmvieh
  21. Von Frankfurt übern Taunus ins Erzgebirge
  22. Trotz – Trotzalledem – Trotzki
  23. Der 3. Weg ist kein Mittelweg
  24. Matroschka –
    Die Mama in der Mama
  25. Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
  26. Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller
  27. Jan Robert Bloch –
    der Sohn, der aus der Kälte kam
  28. Das Buch, der Tod und der Widerspruch
  29. Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad
  30. Bloch und Nietzsche werden gegauckt ...
  31. Hölle angebohrt. Teufel raus?
  32. Zwischen Heym + Gauck
  33. Von Marx über Bloch zu Prof. Dr. Holz
  34. Kafkas Welttheater in Auerbachs Keller
  35. Die Philosophenschlacht von Leipzig
  36. Dekonstruktion oder Das Ende der Ver­spä­tung ist das Ende
  37. Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
  38. Meine Weltbühne im poetenladen
  39. Von Blochs Trotz zu Sartres Ekel
  40. Die Internationale der Postmarxisten
  41. Dies hier war Deutschland
  42. Kopfsprünge von Land zu Land und Stadt zu Stadt
  43. Einiges Land oder wem die Rache gehört
  44. Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen
  45. Macht ist ein Kriegszustand
  46. Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
  47. Damals, als ich als Boccaccio ging …
  48. Ein Traum von Aufklärung und Masturbation
  49. Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
  50. Leipzig am Meer 2013
  51. Scheintote, Untote und Überlebende
  52. Die DDR musste nicht untergehen (1)
  53. Die DDR musste nicht untergehen (2)
  54. Ein Orden fürs Morden
  55. Welche Revolution darfs denn sein?
  56. Deutschland zwischen Apartheid und Nostalgie
  57. Nietzsche dekonstruierte Gott, Bloch den Genossen Stalin
  58. Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter
  59. Von Renegaten, Trotzkisten und anderen Klassikern
  60. Die heimatlose Linke (I)
    Bloch-Oper für zwei u. mehr Stimmen
  61. Die heimatlose Linke (II)
    Ein Zwischenruf
  62. Die heimatlose Linke (III)
    Wer ist Opfer, wer Täter ...
  63. Die heimatlose Linke (IV)
    In der permanenten Revolte
  64. Wir gründen den Club der
    heimatlosen Linken
  65. Pekings große gegen Berlins kleine Mauer
  66. Links im Land der SS-Ober­sturm­bann­führer
  67. Zweifel an Horns Ende – SOKO Leipzig übernimmt?
  68. Leipzig. Kopfbahnhof
  69. Ordentlicher Dialog im Chaos
  70. Büchner und Nietzsche und wir
  71. Mit Brecht in Karthago ...
  72. Endspiel mit Luther & Biermann & Margot
  73. Die Suche nach dem anderen Marx
  74. Wer ermordete Luxemburg und Liebknecht und wer Trotzki?
  75. Vom Krieg unserer (eurer) Väter
  76. Wohin mit den späten Wellen der Nazi-Wahrheit?
  77. Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen
  78. Die Heldensöhne der Urkatastrophe
  79. Die Autobiographie zwischen
    Schein und Sein
  80. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
  81. Atlantis sendet online
  82. Zur Philosophie des Krieges
  83. Deutsche, wollt ihr ewig sterben?
  84. Der Prominentenstadl in der Krise
  85. Der Blick von unten nach oben
  86. Auf der Suche nach einer moralischen Existenz
  87. Vom Krieg gegen die Pazifisten
  88. Keine Lust aufs Rentnerdasein
  89. Von der Beschneidung bis zur
    begeh­baren Prostata
  90. Friede den Landesverrätern
    Augstein und Harich
  91. Klarstellung 1 – Der Konflikt um
    Marx und Bloch
  92. Bloch & die 56er-Opposition zwischen Philo­sophie und Verbrechen
  93. Der Kampf ums Buch
  94. Und trotzdem: Ex oriente lux
  95. Der Soldat: Held – Mörder – Heiliger – Deserteur?
  96. Der liebe Tod – Was können wir wissen?
  97. Lacht euren Herren ins Gesicht ...
  98. Die Blochianer kommen in Tanzschritten
  99. Von den Geheimlehren der Blochianer
Aufsatz