Helmut auf allen Kanälen
Oberleutnant Helmut Schmidt, Oberleutnant Strauß, Hauptmann Dregger, Major Mende und die Karriereleiter hoch zu Hitlers und Adenauers Generälen samt Staatssekretären der Sorte Globke – ich find' sie im Rückblick alle zum Davonlaufen und bin diesen Herren als Neunzehnjähriger im Krieg mangels Alternative davongelaufen. Soll unsereiner vor den Nationalkotzbrocken immer nur die Flucht ergreifen? Dann gab's das andere Deutschland. Großer Anfang, schräges Ende. Wenn sich die Genossen Generäle nach ihrer Niederlage gegen die siegreichen Westoffiziere heute verbal zur Wehr setzen, versteh' ich das, nur geht es mir zu sehr um die beidseitige armselige Offiziers-Ehre und zu wenig um die Niederlage, deren Gründe kaum artikuliert werden. Wäre ich Ost-General, wollte ich vom West-General nicht anerkannt sein. Ich hätte mich, nebenbei bemerkt, erschossen. Wer aber lebt, also überlebt, sollte entweder schweigen oder die Dekonstruktion der eigenen Seite und Vergangenheit wagen. Jede Niederlage beruht erst einmal auf eigenen Fehlern. Für uns von der deutschen Linken heißt das, die Entfernung von Marx war zur Unendlichen geworden. Nicht Selbstaufgabe ist das Motto, sondern Bewahrheitung und Widerstand gegen den kollektiven Trend zur Endzeit mit Schlusspunkt.
Der neunzigjährige Helmut Schmidt wetterleuchtete Ende 2008 auf allen Kanälen und machte als grimmiger Glosseur gar keine so schlechte Figur. Verglichen mit dem Nachfolgepersonal scheint die vorher regierende Wehrmachtsoffizierskaste überhaupt der bessere Teil zu sein. Desto schlimmer sind die Tatsachen. Die forschen Militärs waren nach 1945 und ihrer gehorsamsten Teilnahme an Hitlers Krieg potentiell bereit, den Kampf gegen die Russen fortzusetzen. Im Falle Schmidt und Strauß inklusive Nuklearkriegs-Risiko. Mindestens dreimal stand Deutschland, obwohl geteilt, nur Minuten vor der atomaren Vernichtung. Das wussten wir damals schon. Heute sind die Fakten so klar wie unabweislich. Es klingt zwar verständig und weise, mokiert Helmut Schmidt sich heute über die Bundeswehr in Afghanistan, doch der Hindukusch ist nur eine weitere Stufe auf der Eskalationstreppe. Es begann mit Adenauers Atomwaffen-Naivität und setzte sich mit Schmidts Doppelbeschluss-Rüstung fort. Willy Brandt war nur eine Zwischenepisode. Sehen wir mal genauer nach, was dessen Nachfolger so von sich gab.
In der ARD-Sendereihe »Soldaten für Hitler« erklärte vor einiger Zeit der als »Leutnant« vorgestellte Helmut: Ich habe z.B. von der Vernichtung der Juden erst nach dem Kriege erfahren. Obwohl mich das natürlich wahnsinnig interessierte, was etwa mit den Juden geschah. Denn meine elterliche Familie und ich selber, wir fielen auch unter diese sogenannten Nürnberger Gesetze, aber von der Vernichtung von Juden haben wir keine Kenntnis gehabt... – Das können Sie eine Zweiteilung des Bewusstseins nennen. Auf der einen Seite wissen, dass das Ganze ein Unfug ist, was wir hier machen, möglicherweise sogar ein verbrecherischer Unfug gegenüber dem eigenen Volk, und auf der anderen Seite das Bewusstsein: Man hat aber seine Pflicht zu erfüllen. Und ich nehme an, dass das vielen Deutschen so gegangen ist – jungen Deutschen...
Derart unpräzis-schweifend drückte sich unser Bundeskanzler a.D. damals aus. Der war zwar Oberleutnant, was die ARD aber nicht wissen konnte, schließlich wusste der Zeit-Herausgeber ja auch nichts von der Judenvernichtung. Exakt ausgedrückt: Wir sind umgeben von tapfren Leuten, die nichts wussten, nie etwas wussten, nie etwas wissen oder nichts wissen wollen oder, was sie wussten, nicht gewusst haben möchten.
Ich besitze eine Anzahl Zeugnisse für alle diese Kategorien. Warum aber redete der Bundeskanzler a.D. so widersprüchlich? Wenn er oder seine Familie rassisch bedroht waren, wie brachte er es dann zum Wehrmachtsoffizier? Wenn Staat und Heer nicht darüber informiert waren, dass Herr Oberleutnant unter die Nürnberger Gesetze fielen, wieso verhielt sich der Bedrohte dann nicht besonders aufmerksam und argwöhnisch?
Er führte gehorsam den Ostkrieg mit, nahm aber die Massaker nicht zur Kenntnis, wurde als Zuschauer zum Prozess gegen die Männer des 20. Juli 1944 abkommandiert und blieb dennoch unwissend. Darüber wunderte sich seinerzeit schon Franz Josef Strauß, der sich besser über sich selbst gewundert hätte. Hat Schmidt deutschmeisterlich verdrängt, oder wagt er nicht, ehrlich in den Spiegel zu blicken?
Im Frühjahr 1943 machte ich als 18jähriger Soldat in Berlin meinen Wehrmachtsführerschein. Jeder von uns wusste, was im Osten geschah. Ein geflügeltes Wort ging um: Wenn die uns das heimzahlen, dann gnade uns Gott! Sowas weiß ein kleiner dummer Landser, ein Offizier kann das natürlich nicht gewusst haben. Oder fürchtet er im Greisenalter um sein Image? Weshalb orakelt Schmidt so unbestimmt herum, als wäre er Helmut Kohl? Wovon erfuhr Helmut Schmidt »erst nach dem Kriege«? Falls er von den Vernichtungslagern spricht, ist es nachvollziehbar. Nur eine Minderheit wusste davon. Vor den Tötungen durch Gas aber gab es die Massenmorde durch Totschlagen, Erhängen, Erschießen, Verhungern lassen. Die Zahlen der von Einsatzkommandos unter Mithilfe der Wehrmacht ermordeten Opfer schwanken um knapp eine Million. Schmidt nahm am Ostkrieg teil. War ihm auch davon nichts bekannt? Wie viele Blinde und Taube dienten in der Wehrmacht?
Betrachten wir noch einmal des Oberleutnants TV-Sätze, in denen er sein Nichtwissen selbst widerruft, von seiner »Zweiteilung des Bewusstseins« sprechend: »Auf der einen Seite wissen, dass das Ganze ein Unfug ist, was wir hier machen« – hier stutzt der Zeitzeuge wegen der eigenen Wortwahl und verbessert: »...möglicherweise sogar ein verbrecherischer Unfug gegenüber dem eigenen Volk«. Wer das vernimmt, grübelt nach: gegenüber dem eigenen Volk? Nun ja, der Nationale denkt an seine Nation zuerst, wofür fiele er sonst in fremdes Land ein. Alle Deutschnationalen können beruhigt reagieren: Wenn es ein Sozi so sieht, kann es nicht falsch sein. Das walte Noske. Und Schmidt liefert »nach der einen Seite« auch noch die »andere Seite des Bewusstseins«: »Man hat aber seine Pflicht zu erfüllen...«
Nehmen wir großmütig an, Schmidt habe nur seinen damaligen geistigen Kriegszustand illustrieren wollen. Weshalb gelingen ihm dann Jahrzehnte später keine Sätze mit Stringenz? Als typischer Vertreter seiner Generation hat er versagt, weil er lebenslang nicht wagte, sich der scharfen Wahrheit zu stellen, die er immerhin andeutet, wenn er von seiner Bewusstseinszweiteilung raunt. In Wirklichkeit spaltete er sich für die politische Karriere auf in einen offiziellen und den anderen Helmut. Vorn groß an der Rampe der Weltpolitiker. Hinten klein, hässlich, verdrängt der deutsche Militärmitläufer. Diese Botschaft lieferte er im Fernsehen ab. Verquast, verduckt, verquer - ein Zeugnis wider Vernunft und Charakter.
Auf diese deutsche Unwahrhaftigkeit werden noch viele Aufklärungs-Bücher niederprasseln, und die Herren Betroffenen nuscheln ungerührt weiter bis zum Staatsbegräbnis.
Am 10.8.1983 erschien in der taz ein Artikel mit der Überschrift: »Die notwendige Umkehr des Christen Schmidt« und ich gestehe, dieses pubertäre Ansinnen entstammte meiner Schreibmaschine. In der Tat, mit 58 Jahren glaubte ich noch an die Mär, es könne einer vom Saulus zum Paulus mutieren. Hier sei das Dokument meiner Naivität letztveröffentlicht:
Für Leute meinesgleichen stellte sich die schwerwiegende Frage nach der moralischen Berechtigung oder Nichtberechtigung zur atomaren Bedrohung der Sowjetunion schon einmal vor vielen Jahren, als die Luftwaffe der Bundeswehr Flugzeuge erhielt, deren Aktionsradius sie befähigte, sowjetische Gebiete zu bomben. Wir beruhigten uns damals bei dem Gedanken, dass die Bundeswehr nur konventionelle Waffen benutzte und Kernwaffen unter amerikanischem Verschluss blieben.
Ich sage: Wir beruhigten uns, doch das ist ein kleiner Euphemismus. Im Kern blieb das moralische Dilemma bestehen.
Wenn ich es recht sehe, handelt es sich um die spezifisch deutsche Variante jener grundsätzlichen Existenzfrage, die sich allen Menschen und Völkern stellt. Alle müssen sich heute vor Augen halten, dass sie im Ernstfall sich selbst und möglicherweise den gesamten Erdball zu Tode verteidigen werden. Die Deutschen allerdings kennen noch die zusätzliche Belastung durch ihre Vergangenheit. Der Überfall Hitlers auf die Sowjetunion, die Niederlage des 3. Reichs und das Bewusstsein der übergroßen, kaum tragbaren Kriegsschuld, dies alles kann offenbar auf dreierlei Arten ertragen werden: Die einen Deutschen (DDR-Genossen und westdeutsche Kommunisten) entscheiden sich blind für die Sowjets; die andern Deutschen verdrängen jede Schuldfrage; die wieder andern Deutschen minimalisieren sie, erklären die Sowjets aber ihres Systems wegen zum Todfeind und verspüren deswegen nicht die geringsten Skrupel, Vernichtungswaffen auf sowjetisches Kerngebiet zu richten. Strauß ist der Meister dieser brutalen Ausblendungstechnik. Seine eigene Vergangenheit als Oberleutnant wiegt ihm leicht wie ein Staubkorn auf der Seele. Wenn ich nun den ursächlichen Anteil berücksichtige, den Helmut Schmidt beim Zustandekommen des Doppelbeschlusse auf sich nahm, und wenn es dann, wie es aussieht, zur Aufstellung der neuen Raketen kommen sollte, so weiß ich nicht, wie der Mann das mit seinem eigenen sozialdemokratisch-christlichen Gewissen überhaupt vereinbaren kann.
Dabei meine ich keineswegs jene Form von Schuld, die juristisch verifizierbar wäre, sondern nur die nicht verfolgbare Schuld. Vielleicht muss ich das ein wenig genauer ausführen. Während Helmut Schmidt das Unglück widerfuhr, gleich zu Beginn des 2. Weltkriegs als Soldat daran teilnehmen zu müssen, hatte ich das Glück, erst 1942 Soldat zu werden. Ein weiterer Glücksumstand war, dass ich nie am Krieg gegen die Sowjets teilnehmen musste. Als unsere Division dann, im Sommer 1944, von Italien nach Warschau gebracht wurde, musste ich dort, kaum ausgeladen, mit ansehen, wie unsere Truppen mit den überlebenden Gefangenen des Warschauer Aufstands umgingen. Unter dem Eindruck der Exekutionen desertierte ich, das war 1944, und zu meinem Glück begegnete ich keinem Filbinger.
In fast fünf Jahren Kriegsgefangenschaft fragte ich mich immer wieder nach meinem eigenen Schuldanteil. Es war gar nicht mein eigenes Verdienst, dass er gering war. Ich sagte mir, den Rest von Schuld, der dich dennoch trifft, hast du ausgetilgt, indem du die nicht geringen Gefahren der Desertion auf dich nahmst. Außerdem arbeiteten wir, die Kriegsgefangenen in der Sowjetunion, ja unsere Schuld auf oder ab, und dabei starben nur zu viele Gefangene beileibe keinen Heldentod.
Dies, etwa, war meine eigene Rechnung. Ich mute niemandem zu, eine solche Rechnung für sich aufzustellen. Aber ich weiß nicht, wie jemand leben und überleben kann, wie jemand von sich annehmen darf, er sei überzeugter Sozialdemokrat, Christ, Politiker, wenn er sich eine solche Rechnung schuldig bleibt. Ich stelle mir vor, ich wäre ein Politiker, der das Aufstellen jener Pershing 2 zu verantworten hat, die im Ernstfall Leningrad vernichten.
Ich stelle mir vor, ich müsste mir sagen: Du trägst schwere Schuld am Tod von Millionen Sowjetbürgern. Du bist mitschuldig am Massentod der Leningrader, mitschuldig am Massentod in anderen Städten, Ländern, Lagern.
Begünstigt durch verschiedene Glücksumstände kann ich mich individuell völlig frei fühlen von aller Schuld gegenüber der Sowjetunion. Dennoch möchte ich keine einzige Pershing 2 verantworten.
Wie jemand sie verantworten kann, der selbst schwer verstrickt ist in die Mörderei des 2. Weltkrieges, das begreife ich nicht. Wenn Helmut Schmidt jetzt seinen ZEIT-Aufsatz überschreibt: »Mit den Russen leben«, dann verstehe ich nicht, wie sich eine solche Auffassung mit der auf Leningrad, Minsk, Königsberg gerichteten Pershing 2 verträgt, Helmut Schmidt beging als Bundeskanzler einen schweren Fehler, als er die Amerikaner dazu brachte, Mittelstreckenraketen für Westdeutschland zu bauen. Das ist eine politische Dummheit, ein militärischer Fehler und strategischer Unsinn, und darüber ließe sich so manches sagen.
Schwerer aber noch wiegt jene blinde Beharrung, die den eigenen Schuldanteil am vergangenen Unrecht leugnet und zur seelischen Verhärtung führt. Das persönliche Versagen des vormaligen Bundeskanzlers brachte die SPD in eine schwierige Situation, und sein Erbe hindert sie noch heute daran, sich frei und unreflektiert so zu entscheiden, wie die meisten Mitglieder und Wähler es wollen: gegen die Pershing 2.
Der Bundeskanzler a.D. könnte seiner eigenen Partei keinen größeren Dienst erweisen als den der eigenen Vergangenheitsbewältigung, wobei mir das Wort, das ich benutze, nicht recht behagt. Seines Beiklangs wegen. Vorurteilslos betrachtet aber gibt es wohl nichts Größeres im Leben, als dass wir uns selbst korrigieren. Helmut Schmidt, weise und einsichtig geworden, an der Spitze der Friedensbewegung, neben Petra Kelly und Gerd Bastian, das könnte den Raketen den Boden unterm Raketenträger wegnehmen, den kein anderer als Helmut Schmidt dort hinschaufeln ließ; Quo vadis, Genosse Christ? Martin Niemöller war ein berühmter Krieger und U-Boot-Kommandant, bevor er sich zum Antifaschisten mauserte. Heinrich Albertz hat sich als Regierender Bürgermeister von Westberlin nicht gerade mit Zivilcourage bekleckert und erst eine ganze Zeit nach der Ermordung Ohnesorgs fand er zurück zu jener achtungsgebietenden Friedensgestalt, als die wir ihn nicht mehr missen möchten. Helmut Schmidt habe die Güte, Größe und Statur eines alten Mannes, der in diese Reihe gehört. Es fällt nie leicht, Fehler zu korrigieren. Aber wenn einer erkannt hat, dass wir mit den Russen leben müssen und wenn er zugleich weiß, dass das nicht heißen kann, sich den Sowjets zu unterwerfen, dann sollte er doch wohl endlich auch Energie und Kraft für die dritte Einsicht finden, die da lautet: Der Klügere gibt nicht nach, sondern hält ein mit der tödlichen Eskalation.
Der Klügere ist selten der Sieger des letzten Krieges. Wir, die Deutschen, haben diesen letzten Krieg verloren, und das ist Gnade, wie es ein Vorteil ist. Den Sowjets wie den Amerikanern blieben alle jene Einsichten fern und unbekannt, die wir Unterlegenen, die blutigen Verlierer kennenlernen mussten.
Helmut Schmidt, Oberleutnant und Bundeskanzler a.D., hat noch etwas zu leisten. Niemand kann es ihm befehlen, höchstens anraten. Christen, die in die Kirche gehen, haben wir noch viele. Die Kirche auf die Straße zu tragen und zwischen die Raketenstellungen, das fällt gewiss schwerer.
Soweit meine so inständige wie naive Aufforderung in der taz vom 10.8.1983 mitten in der Nach- und Vorrüstungsdebatte zum Raketendoppelbeschluss und Schmidts Anteil daran. Vergeblich, wie wir wissen. Die Herren Krieger können gar nicht anders.
Als Ernst Bloch 1977 in Tübingen gestorben war, schickte Helmut Kohl ein respektvolles und F.J. Strauß ein auffallend kenntnisreiches Beileidsschreiben. Über Helmut Schmidt notierte ich später in Sklavensprache und Revolte: Der Bundeskanzler der BRD schrieb in seinem Beileidstelegramm an Karola, er habe Ernst Bloch noch dieses Jahr aufsuchen wollen, um mit ihm über die Utopie zu reden. Seltsamerweise fiel ihm das die vorhergehenden sechzehn Jahre nicht ein, die Bloch schon im Lande lebte. Inzwischen hatten die staatlichen Empiriker der Jugend alle Hoffnungen und Utopien so gründlich ausgetrieben, dass ein Teil, in den Nihilismus abirrend, zur Waffe griff. Man hat dieser Jugend alles genommen, die Hoffnung auf eine bessere Gesellschaft, die Möglichkeiten von Reformen, die Glaubwürdigkeit des Vorbilds, und zuletzt raubte man der Jugend noch erträgliche Schulen, Universitäten und ausreichende Arbeitsplätze. Nun wird geschossen, denn der junge Mensch lässt sich nicht widerspruchslos auf Null stellen. Bundeskanzler Helmut Schmidt aber wollte mit dem Philosophen über Utopie sprechen. Leider hat er zu lange gezögert. Der Philosoph, der lange Geduld und ein langes Leben hatte, verstarb darüber. Guter Wille der SPD kommt immer zu spät, wenn er überhaupt kommt.
Der beleidigende Fauxpas des nihilistischen Pragmatikers Schmidt, der mit Bloch »über die Utopie« reden wollte und erheblich zu spät dran war, unterläuft nicht Schmidt-Schnauze, sondern dem selbsterklärten Empiriker, Popper-Schüler und Hamburger Preußen, der vor sich selbst auf die Knie fällt und die Schuhgröße des Genossen Willy anmaßte. Der immer wieder hinausgeschobene Besuch beim Philosophen in Tübingen lässt einen Hauch von Demut alias Erkenntnis vermuten. Bloch verkörperte die Tragödie des deutsch-jüdischen Linksintellektuellen, Schmidt die altdeutsche Kasernen-Klamotte als Wagner-Oper inszeniert. So wagte sich Helmut 2008 als Siegfried auf den Platz vor dem zum Bundestag ernannten Reichstag und hielt die letzte Durchhalterede für die heilige Wehrmacht und die erste für die Bundeswehr im »Einsatz«.
Willy Brandts Kniefall 1970 im Warschauer Ghetto war nicht der eigenen Vergangenheit geschuldet, die ihm von vielen Deutschen und ihren Rechtspolitikern mit schamloser Bösartigkeit verübelt wurde – uneheliches Kind, Emigration, nein, Flucht aus Deutschland, aktiver Antifaschismus, Vaterlandsverrat …
Helmut Schmidt zeigte sich später bei einer Rede in Auschwitz sichtbar aufgewühlt, was die achtenswerte Parallele wie die fatale Differenz beider Politiker enthüllt. Der eine verkörperte und vergeistigte den Widerstand, der andere seine acht Jahre soldatischer Hitler-Treue. Fehlt noch als Dritter im SPD-Führungszirkel Herbert Wehner, der zwischen Hitler, Stalin, Adenauer und Ulbricht zum verbalen Donnergott eskalierte, ein lädierter Sachse wie Ulbricht, und beide als schuldlos schuldige Gladiatoren zwischen den Welten.
Helmut Schmidt erscheint als die Inkarnation einer permanenten Kriegspflichterfüllung, die mit der Berliner Gelöbnis-Rede von 2008 in einer NATO-Vorneverteidigung mündet, deren Front vom Baltikum über Polen bis zur Ukraine und Georgien reicht. Eine dritte Ostfront.
Dazu Wolfgang Borchert, ein anderer Hamburger Bürger: »Dann gibt es nur eins: ›Sag NEIN!‹«
Die Gründe sind einer genaueren Besichtigung wert. Vorher müssen wir noch direkt und intensiv nach Leipzig und Berlin schweifen, wo ein paar ältere Herren Genossen ihre Geschichte so zu erzählen belieben, wie sie nicht war, was wir genauso lachhaft finden wie den Dünkel der vorläufigen Sieger im kalten Westen.
Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 9. Februar 2009.
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Gerhard Zwerenz
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