Es gibt einen MDR-Film aus dem Jahr 2006 in der Reihe Lebensläufe, da stehe ich am Ende mit dem Rücken zum Leipziger Reichsgericht, das dann Dimitroff-Museum hieß und heute wieder anders, da stehe ich also am Pleißenufer, aufs Metallgitter gestützt, blicke über Flüsschen und Harkortstraße auf den anschließend wuchernden Gebäudekomplex, der von Beethovenstraße, Peterssteinweg und Dimitroffstraße eingegrenzt wird und lasse eine große Leipziger Vergangenheit aufleben, denn Sachsens Geschichte existiert im Untergrund heftiger als ihre Zensoren wollen. Das ist so:
Heimat wird dir genommen, selbst wenn du im Hause deiner Geburt bleibst. Der Verfasser erinnert sich an einen Besuch in der Leipziger Klause des Romanisten Werner Krauss, eines Schülers des von den vorvergangenen Herrschern vertriebenen Erich Auerbach. Krauss nun, der in der Schulze-Boysen- Was keiner von ihnen wusste, der vom Zuchthaus gezeichnete Krauss war 1947/48 auf die verrückte Idee verfallen, die im US-Exil lebenden Herbert Marcuse und Ernst Bloch nach Leipzig zu berufen. Marcuse hatte abgelehnt, Bloch zugesagt, sogar vorzeitig und emphatisch, wie Biograph Hans-Uwe Feige herausfand. Der ins Exil verbannte Kopf-Revolutionär hatte es eilig, seinen »Willen zur Macht« des Kopfes praktisch werden zu lassen. Zur Erinnerung an Werner Krauss tritt die Erinnerung an einen anderen Aufrechten, den Historiker Walter Markov, vor dem in den fünfziger Jahren gewarnt wurde, galt er doch als Titoist. Welch ein rotes Leben: Anfang des Dritten Reichs Kommunist geworden, 1935 verhaftet und zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt, 1951 Parteiausschluss, nach dem Ende der DDR wieder Parteieintritt. Welche andere Partei hat schon lebenslange Widerständler aufzuweisen. Sie haben Gewicht. Im Dritten Reich Kommunist zu werden und Widerstand zu wagen war lebensgefährlich. Nach dem Untergang eines Systems einer geschlagenen Partei beizutreten und den hochmütigen Siegern nicht wohlfeil zum Munde zu reden, beweist charakterliche Konstanz. Bleibt zu fragen, wann Leipzig, wann Sachsen sich seiner besten Köpfe erinnere. Noch nach fast fünfzig Jahren gedenke ich mit dankbarem Respekt der Genossen, die sich damals widersetzten. Welche Chancen waren für uns in der kleinen DDR nach dem Moskauer reinigenden Gewitter von 1956 erwachsen. Meine relativ freischwebende Existenz als Schriftsteller hatte mir Publikationen ermöglicht, die den Bruch mit der Parteilinie unausweichlich machten. Fragt sich am Ende, was aus dem Leipziger Bloch-Kreis der fünfziger Jahre wurde. Hans Pfeiffer, Autor, Nationalpreisträger, Professor am Johannes- Der Blick in die Autorenliste des Bandes Ernst Blochs Revision des Marxismus endlich lehrt die Vergeblichkeit aller Feindschaft. So viele gute kluge Genossen - und solch ein unnötig fatales Ende. Von den Unterzeichnern des »Offenen Briefes« an und gegen Bloch beging einer Selbstmord, einer erkrankte und verstarb, einer hielt im August 2002 zum fünfundzwanzigsten Todestag des Philosophen den Festvortrag: »Ernst Bloch – zum Verhältnis von Freiheit und Ordnung«. Von den fünf anderen Unterschreibern weiß ich nichts, kannte auch damals keinen von ihnen. Endlich ist Gerhard Urbach zu nennen, der 1957 als Assistent von Leipzig an die Universität Jena kam und wegen verweigerter Selbstkritik repressiert wurde. Urbach begreift nicht, wie Ernst Bloch ihn noch 1959 zum Verbleib in der DDR ermuntern konnte, selbst jedoch zwei Jahre später wegblieb. (Leipziger Volkszeitung vom 3./4.8.2002). Das Exempel zeigt, der Zukunftsdenker hoffte noch bis zum Mauerbau 1961 auf Besserung und erwartete offenbar, seine Schüler könnten an den Universitäten der Republik als Hefe im Teig einen wichtigen Platz einnehmen. Genau dies fürchtete der fuchsschlaue Walter Ulbricht, was die rigide Verfolgung der entsprechenden Leute erklärt. Nachdem er direkt und über die Leipziger Parteileitung eingegriffen hatte, überließ er Erich Mielke das weitere Aufräumen, auf dessen Anweisung hin Unmengen von Manuskripten und Dokumenten beschlagnahmt und gesichtet wurden. Die Quintessenz dieser oppositionellen Ideen war mitbestimmend für die Ulbrichtschen Reformversuche der sechziger Jahre. Sie blieben zaghaft, kamen zu spät und verliefen im Sande. Die geistige Enteignung der Inhaftierten, Observierten, Kontrollierten, Berufsverbotenen und gerade noch dem Staat Entflohenen misslang. Unrecht Gut gedeihet nicht. Gerhard Urbach und seine Frau besuchte ich im Juni 2003 in Dresden-Radebeul. Er hatte eben von der Erhöhung seiner geringen Monatsrente um etwas über zweihundert Euro erfahren und gleichzeitig eine ihm längst zustehende Nachzahlung erhalten. Keine horrende Prämie für den lebenslänglich zum Hilfsarbeiter degradierten Mann mit Philosophie-Diplom. Wir sitzen im etwas engen Wohnzimmer, die offene Terrasse mit Sonnenschirmen gegen die flirrende Hitze abgesichert. In Dresden hat es seit Wochen nicht mehr geregnet. Urbach kommt auf unsere letzte Leipziger Begegnung im Herbst 1955 zu sprechen und setzt den damals unterbrochenen Dialog exakt an der abgerissenen Stelle fort, ganz so als läge nicht die Kleinigkeit vergangener achtundvierzig Jahre dazwischen. Der 1957 repressierte Bloch-Schüler war in jahrzehntelangem Trotz zum Experten und exzellenten Kenner Blochscher Philosophie gereift. Fast ein halbes Jahrhundert hindurch musste er mit sachfremden, ungeliebten Arbeiten verbringen, der Selbstbewahrung halber das Werk des Meisterlehrers rekapitulierend und zum insgeheimen Meisterschüler reifend. Um keinen Tricks aufzusitzen, gefiel ich mir in einigen Fragen wie der nach Marxens Doktorarbeit und den Vorsokratikern. Kaum hatte ich angesetzt mit »Über die Differenz zwischen der demokritischen und epikureischen Naturphilosophie«, sprach er blitzschnell die letzten sechs Worte mit. Bloch hatte stets die Differenz betont, denn mit Epikurs Abweichung der Atome im freien Fall des »Atomregens« taucht das »Subjekt« auf, von Urbach sofort als »Natursubjekt« definiert, was mir fremd bleibt, weil mein rigider Atheismus Mystifikationen wittert. Mir liegt nur daran, mit dem Begriff den personalen, individuellen Menschen samt seiner Freiheit zu verbinden. So exakt Gerhard Urbach seinen Bloch der frühen Jahre bewahrt, so wenig kümmern ihn spätere Begebnisse und Diskussionen. Für ihn existiert allein der Philosoph, den er damals kennengelernt hatte. 1988, ein Jahr vorm DDR-Ende, äußerte er beiläufig zu einer Bibliothekarin, über Bloch sei »das letzte Wort noch lange nicht gesprochen«, wobei ihm ein ebenfalls im Raum befindlicher Vorgesetzter entging, der ihn tags darauf in sein Büro beordern ließ und verwarnte. Der 1957 von der Universität Jena verwiesene Diplom-Philosoph und heutige siebenundsiebzigjährige Rentner erzählte mir den Vorfall von 1988 mit einer Gelassenheit, um die ich ihn beneidete. Danach holte er Band III von Blochs Prinzip Hoffnung herbei, den er vom Autor geschenkt bekommen hatte, signiert mit der Widmung: »Freund Urbach in herzlicher Gesinnung – 21.II.59 Ernst Bloch« Die reale Reliquie bestärkte den Trotz des Berufsverbotenen. Seine unerschütterbare Klassizität mag ein Brief vom 20.1.03 zeigen, in dem Urbach schreibt: »Trotzki: ›Wir haben den Kapitalismus überall dort besiegt, wo es ihn noch gar nicht gab.‹ Urbach: Das westlich-kapitalistische System hat einen Sozialismus besiegt, der niemals einer war. These: Nach Maßgabe der hegelsch-marxschen Revolutionstheorie hat noch nirgends in der Welt eine Sozialistische Revolution stattgefunden. Weder in Russland noch in Deutschland noch in Ungarn oder sonst wo …« Soviel zu Urbach, von dem ich erst durch die Leipziger Volkszeitung im August 2002 erfuhr und über den Ingrid und ich fast fünfzig Jahre lang nichts gehört hatten. Das führt direkt zur Frage nach der Differenz. War für Marx das Proletariat das revolutionäre Subjekt der Industriegesellschaft, übernahm Bloch zwar die Revolutionstheorie, wandte sich als halber Nietzscheaner aber stärker dem einzelnen Menschen zu, dessen Existenzform bis zur mentalen Verfasstheit in den Mittelpunkt des Interesses rückend. Diese Verinnerlichung ist es, die Bloch sowohl zum Nachfolger von Marx wie Nietzsche werden lässt. Da das Proletariat mit dem Ende der Industriegesellschaft selbst marginalisiert wird, ist der Platz des revolutionären Subjekts vakant oder, in der Sprache Arthur Koestlers gesagt, steht Gottes Thron leer. Bloch setzt auf ein individuelles Revolutionssubjekt – die revolutionäre Reformation ist angesagt oder auch nicht. Aus konservativer Sicht ergeben sich daraus neue Glaubenskriege. Bloch akzeptiert aber weder das Globalkapital noch den konservativen Marxismus, dem die revolutionäre Energie abhanden kam. Gefunden werden muss eine dritte Antriebskraft. Sprechen wir noch von Lothar Kleine, dem genialen Simultan-Schachspieler und lächelnden Schnelldenker, der die termini technici mit höflichster Ironie zu setzen pflegte und in einem Bloch-Seminar gezielt arglos die »reziproke Emanation« in eine »reziproke Animation« verwandelte. Der Philosoph hustete daraufhin beinahe seine Tabakspfeife aus, bevor er leicht irritiert Lothars Sprachwitz lobte. 1957 geriet Kleine unter Verdacht, weil er einige Tage bei uns in Dahme/Mark logierte, der kleinen brandenburgischen Stadt, wo Ingrids Eltern lebten, in deren Wohnung wir nach dem Weggang aus Leipzig Unterschlupf fanden. Dort rückten zwei Stasi-Leute wegen Günter Zehm an, der uns auch hatte besuchen wollen, jedoch gerade inhaftiert worden war. Lothar brachten wir in einer winzigen Dachkammer unter, dort hoch oben traktierte er seine Reiseschreibmaschine, die beiden Stasi-Herren witterten Untergrund. Vom Philosophischen Institut weg wurde Kleine zur Bewährung und Strafe in einen Gleisbautrupp bei den Leipziger Eisenbahnern abgeordnet, wo der hochaufgeschossene, dürre Ex-Student nicht gerade durch physische Fitness und Professionalität auffiel. Die geübten, kräftigen Streckenarbeiter wollten wissen, weshalb er zu ihnen gekommen sei. Lothars Antwort: »Weil ich die Differenz zwischen der demokritischen und der epikureischen Naturphilosophie nicht richtig einschätzte.« Die werktätigen Proletarier ließen sich die stringente Information mehrfach wiederholen und standen dem großen Kleine solidarisch bei, kam der mit Hacke und Schaufel nicht zurecht. Nach der Bewährung im Gleisbau schaffte er es zum Dozenten an der Leipziger Hochschule für Körperkultur. Ein achtbares Angebot Helmut Seidels zur Rückkehr ans Philosophische Institut schlug er aus. Kurz vor der Wiedervereinigung verstarb er an einem Krebsleiden. Wir sahen ihn nie wieder.
Ab September 1957 lebte ich erst in Westberlin, dann mit Ingrid und unserer Tochter Catharina am Rhein. Carola Stern nennt mich in ihrer Autobiographie Doppelleben, unsere in Köln verbrachte Zeit der sechziger Jahre charakterisierend, »grantig«. Es ist das mindeste zur Definition meines damaligen Lebensgefühls: dem Zugriff dunkler Gestalten entkommen, die Kerkermeister zu nennen noch zu höflich wäre, bedrückt wegen unserer in der DDR verbliebenen Freunde und Genossen – gerettet in ein Deutschland der wieder in Rang und Amt stehenden Schreibtischtäter und Kriegsverbrecher, die von Globke bis Gehlen als unverzichtbar oder gar Vorbilder gelten. Und wir hatten ein anderes Land schaffen wollen, wir glücklosen Bankrotteure. Wären uns im Osten nur halb so viele Hilfen zuteil geworden, wie sie der Westen von seinen Besetzern erfuhr, es wäre vieles anders gelaufen und der Herrschaft des Kapitals hielte heute ein demokratisierter sozialistischer Osten stand. Wie bei uns daheim gab es auch im Westen eine Opposition, deren Ziel nichts weniger als ein erneut aufrüstender Staat sein sollte. War alles vergeblich? Wo sind sie geblieben: Der Pazifist Gustav Heinemann, der im Zweifelsfall linke Augstein, der tapfere Wolfgang Abendroth (das sogenannte Unterschriften-Kartell von Abendroth bis Zwerenz ...), die Adorno und Horkheimer bis Haffner und Dutschke, die furchtlosen Christen Niemöller und Gollwitzer, die jüdischen Exilanten Jean Amery, Ludwig Marcuse, Erich Fried, Fritz und Leo Bauer, Robert Neumann, der KZ-Häftling Eugen Kogon – verstorben, vergessen? Aus dem Gedächtnis getilgt im Rausch kriegerischer Normalisierung? Sind nur eifernde Zwerge übrig, behelmte Schwachköpfe und reichtumsgeile Kapitalraffer? Ich frage ja nur. Am 13. Dezember 2007 beklagte die FAZ per Leitartikel die »Wiederauferstehung des Antifaschismus« und »damit des Geistes der DDR.« Hier verfehlte das Blatt die DDR samt Antifaschismus. Offen bleibt, ob blanke redaktionelle Unwissenheit oder postfaschistischer Ungeist am Werke ist. Jeder macht seine eigenen Erfahrungen. In den sechziger Jahren wohnten wir in Köln. Wegen einer meiner unpassenden antimilitaristischen Äußerungen aufs Polizeipräsidium bestellt, sah ich keinen Grund zur Abbitte, da verlor ein älterer Beamter, offensichtlich der Chef und wohl schon unter Hitler im Dienst, die Nerven und polterte, ich sei wohl ein Kommunist wie Brecht und Böll. Zur Ehre der anwesenden jüngeren Polizisten sei angemerkt, sie blickten erst betreten drein und suchten dann zu vermitteln. Es war die Häufung solcher Erlebnisse, die mich die Wendung der 68er gegen ihre Väter verstehen und begrüßen ließ. Zwar waren es nicht meine Väter, doch entdeckte ich sie in Köln wie im benachbarten Bonn. Eine Kooperation mit den Spitzen und Amtsträgern dieser unaufgeklärten postnazistischen Bonner Staatsgesellschaft war nicht mein Ding. Dagegen setze ich meine linke sächsische Tradition. Doch was an Sachsen ist heute noch links? Als erstes schlage ich vor, die Materialien der Ausstellung Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941 bis 1944, die vor einem Jahrzehnt bundesweit für Aufsehen und Aufklärung sorgte, bis sie hinter verschlossenen Kellertüren in Hamburg verschwand, nach Leipzig zu holen und das Völkerschlachtdenkmal als Ort und Archiv einer Dauerausstellung zu nutzen. Der gegen die Ignoranz unserer sächsischen Geschichte gerichtete vollständige Vorschlag für Leipzig von Ingrid und Gerhard Zwerenz, der in der Zeitschrift Ossietzky/Heft 11 am 28.3.05 erschien, ist im poetenladen gesondert einzusehen (Vorschlag für Leipzig ). Am Montag, den 7. April 2008, erscheint das nächste Kapitel.
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Gerhard Zwerenz
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