Wo liegt Bad Gablenz?
Urplötzlich wird mein frühes Büchlein Das Großelternkind verlangt. Originalausgabe 1978 Beltz-Verlag. Fischer-TB 1980. Ausgabe letzter Hand Dingsda- Verlag 1996 mit vier Zusätzen über das Wann, Warum, Wie, Wo. Die Ausgaben 1 und 2 sind vergriffen für immer und ewig. Die Dingsda-Ausgabe ist lieferbar. Den Ort Gablenz personalisierte ich in meinem 1. Pseudonym, das schon in der DDR benutzt wurde. Gert Gablenz heißt mein Schatten, das lose Maul. Neulich erhielt ich per E-Mail vom heute noch dort ansässigen Ingenieur Andreas Molder eine Luftaufnahme meiner Geburtsheimat. Fortan spreche ich von Bad Gablenz. Wo aber liegt es? An zwei Teichen. Also ist Gablenz 1. ein Pseudonym und 2. Bad Gablenz an den zwei Teichen. Das Haus, in dem ich zur Welt kam, steht mit dem nördlichen Giebel nahe am Kirchturm. Der kleine Queranbau ist der Schuppen, in dem mein Großvater bastelte und schnitzte. In Verlängerung zur Kirche steht als größtes Gebäude die Dorfschule, über deren Dach das Pfarrhaus zu sehen ist. Nicht sichtbar, weil vom rechten Bildrand abgeschnitten, ist das alte Häuschen der Familie May, wo der Widerstandskämpfer Alfred Eickworth in der Not heimlich als Friseur arbeitete. Mein Kindskopf kostete 5 oder 10 Pfennig pro Ponyschnitt. Als Soldat im Strafbataillon 999 desertierte Eickworth 1943 auf einer griechischen Insel und wurde im Schusswechsel mit verfolgenden Wehrmachtsstreifen tödlich verwundet. Um die Kirche, von der die Luftaufnahme dominiert wird, gruppieren sich sieben Gebäude als Ortskern. Die Häuser und ihre paar Dutzend Bewohner bilden die Erfahrungswelt meiner ersten sechs Lebensjahre. Das Foto entstand kurz nach der Wende. Die Fassaden sehen grau aus. Den nordwestlichen Bildteil nehmen die zwei Teiche ein, die mich animieren, von Bad Gablenz zu sprechen. Der Ort ist eine sächsische Urzelle ländlicher Industriekultur. Von altersher ein Bauerndorf, verwandelten die Landarbeiter sich in Textil- und Metallarbeiter. Zu Fuß oder per Fahrrad ging es frühmorgens in die Fabriken der nahen Stadt Crimmitschau, die bald Arbeiterdörfer wie Gablenz schluckte. Zwischen der Häusergruppe und den Teichen führt der baumbestandene Pfarrweg entlang. Als wir 1976 nach einem fast zwei Jahrzehnte andauernden Einreiseverbot endlich die Besuchserlaubnis erhielten, parkte ich den Wagen vorn an der Straße und ging über den Pfarrweg bis zur Höhe meines Geburtshauses. In den Folgen 33 und 83 zitiere ich aus dem Protokoll, in dem unsere geheimen Überwachungsoffiziere sich wunderten, warum ich dort pausierte. Welch ein Rätsel. Ich genoss den Blick auf den Ort früher Kindheit. Der Pfarrweg war mein Spielplatz gewesen. Außerdem fuhr Großvater Franz 1933 nach dem Reichstagbrand mit dem Handwagen die politisch anstößigsten Bücher den Weg entlang in den nahen Wald, wo sie bei Nacht, geborgen in einem Blechbehälter, vergraben wurden. Ich stellte mir beim ersten DDR-Besuch vor, jetzt einen Spaten in der Hand zu haben, um die verbuddelten Bände zu bergen. Wären die beiden geheimen Späher eingeschritten? Welch ein gefundenes Fressen, außer Marx, Lenin, Stalin ist Trotzki dabei gewesen. Schlagzeile: „Eingereister Revisionist als Trotzkist entlarvt …“ Ich dachte an die 43 Jahre früher vergrabenen Bücher, hatte aber keinen Spaten im Auto. Seitab das kleine Gewässer heißt Weißbach, wird aber als „die Weißbach“ bezeichnet. Hier trafen sich ab Mitte 1933 Abgesandte der ersten westsächsischen Widerstandsgruppe, die ein Jahr lang aktiv blieb, bis sie 1934 aufflog. 165 Festnahmen, sechs in Gablenz.
Im Jahr 1957 feierte Arnold Zweig seinen 70. Geburtstag. Im Greifen Almanach des Rudolstädter Greifenverlages erschien mein Glückwunsch:
Die Weiheit ist tausend Jahre alt
Da wird also einer siebzig Jahre alt. Als Gratulant müsste man nun dezidieren, das sei noch gar kein Alter, und der Jubilar komme einem immer viel jünger vor, usw. Machen wir einen dicken Strich durch das Gratulationsprotokoll, ich gestehe, Arnold Zweig kam mir immer viel älter vor. Es überrascht und bedrückt mich, diesen Zweig erst jetzt siebzig werden zu sehen.
In einem unscheinbaren Haus, oben auf dem spinnwebigen Boden, stand eine riesige Lade. In ihr, verschlossen, Bücher. Ich gelangte zum Schlüssel und las als Schulbub, was zu jenen Zeiten nicht nur für Schulbuben sekretiert war. Was auf den vielen Seiten stand, verstand ich wenig. Immerhin, ich wusste ums Verbot, und das half mir, die Seiten, die ich nicht verstand, zu überlesen. Sonst aber ging's in diesen Büchern bunt zu. Eins handelte von einem gewissen Sergeanten Grischa, und ein Bertin geisterte durch die Seiten. Der eine war ein Russe und der andere ein Deutscher, doch bei aller Grundverschiedenheit ähnelten sie manchmal einander. Ich reihte sie ein zwischen die andern, die ich noch kennenlernte in den Büchern, und all die Gestalten vermengte ich nochmals mit meinen legalen Helden. So standen mir schließlich Lederstrumpf und Grischa, Professor Unrat und Old Firehand, Bertin und Struwwelpeter durcheinander, und noch Schlimmeres geschah mit den Autoren.
Leider lagen alle diese Geschichten lange zurück. Lederstrumpf gab es nicht mehr, auch dieser Grischa hatte im Weltkrieg gelebt; eine Zeit, lange vorbei, fast zwanzig Jahre. Da geschah das Unverständliche. Ein zweiter Weltkrieg kam auf. Danach lag mein Grischa plötzlich ganz öffentlich in den Schaufenstern der Buchläden. Ohne Schlüssel, ohne Koffer, ohne spinnwebvollen Boden ging das zu, man konnte ihn einfach kaufen. Ich las ihn wieder, und auch seine Brüder dazu. Und eines Tages geschah das Bestürzende, der Mann, der das alles geschrieben hatte, lebte noch und kam, wie die drei Weisen, aus dem Morgenlande. Da war der erste Weltkrieg so weit zurück gewesen, der Grischa so verboten, der Verfasser bestimmt längst vergangen – und nun rückten erster und zweiter Weltkrieg ineinander, Grischa in die Gegenwart, und sein Dichter stand richtig lebendig vor mir.
Warst du dumm, denk ich nun manchmal, aber ich tröst mich, ich war's nicht allein. Sie hatten ein dunkles Tuch über uns geworfen, damit wir nichts sähen und im Schatten säßen, und wir sahen nichts und saßen im Schatten, und nur selten fand sich einer, das Tuch anzuheben. Dann blinzelten wir durch den Spalt zur Sonne, nach der wir uns, ohne zu wissen, sehnten. Nun ist der Mann also erst siebzig. Und weil es not tut, verteidigt er den Roman. Das ist kein Wunder. Der Romancier verteidigt im Roman seine Wahrheit.
Unsere Zeit soll für den Roman nicht mehr gut sein?
Der Roman gehört der Vergangenheit an?
Aber beweisen Grischa, Junge Frau, Verdun und Einsetzung nicht das strikte Gegenteil? Zweigs Romane protestieren gegen die Verurteilung des Romans. Zweig selbst verteidigt ihn in Rede und Schrift. Der Roman ist und bleibt Mund seiner Zeit, sagt er. Und wenn eine Zeit nicht durch ihn sprechen will, hat sie vielleicht nur nichts mehr zu sagen. Aber eine neue Zeit um so mehr. Eine neue Zeit wird den Roman erst zum Roman machen. Ein schier chiliastischer Glaube an den Roman.
Die Jungen hören zu und nicken, wenn sie an Zweigs Romane denken. Klassik ist das. Eben, Klassik ist es. Und dann meinen die Jungen, es sei jetzt keine Zeit für Klassik. Sie schreiben Erzählungen, Essays, Gedichte, sogar Romane, aber keine Klassik. Manche, wenige vorerst noch, schreiben vielleicht in ihrer Art schon fast klassisch. Aber keine Klassik.
Und sie lesen Zweig und nicken mit dem Kopf; da ist Klassik und da ist auch unsere Zeit. Sie legen den Roman weg und denken: Aber es ist gar nicht mehr unsere Zeit, und unsere Zeit kennt keine Klassik und ist gegen den Roman. Es ist eine Zeit des Anfangs.
Der große Meister mag es verstehen, er muss es verstehen, wie er die Kreatur verstand und aussprach ihren Schmerz und ihre Erfahrung. Es sind verschiedene Gründe, wenn welche gegen den Roman und seine Klassik sind. Und die Jungen sind oft dagegen, weil sie jung sind. Vielleicht auch ein wenig wegen der anderen Zeit. Vielleicht.
Aber zwischendurch, trotz oder wegen Jugend und anderer Zeit, lesen sie Zweig.
Denn die Weisheit ist tausend Jahre alt und diese lächerliche Siebzig nur eine dumme Verleumdung. (Zitatende)
Kann das Wort Sprachgitter durchbrechen? Ich genoss das Glück der Geburt an einem widerständigen Ort. Im Bett liegend stieß ich mit den Füßen an eine Seemannslade mit Büchern und lernte lesen, bevor in der Schule das Schreiben hinzutrat. Diese besondere Bodenkammer-Bibliothek von Gablenz lieferte die nötigen Verteidigungsenergien. Als Hans Mayer Anfang der fünfziger Jahre an der Leipziger Karl-Marx-Universität Arnold Zweig behandelte, profitierte ich von der frühen Lektüre. Eine Reihe weltberühmter verfolgter Prosabände nahm den Platz stinkbürgerlicher Bücherschränke ein. Wie wertvoll doch eine gute plebejische Kinderstube sein kann.
Am 5. Juni 2009 besuchte US-Präsident Obama zielbewusst die KZ-Gedenkstätte Buchenwald. Schon einen Tag später widmete die Frankfurter Allgemeine Zeitung dem Ereignis eine ganze Seite unter dem programmatischen Titel „Himmel und Hölle“. Der seinen Präsidenten begleitende Buchenwaldhäftling und Schriftsteller Elie Wiesel sprach ergreifende Trauerworte für seinen Vater, der in Buchenwald sterben musste. Die Obama ebenfalls begleitende Bundeskanzlerin Merkel war bar jeder Erinnerung an den deutschen Kommunisten Ernst Thälmann, der auf Hitlers Befehl nach zehnjähriger Haft im August 1944 nach Buchenwald gebracht und erschossen worden ist. Dabei trug sie einst das blaue Halstuch der Thälmann-Pioniere. Die FAZ weiß oder meldet davon auch nichts, denn die deutsche Gedächtniskultur ist und bleibt geteilt. Die bürgerlichen Märtyrer kommen in den Himmel, die anderen fahren zur proletarischen Hölle. Dieser Thälmann hatte 1933 vorausgesagt, Stalin werde Hitler das Genick brechen. Auf frühe Wahrheit folgt hierzulande Todesstrafe und kollektives Vergessen.
Das Großelternkind Schlusskapitel:
Irgendwann werde ich durchs Historische Museum gehen und auf eine Ausstellung Arbeiterwohnung im Jahr 1925 stoßen – ich werde mein Milieu ausgestellt finden: 2 Betten zusammengerückt, an den Kopfenden zu beiden Seiten außen je 1 Stuhl, in besser situierten Familien Nachttischchen, darinnen je 1 Nachttopf. Im Schlafzimmer außerdem 1 Kleiderschrank, 1 Ofenbank, darunter der Eimer für den Abguss, wie das Schmutzwasser hieß. Auf dem Eimer 1 Schüssel, die als Waschschüssel diente. Bei Leuten mit etwas mehr Geld statt der Ofenbank 1 Kommode mit Marmorplatte, darauf die Waschgarnitur aus emailliertem Blech oder Steingut. Im Wohnzimmer: 1 Sofa, 1 Tisch. 4 Stühle, 1 Schrank. Die andere Seite des Wohnraums als Küche eingerichtet: 1 Küchentisch, 2 Stühle. 1 Etagenofen aus Gußeisen, 1 Ofenbank mit zwei Eimern fürs Wasser, darüber das Nesel.
Mehr brauchte der Arbeitermensch nicht.
Für einen flüchtigen Augenblick wird das Publikum verhalten. Ah, siehe da. So lebten die damals in der Vorgeschichte der Menschheit. Mit Schaudern erkenne ich, die Leute machen keinen Unterschied zwischen den Generationen. Meine Urgroßeltern, Großeltern, Eltern und ich sind den Zuschauern zu einer einzigen Vergangenheit verschmolzen. Die Verschiedenheiten und Unterschiede, unsere guten Gedanken und schlechten Gefühle, unsere Gerüche, Ängste, Genüsse, Gebärden und Träume sind dahin. Wir werden von Unwissenden besichtigt, wie wir zu unserer Zeit im Museum Hausrat und Figuren aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges besichtigten. Aber, rufe ich erregt aus, das war doch alles ganz anders und so lebendig - doch ich bringe keinen einzigen auch nur andeutenden Laut hervor. Keine winzige Bewegung will mir gelingen. Ich stehe, als Figur aus Holz und Pappe, im Historischen Museum, Abteilung Arbeiterfamilie im Jahre 1925 – und bin ein Fossil. (Zitatende)
„Heutzutage nimmt vor allem der Konsum von dummen oder idiotischen Büchern zu“ lautet der erste Satz des Kapitels über meine Gablenzer Bodenkammer-Bibliothek in Weder Kain noch Abel, wo Jürgen Reents mich danach befragt. Tatsächlich wirft die krisengeplagte Buch-Industrie immer mehr gefällig und unwiderstehlich ausgestattete Vorhöllen des neuen Analphabetismus auf den Markt. Gesponserte Denkfabriken lassen anal denken und mit dem Kopf scheißen. So will's die Unterwelt ihrer Übermenschenklasse. Aber: „O meine Brüder, es ist viel Weisheit darin, dass viel Kot in der Welt ist.“ (Nietzsche) Was Buchfabriken an Ausschuss produzieren, kann heute im Web angeprangert werden, finden sich hinreichend revoltierende Charaktere, die das feuilletonistische Geplapper in die „hauseigenen Pissrinnen“ (Ernst Jünger) zurückschicken.
Bad Gablenz, wie ich es beschreibe, liegt im Paradies meiner Kindheit. Die es nicht erkennen, leben ausgeschlossen. Von den mehr als 200 Büchern, aus denen ich überleben lernte, auch wenn deutsche Helden regierten oder unbekehrte Nachfolgekrieger weiterregieren, stehen noch heute jene Exemplare, die 1933 nicht im Wald vergraben werden mussten, in meinen Arbeitsräumen. Ich brauche keine Bibel, obwohl sich's auch daraus gut zitieren lässt. Als Obama das KZ Buchenwald besuchte, das von meinem Heimatort aus gesehen im nahen Thüringer Land liegt, erwiesen die Medien ihre horrende Unzuständigkeit. Offenbar gilt ihnen Thälmann als Beweis des verordneten Antifaschismus. Die Herrschaften schwänzten wohl, als in ihrer Schule Der SS-Staat von Eugen Kogon durchgenommen wurde, oder fühlten nie das Bedürfnis, die Lektüre aus eigenem Antrieb nachzuholen. Eckart Spoo in Ossietzky, Nr.12, 2009: „Errichten wir erst einmal ein Zentrum gegen Heuchelei!“
Als Schuljunge ging ich oft zu meiner Mutter zum Mittagessen in die Textilfabrik Göldner, wo sie arbeitete. Frau Schubert, eine Kollegin meiner Mama, flüsterte: Gerhard, ich darf es nicht sagen, die machen uns unsere Männer kaputt! Ihr Mann, der krank aus Buchenwald zurückgekehrt war, starb kurze Zeit später. Die Anzahl der Toten von Buchenwald ist bekannt. Von einer viertel Million Häftlingen kam jeder fünfte ums Leben. Die Zahl derer, die nach der Entlassung starben, ist unbekannt. Bei meinen Lesungen verdeutlichte ich es oft mit dem Schicksal Carl von Ossietzkys, der bald, nachdem er wegen internationaler Proteste freigekommen war, den Folgen der KZ-Haft erlag. Inzwischen sind wir in Deutschland kulturell soweit fortgeschritten, dass man erst erklären muss, wer Ossietzky war. Noch etwas ist zu klären – in den Medien wird Obamas Buchenwaldbesuch mit dem Holocaust in Verbindung gebracht. Buchenwald aber gehörte nicht zu den Vernichtungslagern. Es war ein sogenanntes normales deutsches KZ, die Bundeskanzlerin schloss sich der von Obama aus familiärem Interesse gewünschten Besichtigung der antifaschistischen Gedenkstätte an. Zu Thälmanns Erschießung in Buchenwald aber leistete Stalin Beihilfe, der nach Moskau geflohene deutsche Genossen an Hitler auslieferte, und selbst beim deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom August 1939 darauf verzichtete, Thälmanns Freilassung zu verlangen. Wer einen Trotzki zu ermorden befiehlt, überlässt auch einen Thälmann dem deutschen Führer.
Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 29.06.2009.
|
Gerhard Zwerenz
Serie
Nachworte
Aufsatz
|