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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Folge 84

Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

84

Wo liegt Bad Gablenz?


 Luftaufnahme von Gablenz, etwa aus dem Jahr 1990


Urplötzlich wird mein frühes Büchlein Das Groß­eltern­kind verlangt. Ori­ginal­ausgabe 1978 Beltz-Verlag. Fischer-TB 1980. Ausgabe letzter Hand Dingsda- Verlag 1996 mit vier Zusätzen über das Wann, Warum, Wie, Wo. Die Ausgaben 1 und 2 sind vergriffen für immer und ewig. Die Dingsda-Ausgabe ist lieferbar. Den Ort Gablenz personalisierte ich in meinem 1. Pseudonym, das schon in der DDR benutzt wurde. Gert Gablenz heißt mein Schatten, das lose Maul. Neulich erhielt ich per E-Mail vom heute noch dort ansässigen Ingenieur Andreas Molder eine Luft­aufnahme meiner Geburts­heimat. Fortan spreche ich von Bad Gablenz. Wo aber liegt es? An zwei Teichen. Also ist Gablenz 1. ein Pseudonym und 2. Bad Gablenz an den zwei Teichen. Das Haus, in dem ich zur Welt kam, steht mit dem nördlichen Giebel nahe am Kirchturm. Der kleine Queranbau ist der Schuppen, in dem mein Großvater bastelte und schnitzte. In Verlängerung zur Kirche steht als größtes Gebäude die Dorfschule, über deren Dach das Pfarrhaus zu sehen ist. Nicht sichtbar, weil vom rechten Bildrand abgeschnitten, ist das alte Häuschen der Familie May, wo der Widerstandskämpfer Alfred Eickworth in der Not heimlich als Friseur arbeitete. Mein Kinds­kopf kostete 5 oder 10 Pfennig pro Pony­schnitt. Als Soldat im Strafbataillon 999 desertierte Eickworth 1943 auf einer griechischen Insel und wurde im Schusswechsel mit verfolgenden Wehr­machts­streifen tödlich verwundet. Um die Kirche, von der die Luftaufnahme dominiert wird, gruppieren sich sieben Gebäude als Ortskern. Die Häuser und ihre paar Dutzend Bewohner bilden die Erfahrungs­welt meiner ersten sechs Lebensjahre. Das Foto entstand kurz nach der Wende. Die Fassaden sehen grau aus. Den nordwest­lichen Bildteil nehmen die zwei Teiche ein, die mich animieren, von Bad Gablenz zu sprechen. Der Ort ist eine sächsische Urzelle ländlicher Industrie­kultur. Von altersher ein Bauerndorf, verwandelten die Landarbeiter sich in Textil- und Metallarbeiter. Zu Fuß oder per Fahrrad ging es frühmorgens in die Fabriken der nahen Stadt Crimmitschau, die bald Arbeiter­dörfer wie Gablenz schluckte. Zwischen der Häuser­gruppe und den Teichen führt der baumbestandene Pfarrweg entlang. Als wir 1976 nach einem fast zwei Jahrzehnte andauernden Einreiseverbot endlich die Besuchs­erlaubnis erhielten, parkte ich den Wagen vorn an der Straße und ging über den Pfarrweg bis zur Höhe meines Geburtshauses. In den Folgen 33 und 83 zitiere ich aus dem Protokoll, in dem unsere geheimen Überwachungsoffiziere sich wunderten, warum ich dort pausierte. Welch ein Rätsel. Ich genoss den Blick auf den Ort früher Kindheit. Der Pfarrweg war mein Spielplatz gewesen. Außerdem fuhr Großvater Franz 1933 nach dem Reichstagbrand mit dem Handwagen die politisch anstößigsten Bücher den Weg entlang in den nahen Wald, wo sie bei Nacht, geborgen in einem Blechbehälter, vergraben wurden. Ich stellte mir beim ersten DDR-Besuch vor, jetzt einen Spaten in der Hand zu haben, um die verbuddelten Bände zu bergen. Wären die beiden geheimen Späher eingeschritten? Welch ein gefundenes Fressen, außer Marx, Lenin, Stalin ist Trotzki dabei gewesen. Schlagzeile: „Eingereister Revisionist als Trotzkist entlarvt …“ Ich dachte an die 43 Jahre früher vergrabenen Bücher, hatte aber keinen Spaten im Auto. Seitab das kleine Gewässer heißt Weißbach, wird aber als „die Weißbach“ bezeichnet. Hier trafen sich ab Mitte 1933 Abgesandte der ersten westsächsischen Widerstandsgruppe, die ein Jahr lang aktiv blieb, bis sie 1934 aufflog. 165 Festnahmen, sechs in Gablenz.
Gablenz, historische Aufnahme
Zurück zur Bildbeschreibung. Die sieben Häuser plus Pfarr­haus und Kirche sind in mein Kind­heits­gedächt­nis eingebrannt. Der Lehrer, Schulleiter und zugleich Kantor hieß Janker. Sonntags predigte der Pastor, der Kantor spielte Orgel, ich lauschte und spähte als wissbegieriges Nachbarskind. Mein Großvater Franz zählte im Schnitt sieben Bauers­frauen als Besuche­rinnen des Gottes­dienstes, das Arbeiter­dorf hatte andere Sorgen. Ich sah auch zwei Männer, die an manchen Sonntagen teilnahmen. Auf unserem kleinen Berg, dieser Insel zwischen Kirche, Teichen und Wald wohnten Arbeiter, Hand­werker und Rentner. Kleine Leute eben, eine Zelle sächsischer Landes­struktur. Ringsum vitalisierten Textilfabriken, Bergbau, Metallindustrie ein Gebiet mit festumrissenen Grenzen. Die Schwer­punkte bildeten DKW, Horch, Auto-Union in Zwickau, das fleißige Chemnitz samt Erzgebirge und der Braun­kohle­tagebau südlich Leipzig. Monopole und Kartelle wie im Ruhrgebiet fehlten, ohne zu fehlen. Ein Kleine-Leute-Land, aber mit Köpfchen. Aus Gablenz wurde nicht Bad Gablenz? Es hätte sich dazu entwickeln können. Meine Phantasie speist sich aus seinen Menschen und den 200 verheim­lichten Büchern in der Boden­kammer meines Geburtshauses. Die Weimarer Republik war ein Leseland. Der ursächsische Ludwig Renn hatte 1929 mit seinem Antikriegsbuch KRIEG laut meinem Exemplar eine Auflage von hundertausend erreicht. Die deutsche Geschichte wäre friedvoller verlaufen, hätte nicht Preußen über Sachsen gesiegt. Zu spät kam der Versuch, die DDR als Großsachsen zu integrieren. Die feindlichen Krieger wollten unbe­dingt ihr Berliner Hohen­zollernschloss wieder aufbauen. Irgendein Kaiser Friedrich oder Wilhelm wird auch noch auferstehen. Kuckuck rufts aus dem Sarkophag. Ulbrichts Bart war nicht wilhelminisch genug. Und für einen Bart à la Marx waren Haare und Stimme zu dünn.
Im Jahr 1957 feierte Arnold Zweig seinen 70. Geburtstag. Im Greifen Almanach des Rudolstädter Greifenverlages erschien mein Glückwunsch:
Die Weiheit ist tausend Jahre alt

Da wird also einer siebzig Jahre alt. Als Gratulant müsste man nun dezidieren, das sei noch gar kein Alter, und der Jubilar komme einem immer viel jünger vor, usw. Machen wir einen dicken Strich durch das Gratulations­protokoll, ich gestehe, Arnold Zweig kam mir immer viel älter vor. Es überrascht und bedrückt mich, diesen Zweig erst jetzt siebzig werden zu sehen.
In einem unscheinbaren Haus, oben auf dem spinnwebigen Boden, stand eine riesige Lade. In ihr, verschlossen, Bücher. Ich gelangte zum Schlüssel und las als Schulbub, was zu jenen Zeiten nicht nur für Schulbuben sekretiert war. Was auf den vielen Seiten stand, verstand ich wenig. Immerhin, ich wusste ums Verbot, und das half mir, die Seiten, die ich nicht verstand, zu überlesen. Sonst aber ging's in diesen Büchern bunt zu. Eins handelte von einem gewissen Sergeanten Grischa, und ein Bertin geisterte durch die Seiten. Der eine war ein Russe und der andere ein Deutscher, doch bei aller Grundverschiedenheit ähnelten sie manchmal einander. Ich reihte sie ein zwischen die andern, die ich noch kennenlernte in den Büchern, und all die Gestalten vermengte ich nochmals mit meinen legalen Helden. So standen mir schließlich Lederstrumpf und Grischa, Professor Unrat und Old Firehand, Bertin und Struwwelpeter durcheinander, und noch Schlimmeres geschah mit den Autoren.
Leider lagen alle diese Geschichten lange zurück. Lederstrumpf gab es nicht mehr, auch dieser Grischa hatte im Weltkrieg gelebt; eine Zeit, lange vorbei, fast zwanzig Jahre. Da geschah das Unverständliche. Ein zweiter Weltkrieg kam auf. Danach lag mein Grischa plötzlich ganz öffentlich in den Schau­fenstern der Buchläden. Ohne Schlüssel, ohne Koffer, ohne spinnwebvollen Boden ging das zu, man konnte ihn einfach kaufen. Ich las ihn wieder, und auch seine Brüder dazu. Und eines Tages geschah das Bestürzende, der Mann, der das alles geschrieben hatte, lebte noch und kam, wie die drei Weisen, aus dem Morgenlande. Da war der erste Weltkrieg so weit zurück gewesen, der Grischa so verboten, der Verfasser bestimmt längst vergangen – und nun rückten erster und zweiter Weltkrieg ineinander, Grischa in die Gegenwart, und sein Dichter stand richtig lebendig vor mir.
Warst du dumm, denk ich nun manchmal, aber ich tröst mich, ich war's nicht allein. Sie hatten ein dunkles Tuch über uns geworfen, damit wir nichts sähen und im Schatten säßen, und wir sahen nichts und saßen im Schatten, und nur selten fand sich einer, das Tuch anzuheben. Dann blinzelten wir durch den Spalt zur Sonne, nach der wir uns, ohne zu wissen, sehnten. Nun ist der Mann also erst siebzig. Und weil es not tut, verteidigt er den Roman. Das ist kein Wunder. Der Romancier verteidigt im Roman seine Wahrheit.
Unsere Zeit soll für den Roman nicht mehr gut sein?
Der Roman gehört der Vergangenheit an?
Aber beweisen Grischa, Junge Frau, Verdun und Ein­setzung nicht das strikte Gegenteil? Zweigs Romane protestieren gegen die Verurteilung des Romans. Zweig selbst verteidigt ihn in Rede und Schrift. Der Roman ist und bleibt Mund seiner Zeit, sagt er. Und wenn eine Zeit nicht durch ihn sprechen will, hat sie vielleicht nur nichts mehr zu sagen. Aber eine neue Zeit um so mehr. Eine neue Zeit wird den Roman erst zum Roman machen. Ein schier chiliastischer Glaube an den Roman.
Die Jungen hören zu und nicken, wenn sie an Zweigs Romane denken. Klassik ist das. Eben, Klassik ist es. Und dann meinen die Jungen, es sei jetzt keine Zeit für Klassik. Sie schreiben Erzählungen, Essays, Gedichte, sogar Romane, aber keine Klassik. Manche, wenige vorerst noch, schreiben vielleicht in ihrer Art schon fast klassisch. Aber keine Klassik.
Und sie lesen Zweig und nicken mit dem Kopf; da ist Klassik und da ist auch unsere Zeit. Sie legen den Roman weg und denken: Aber es ist gar nicht mehr unsere Zeit, und unsere Zeit kennt keine Klassik und ist gegen den Roman. Es ist eine Zeit des Anfangs.
Der große Meister mag es verstehen, er muss es verstehen, wie er die Kreatur verstand und aussprach ihren Schmerz und ihre Erfahrung. Es sind verschiedene Gründe, wenn welche gegen den Roman und seine Klassik sind. Und die Jungen sind oft dagegen, weil sie jung sind. Vielleicht auch ein wenig wegen der anderen Zeit. Vielleicht.
Aber zwischendurch, trotz oder wegen Jugend und anderer Zeit, lesen sie Zweig. Denn die Weisheit ist tausend Jahre alt und diese lächerliche Siebzig nur eine dumme Verleumdung. (Zitatende)
Kann das Wort Sprachgitter durchbrechen? Ich genoss das Glück der Geburt an einem widerständigen Ort. Im Bett liegend stieß ich mit den Füßen an eine Seemanns­lade mit Büchern und lernte lesen, bevor in der Schule das Schreiben hinzutrat. Diese besondere Boden­kammer-Bibliothek von Gablenz lieferte die nötigen Verteidigungs­energien. Als Hans Mayer Anfang der fünfziger Jahre an der Leipziger Karl-Marx-Universität Arnold Zweig behan­delte, profitierte ich von der frühen Lektüre. Eine Reihe weltberühmter ver­folgter Prosabände nahm den Platz stink­bürgerlicher Bücher­schränke ein. Wie wertvoll doch eine gute plebejische Kinderstube sein kann.
Das zu Ehren der Einheit ver­schwundene Deser­teurs­denkmal von Crimmitschau-Gablenz
An der Landstraße von Crimmitschau nach Gablenz stand beim Gasthaus Zur Sonne eine Scheune. 1934 war dort plötzlich in Rie­sen­letttern zu lesen: WÄHLT LISTE 3 – KPD – ERNST THÄLMANN. Die Aufmüpfigen in Sachsen regten sich. Als wärs ein Gedicht von Brecht, trat die Schrift immer deutlicher hervor, je öfter man sie übermalte. Am Ende ver­schwand die wider­ständige Scheune wie 1989/90 nach der deutschen Vereinigung das Denkmal für den von eigenen Leuten tot­geschos­senen Deserteur Eickworth.
Am 5. Juni 2009 besuchte US-Präsident Obama ziel­bewusst die KZ-Gedenk­stätte Bu­chen­wald. Schon einen Tag später widmete die Frankfurter Allgemeine Zeitung dem Ereignis eine ganze Seite unter dem programmatischen Titel „Himmel und Hölle“. Der seinen Präsidenten begleitende Buchen­wald­häftling und Schrift­steller Elie Wiesel sprach ergreifende Trauerworte für seinen Vater, der in Buchenwald sterben musste. Die Obama ebenfalls begleitende Bundes­kanzlerin Merkel war bar jeder Erinnerung an den deutschen Kommunisten Ernst Thälmann, der auf Hitlers Befehl nach zehnjähriger Haft im August 1944 nach Buchenwald gebracht und erschos­sen worden ist. Dabei trug sie einst das blaue Halstuch der Thälmann-Pioniere. Die FAZ weiß oder meldet davon auch nichts, denn die deutsche Gedächtnis­kultur ist und bleibt geteilt. Die bürgerlichen Märtyrer kommen in den Himmel, die anderen fahren zur prole­tarischen Hölle. Dieser Thälmann hatte 1933 vorausgesagt, Stalin werde Hitler das Genick brechen. Auf frühe Wahrheit folgt hierzulande Todes­strafe und kollektives Vergessen.
Gerhard Zwerenz | Das Großelternkind   Gerhard Zwerenz | Das Großelternkind   Gerhard Zwerenz | Das Großelternkind
Das Großelternkind: Beltz | Fischer | Dingsda Verlag
Das Großelternkind Schlusskapitel:

Irgendwann werde ich durchs Historische Museum gehen und auf eine Ausstellung Arbeiterwohnung im Jahr 1925 stoßen – ich werde mein Milieu ausgestellt finden: 2 Betten zusammengerückt, an den Kopfenden zu beiden Seiten außen je 1 Stuhl, in besser situierten Familien Nachttischchen, darinnen je 1 Nachttopf. Im Schlafzimmer außerdem 1 Kleiderschrank, 1 Ofenbank, darunter der Eimer für den Abguss, wie das Schmutzwasser hieß. Auf dem Eimer 1 Schüssel, die als Waschschüssel diente. Bei Leuten mit etwas mehr Geld statt der Ofenbank 1 Kommode mit Marmorplatte, darauf die Waschgarnitur aus emailliertem Blech oder Steingut. Im Wohnzimmer: 1 Sofa, 1 Tisch. 4 Stühle, 1 Schrank. Die andere Seite des Wohnraums als Küche eingerichtet: 1 Küchentisch, 2 Stühle. 1 Etagenofen aus Gußeisen, 1 Ofenbank mit zwei Eimern fürs Wasser, darüber das Nesel.
Mehr brauchte der Arbeitermensch nicht.
Für einen flüchtigen Augenblick wird das Publikum verhalten. Ah, siehe da. So lebten die damals in der Vor­geschichte der Mensch­heit. Mit Schaudern erkenne ich, die Leute machen keinen Unter­schied zwischen den Gene­rationen. Meine Urgroßeltern, Großeltern, Eltern und ich sind den Zuschauern zu einer einzigen Vergangen­heit verschmolzen. Die Verschieden­heiten und Unterschiede, unsere guten Gedanken und schlechten Gefühle, unsere Gerüche, Ängste, Genüsse, Gebärden und Träume sind dahin. Wir werden von Unwis­senden besichtigt, wie wir zu unserer Zeit im Museum Hausrat und Figuren aus der Zeit des Dreißig­jährigen Krieges besichtigten. Aber, rufe ich erregt aus, das war doch alles ganz anders und so lebendig - doch ich bringe keinen einzigen auch nur andeutenden Laut hervor. Keine winzige Bewegung will mir gelingen. Ich stehe, als Figur aus Holz und Pappe, im Histo­rischen Museum, Abteilung Arbeiterfamilie im Jahre 1925 – und bin ein Fossil. (Zitatende)
„Heutzutage nimmt vor allem der Konsum von dummen oder idiotischen Büchern zu“ lautet der erste Satz des Kapitels über meine Gablenzer Bodenkammer-Bibliothek in Weder Kain noch Abel, wo Jürgen Reents mich danach befragt. Tatsächlich wirft die krisengeplagte Buch-Industrie immer mehr gefällig und unwiderstehlich ausgestattete Vorhöllen des neuen Analphabetismus auf den Markt. Gesponserte Denkfabriken lassen anal denken und mit dem Kopf scheißen. So will's die Unterwelt ihrer Übermenschenklasse. Aber: „O meine Brüder, es ist viel Weisheit darin, dass viel Kot in der Welt ist.“ (Nietzsche) Was Buchfabriken an Ausschuss produzieren, kann heute im Web angeprangert werden, finden sich hinreichend revoltierende Charaktere, die das feuilletonistische Geplapper in die „hauseigenen Pissrinnen“ (Ernst Jünger) zurückschicken.
Bad Gablenz, wie ich es beschreibe, liegt im Paradies meiner Kindheit. Die es nicht erkennen, leben ausgeschlossen. Von den mehr als 200 Büchern, aus denen ich überleben lernte, auch wenn deutsche Helden regierten oder unbekehrte Nach­folge­krieger weiterregieren, stehen noch heute jene Exem­plare, die 1933 nicht im Wald vergraben werden mussten, in meinen Arbeitsräumen. Ich brauche keine Bibel, obwohl sich's auch daraus gut zitieren lässt. Als Obama das KZ Buchenwald besuchte, das von meinem Heimatort aus gesehen im nahen Thüringer Land liegt, erwiesen die Medien ihre horrende Unzu­ständigkeit. Offenbar gilt ihnen Thälmann als Beweis des verordneten Anti­faschismus. Die Herrschaften schwänzten wohl, als in ihrer Schule Der SS-Staat von Eugen Kogon durchgenommen wurde, oder fühlten nie das Bedürfnis, die Lektüre aus eigenem Antrieb nachzuholen. Eckart Spoo in Ossietzky, Nr.12, 2009: „Errichten wir erst einmal ein Zentrum gegen Heuchelei!“
Als Schuljunge ging ich oft zu meiner Mutter zum Mittagessen in die Textil­fabrik Göldner, wo sie arbeitete. Frau Schubert, eine Kollegin meiner Mama, flüsterte: Gerhard, ich darf es nicht sagen, die machen uns unsere Männer kaputt! Ihr Mann, der krank aus Buchenwald zurückgekehrt war, starb kurze Zeit später. Die Anzahl der Toten von Buchenwald ist bekannt. Von einer viertel Million Häftlingen kam jeder fünfte ums Leben. Die Zahl derer, die nach der Entlassung starben, ist unbekannt. Bei meinen Lesungen verdeutlichte ich es oft mit dem Schicksal Carl von Ossietzkys, der bald, nachdem er wegen internationaler Proteste freigekommen war, den Folgen der KZ-Haft erlag. Inzwischen sind wir in Deutschland kulturell soweit fortgeschritten, dass man erst erklären muss, wer Ossietzky war. Noch etwas ist zu klären – in den Medien wird Obamas Buchenwaldbesuch mit dem Holocaust in Verbindung gebracht. Buchenwald aber gehörte nicht zu den Vernichtungslagern. Es war ein so­genanntes normales deutsches KZ, die Bundeskanzlerin schloss sich der von Obama aus familiärem Interesse gewünschten Besichtigung der anti­faschistischen Gedenk­stätte an. Zu Thälmanns Erschießung in Buchen­wald aber leistete Stalin Beihilfe, der nach Moskau geflohene deutsche Genossen an Hitler auslieferte, und selbst beim deutsch-sowjetischen Nicht­angriffspakt vom August 1939 darauf verzichtete, Thälmanns Freilassung zu verlangen. Wer einen Trotzki zu ermorden befiehlt, überlässt auch einen Thälmann dem deutschen Führer.

Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 29.06.2009.

Gerhard Zwerenz   22.06.2009   
Gerhard Zwerenz
Serie
  1. Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
  2. Wird Sachsen bald chinesisch?
  3. Blick zurück und nach vorn
  4. Die große Sachsen-Koalition
  5. Von Milbradt zu Ernst Jünger
  6. Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
  7. Reise nach dem verlorenen Ich
  8. Mit Rasputin auf das Fest der Sinne
  9. Van der Lubbe und die Folgen
  10. Unser Schulfreund Karl May
  11. Hannah Arendt und die Obersturmbannführer
  12. Die Westflucht ostwärts
  13. Der Sänger, der nicht mehr singt
  14. Ich kenne nur
    Karl May und Hegel
  15. Mein Leben als Prophet
  16. Frühe Liebe mit Trauerflor
  17. Der Schatten Leo Bauers
  18. Von Unselds Gegner zu Holtzbrincks Bodyguard
  19. Karl May Petrus Enzensberger Walter Janka
  20. Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen
  21. Tanz in die zweifache Existenz
  22. General Hammersteins Schweigen
  23. Die Pleiße war mein Mississippi
  24. Im Osten verzwergt und verhunzt?
  25. Uwe Johnson geheimdienstlich
  26. Was fürchtete Uwe Johnson
  27. Frühling Zoo Buchmesse
  28. Die goldenen Leipziger Jahre
  29. Das Poeten-Projekt
  30. Der Sachsenschlag und die Folgen
  31. Blick zurück auf Wohlgesinnte
  32. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (I)
  33. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (II)
  34. Brief mit Vorspann an Erich Loest
  35. Briefwechsel mit der Welt der Literatur
  36. Die offene Wunde der Welt der Literatur
  37. Leipzig – wir kommen
  38. Terror im Systemvergleich
  39. Rachegesang und Kafkas Prophetismus
  40. Die Nostalgie der 70er Jahre
  41. Pauliner Kirche und letzte Helden
  42. Das Kickers-Abenteuer
  43. Unser Feind, die Druckwelle
  44. Samisdat in postkulturellen Zeiten
  45. So trat ich meinen Liebesdienst an …
  46. Mein Ausstieg in den Himmel
  47. Schraubenzieher im Feuchtgebiet
  48. Der Fall Filip Müller
  49. Contra und pro Genossen
  50. Wie ich dem Politbüro die Todesstrafe verdarb
  51. Frankfurter Polzei-buchmesse 1968
  52. Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
  53. Als Atheist in Fulda
  54. Parade der Wiedergänger
  55. Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
  56. Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
  57. Fragen an einen Totalitarismusforscher
  58. Meine fünf Lektionen
  59. Playmobilmachung von Harald Schmidt
  60. Freundliche Auskunft an Hauptpastor Goetze
  61. Denkfabrik am Pleißenstrand
  62. Rendezvous beim Kriegsjuristen
  63. Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
  64. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
  65. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
  66. Der Bunker ...
  67. Helmut auf allen Kanälen
  68. Leipzig anno 1956 und Berlin 2008
  69. Mit Konterrevolutionären und Trotzkisten auf dem Dritten Weg
  70. Die Sächsischen Freiheiten
  71. Zwischen Genossen und Werwölfen
  72. Zur Geschichte meiner Gedichte
  73. Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten
  74. Der Dritte Weg als Ausweg
  75. Unendliche Wende
  76. Drei Liebesgrüße für Marcel
  77. Wir lagen vor Monte Cassino
  78. Die zweifache Lust
  79. Hacks Haffner Ulbricht Tillich
  80. Mein Leben als Doppelagent
  81. Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein
  82. Vom Langen Marsch zum 3. Weg
  83. Die Differenz zwischen links und rechts
  84. Wo liegt Bad Gablenz?
  85. Quartier zwischen Helmut Schmidt und Walter Ulbricht
  86. Der 3. Weg eines Auslandssachsen
  87. Kriegsverrat, Friedensverrat und Friedenslethargie
  88. Am Anfang war das Gedicht
  89. Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
  90. Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
  91. Im Hotel Folterhochschule
  92. Brief an Ernst Bloch im Himmel
  93. Kurze Erinnerung ans Bonner Glashaus
  94. Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
  95. 94/95 Doppelserie
  96. FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller
  97. Rainer Werner Fassbinder ...
  98. Zähne zusammen­beißen ...
  99. Das Unvergessene im Blick
    1. Nachwort
Nachworte
  1. Nachwort
    siehe Folge 99
  2. Auf den Spuren des
    Günter Wallraff
  3. Online-Abenteuer mit Buch und Netz
  4. Rückschau und Vorschau aufs linke Leipzig
  5. Die Leipziger Denkschule
  6. Idylle mit Wutanfall
  7. Die digitalisierte Freiheit der Elite
  8. Der Krieg als Badekur?
  9. Wolfgang Neuss über Kurt Tucholsky
  10. Alter Sack antwortet jungem Sack
  11. Vor uns diverse Endkämpfe
  12. Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren
  13. Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
  14. Kampf der Deserteure
  15. Fritz Bauers unerwartete Rückkehr
  16. Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
  17. Als Fassbinder in die Oper gehen wollte
  18. Was zum Teufel sind Blochianer?
  19. Affentanz um die 11. Feuerbach-These
  20. Geschichten vom Geist als Stimmvieh
  21. Von Frankfurt übern Taunus ins Erzgebirge
  22. Trotz – Trotzalledem – Trotzki
  23. Der 3. Weg ist kein Mittelweg
  24. Matroschka –
    Die Mama in der Mama
  25. Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
  26. Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller
  27. Jan Robert Bloch –
    der Sohn, der aus der Kälte kam
  28. Das Buch, der Tod und der Widerspruch
  29. Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad
  30. Bloch und Nietzsche werden gegauckt ...
  31. Hölle angebohrt. Teufel raus?
  32. Zwischen Heym + Gauck
  33. Von Marx über Bloch zu Prof. Dr. Holz
  34. Kafkas Welttheater in Auerbachs Keller
  35. Die Philosophenschlacht von Leipzig
  36. Dekonstruktion oder Das Ende der Ver­spä­tung ist das Ende
  37. Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
  38. Meine Weltbühne im poetenladen
  39. Von Blochs Trotz zu Sartres Ekel
  40. Die Internationale der Postmarxisten
  41. Dies hier war Deutschland
  42. Kopfsprünge von Land zu Land und Stadt zu Stadt
  43. Einiges Land oder wem die Rache gehört
  44. Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen
  45. Macht ist ein Kriegszustand
  46. Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
  47. Damals, als ich als Boccaccio ging …
  48. Ein Traum von Aufklärung und Masturbation
  49. Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
  50. Leipzig am Meer 2013
  51. Scheintote, Untote und Überlebende
  52. Die DDR musste nicht untergehen (1)
  53. Die DDR musste nicht untergehen (2)
  54. Ein Orden fürs Morden
  55. Welche Revolution darfs denn sein?
  56. Deutschland zwischen Apartheid und Nostalgie
  57. Nietzsche dekonstruierte Gott, Bloch den Genossen Stalin
  58. Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter
  59. Von Renegaten, Trotzkisten und anderen Klassikern
  60. Die heimatlose Linke (I)
    Bloch-Oper für zwei u. mehr Stimmen
  61. Die heimatlose Linke (II)
    Ein Zwischenruf
  62. Die heimatlose Linke (III)
    Wer ist Opfer, wer Täter ...
  63. Die heimatlose Linke (IV)
    In der permanenten Revolte
  64. Wir gründen den Club der
    heimatlosen Linken
  65. Pekings große gegen Berlins kleine Mauer
  66. Links im Land der SS-Ober­sturm­bann­führer
  67. Zweifel an Horns Ende – SOKO Leipzig übernimmt?
  68. Leipzig. Kopfbahnhof
  69. Ordentlicher Dialog im Chaos
  70. Büchner und Nietzsche und wir
  71. Mit Brecht in Karthago ...
  72. Endspiel mit Luther & Biermann & Margot
  73. Die Suche nach dem anderen Marx
  74. Wer ermordete Luxemburg und Liebknecht und wer Trotzki?
  75. Vom Krieg unserer (eurer) Väter
  76. Wohin mit den späten Wellen der Nazi-Wahrheit?
  77. Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen
  78. Die Heldensöhne der Urkatastrophe
  79. Die Autobiographie zwischen
    Schein und Sein
  80. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
  81. Atlantis sendet online
  82. Zur Philosophie des Krieges
  83. Deutsche, wollt ihr ewig sterben?
  84. Der Prominentenstadl in der Krise
  85. Der Blick von unten nach oben
  86. Auf der Suche nach einer moralischen Existenz
  87. Vom Krieg gegen die Pazifisten
  88. Keine Lust aufs Rentnerdasein
  89. Von der Beschneidung bis zur
    begeh­baren Prostata
  90. Friede den Landesverrätern
    Augstein und Harich
  91. Klarstellung 1 – Der Konflikt um
    Marx und Bloch
  92. Bloch & die 56er-Opposition zwischen Philo­sophie und Verbrechen
  93. Der Kampf ums Buch
  94. Und trotzdem: Ex oriente lux
  95. Der Soldat: Held – Mörder – Heiliger – Deserteur?
  96. Der liebe Tod – Was können wir wissen?
  97. Lacht euren Herren ins Gesicht ...
  98. Die Blochianer kommen in Tanzschritten
  99. Von den Geheimlehren der Blochianer
Aufsatz