Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
Vor Jahren schrieb ich nach jedem Buch, das ich veröffentlichte, ein Manuskript, das nicht veröffentlicht werden sollte und einzig und allein dem Zwecke diente, mich seelisch zu entlasten, indem ich mir meine äußeren und inneren Erlebnisse ungescheut, unzensiert und ohne jede Rücksicht von der Seele lud. Natürlich spielte ich manchmal mit dem Gedanken, diese Manuskripte später, viel später, möglichst nach meinem Tode, zur Veröffentlichung zuzulassen, ich fertigte also ein unterschriebenes Papier, in dem ich darüber verfügte. Es waren Zeiten, in denen eine große, allgemeine und allumfassende Freiheit herrschte, alles zu sagen und zu schreiben, aber kaum einer sagte und schrieb alles. Man war eben doch klug und rücksichtsvoll genug, sich zurückzuhalten. Mehr als zweitausend Jahre Zensur lasteten auf unseren Herzen. Die Gehirne hatten sich darauf eingestellt. Wir fühlten uns frei und waren es desto weniger. Wir dankten Gott, an den wir nicht glaubten, dafür, dass wir davongekommen waren. Und das war wirklich unglaublich. So fühlten wir uns erwählt. Wir wurden selbstgerecht und bedrückten mit unserer Selbstgerechtigkeit unsere Nachkommen, die es unbegreiflicherweise gab.
Ich will aber ganz offen eingestehen, es lag weniger an der Zeit und an den Verhältnissen, wenn wir uns zensierten oder wenn wir, wie ich, die dennoch entstandenen unzensierten Schriften zurückhielten und wegschlossen. Nein, es lag zuvörderst an uns selbst. Solange ein Schriftsteller noch etwas werden will, solange er Karriere, welche auch immer, zu machen beabsichtigt, wird er Rücksichten nehmen und nicht seine ganze Wahrheit freilegen. Aus Angst, Scheu, Scham, Eigennutz. Denn keiner weiß so genau wie der Autor, wie wenig sein Werk ausrichtet und wie schädlich seine offenen Worte für ihn selbst werden können. Das ist nur zu verständlich, weil jedes offene Wort Verletzungen bewirkt. Zuerst bei dem, der es niederschreibt, hernach bei dem, der davon Kenntnis nimmt.
Auch der Schriftsteller ist zuerst ein Mensch, der geliebt und gelobt und gepriesen werden will, der erkannt und anerkannt sein möchte, der das gute und schöne Leben mehr liebt als das schwere Los der Verfolgung. Auch er giert nach den Annehmlichkeiten der Welt, nach Geld, Reichtum, Lust, erhabenen Gefühlen, erhobener Existenz. Auch ihm flattert eine Fahne voran, die Fahne des Erfolgs. Auch der Schriftsteller ist ein Kaufmann, der seine Waren anbietet und nicht darauf sitzenbleiben will, der dafür Geld und Gut einzunehmen beabsichtigt und gar dazu gezwungen ist. Denn alles andere wäre Misserfolg, Missachtung, Niederlage.
Vielleicht fürchtet gerade der Schriftsteller Niederlagen mehr als jeder andere Mensch, schon weil ihn das wenig aussichtsreiche Wagnis seines Berufes dicht am Abgrund siedeln lässt. Er ist dem Misserfolg immer näher als dem Erfolg, dem Tode näher als dem Leben. Dem Hass benachbarter als der Liebe.
Davor keine Angst mehr zu verspüren fällt am schwersten. Man muss entweder schon alt sein oder krank oder sehr weit entfernt, um endlich so frei zu sein, keinerlei Rücksichten mehr zu nehmen. Am wenigsten auf sich selbst.
Das Risiko der Literatur beginnt erst dort, wo sie autobiographisch wird, ohne ins eitel Selbstgefällige abzusteigen.
Das Verbürgte einer Autobiographie bleibt unwichtig gegenüber jenem Quantum an Kraftstoff, das wir aus unseren Erlebnissen beziehen. Nicht die äußerliche Beschreibung jener Eitelkeit, die wir unser Leben nennen, zählt, sondern die analytische Schärfe, mit der wir uns, einem Psychoanalytiker gleich, über uns selbst beugen, um herauszufinden, was und wer und wie wir sind. Und warum.
Von den äußeren Geschehnissen zu den inneren vordringend, von den inneren zu den folgerichtig äußeren Taten, Untaten, Niederlagen, das ist der Weg. Früher meinte ich klug zu handeln, wenn ich verfügte, diese Romane erst nach meinem Ableben freizugeben. Unterdessen meine ich dort angelangt zu sein, wo die alten Lehren der Stoa als einzige ihren Wert behalten. Den Rücken denen zukehrend, auf deren Urteil ich früher noch Wert legte, so dass ich zugleich die Verurteilung fürchtete, brauche ich mich nun nicht mehr um irgendwelche Folgen und Nachreden zu kümmern. Der Stoiker hat aufgehört wahrzunehmen, was ihn bekümmern könnte. Seine unbekümmerte Sorglosigkeit macht ihn frei.
Es gibt keinen Grund mehr, sich zu tarnen. Mein alter Freund Robert Neumann, dem ich einmal Manuskripte zeigte, riet sardonisch dazu, sie sofort zu veröffentlichen und zugleich in den australischen Busch auszuwandern, wo sich der Kopf vorzüglich in den Sand stecken ließe. Indessen ist der Busch überall. Wozu also auswandern und den Kopf in den Sand stecken, das ist zu staubig. Ich will ganz einfach in eine andere Richtung blicken.
Mitte oder Ende der sechziger Jahre, als ich wieder mal Robert Neumann und seine viel jüngere Frau in Locarno besuchte, wetteten wir in der Schwüle des Abends darüber, ob es möglich sei, einen Sex-and-crime-Roman zu schreiben, wie ihn nur die Amerikaner schreiben können, mit ihren traditionellen Voraussetzungen dafür, angefangen beim Western bis hin zum Action-Krimi. Robert Neumann, der es selbst schon versucht hatte und offenbar daran gescheitert war, wettete mit fünf Flaschen Champagner dagegen und ich dafür. Zu Hause setzte ich mich gleich am nächsten Morgen an die Maschine und begann mein Manuskript. Wie ich schon mitteilte, legte ich es nach Beendigung beiseite, ohne es zu veröffentlichen. Die Proben, die ich Robert schickte, fanden seinen Beifall, brachten mir aber auch seine Warnung vor dem australischen Busch ein. Nun hatten wir beide damals noch einen Begriff vom Schriftsteller als öffentlich-politisch-moralischer Instanz, und wer sich so sieht, darf sich keine Blöße geben und Fremden weder in sein Herz noch in seine Seele Einblicke gestatten. Mein Freund Robert ist längst tot, auch seine Frau ist gestorben, so jung noch. Mein Begriff vom Schriftsteller hat sich gewandelt, es ist mir gleichgültig, wie die Reaktionen darauf sind, dass ich meine tieferen Wahrheiten aufspüre. Ich schickte übrigens damals die fünf Flaschen Champagner nach Locarno, denn ich meinte zwar, die Wette gewonnen zu haben, mein Sex-and-crime-Roman lag schließlich vor. Doch weil ich nicht wagte, ihn zu veröffentlichen, hatte ich die Wette verloren. Das gilt auch heute noch, obwohl ich den Roman, wenn auch verspätet, drucken ließ, denn seine Problematik hat sich unterdessen entschärft. Zumal die Deutschen nur die historische Kostümierung der agierenden Personen sehen und annehmen, es gehe um einen einmaligen, überdies weit zurückliegenden geschichtlich-konkreten Fall. Nicht ahnend, dass es sich um ihre zeitlose und anhaltende Illoyalität zum menschlichen Leben handelt, werden sie sich von ihren eigenen Verteidigungsatombomben in die Luft sprengen lassen. Im besten Glauben und voll des ruhigsten Gewissens – ich meine wirklich voll, also ausgefüllt davon, ganz und gar ausgefüllt –, unschuldig in die mörderischen Händel der Welt verwickelt worden zu sein.
Das letzte Gespräch, das Robert Neumann und ich führten, fand im Garten seines Hauses in Locarno-Monti statt. Es war ein angenehmer Sommerabend, ein paar gute Freunde, die während der Ferien im Tessin waren, hatten ihren Besuch angesagt. Wir erwarteten ihre Ankunft, tranken einen schweren Wein, der mir zu süß war. Robert berichtete von seiner Geburtsstadt Wien, seiner Jugendzeit und der Faszination, die Freuds Psychoanalyse in frühen Jahren auf ihn ausgeübt habe. Sie seien damals alle entweder Freudianer oder Marxisten gewesen, häufig beides zusammen. Als Helga Neumann von der Terrasse des Hauses herabrief, soeben sei Wolfgang Abendroth mit seiner Frau angekommen, beendete Robert unser Gespräch mit einer beiläufigen Bemerkung, deren Tragweite mir erst später aufging. Mit seiner heiseren Stimme, in der sich der schon bald zum Tode führende Krebs ankündigte, was wir, er wie seine Freunde, einfach nicht wahrhaben wollten, meinte er, es gäbe drei große, die ganze Welt bewegende und umstürzende intellektuelle Bewegungen. Zwei davon kämen leider angesichts der übergroßen Widerstände nicht über erste Anfänge hinaus: Der Marxismus laufe sich an den Kräften des Kapitals tot, die Freudschen Theorien wiederum wirkten nur in der Form der psychoanalytischen Diagnostik und ein wenig ausstrahlend in die Literatur hinein, wo sie jedoch völlig unverbindlich und unwirksam blieben, weil nichts größer sei als die Angst des Menschen vor der eigenen, in ihm selbst verborgenen Wahrheit.
Als Robert Neumann mit seiner Erklärung so weit gelangt war, hatten wir den Weg vom Garten ins Haus hinter uns gebracht. Nach der Begrüßung der Gäste, es waren unterdessen noch mehr hinzugekommen, sprach ich Neumann noch mal darauf an, denn er hatte ja von drei die ganze Welt umstürzenden intellektuellen Bewegungen gesprochen, dann aber nur zwei erwähnt, den Marxismus und die Psychoanalyse, die seiner Ansicht nach aber in den Anfängen steckengeblieben waren. Die dritte Bewegung ist die internationale Militärwissenschaft, antwortete Neumann, und sie ist die einzige, die sich siegreich durchsetzt, denn sie stößt nicht, wie der Marxismus, auf den erbitterten Widerstand des Kapitals, ganz im Gegenteil, die beiden verbünden sich miteinander, und die Waffenentwicklung und das strategische Denken stoßen auch auf keine Schamschranken wie die Psychoanalyse, und das ist noch ein Grund für ihren Siegeszug, an dessen Ende die Weltvernichtung liegen wird. Denn die ungehemmte Entwicklung des Militärischen ist die einzige Entwicklung in der gesamten Menschengeschichte, die auf keine grundsätzlichen Widerstände und Feindschaften trifft. Im Gegenteil, selbst die Gruppen miteinander verfeindeter Militärs stimmen darin überein, dass weitergerüstet und weiterentwickelt werden müsse. Bis zum logischen bitteren Ende.
Der vorstehende Epilog entstammt der Militär- und Erotik-Satire Venus auf dem Vulkan, die ich 1982 eigens für den wundersam skandalisierenden März-Verlag unseres Freundes Jörg Schröder schrieb, der auf der Frankfurter Buchmesse 2008 seinen 70. Geburtstag beging. Das Thema meiner Kriegs-Satire ist im vorangestellten Motto enthalten, das auch Jörgs Lebensmotto sein könnte, weil unsere Kulturverhältnisse zeitlos sind:
„Dann bemühte ich mich darum, das zu schreiben, was andere nicht nur zu schreiben, sondern schon zu denken, zu fühlen und wahrzunehmen sich scheuten.“ (Jean Genet im Gespräch mit Jean Paul Sartre)
Unter diesem Motto lässt sich freiweg schreibend fechten. Dass Wolfgang Harich 1956 die DDR durch Veränderung zu retten suchte und dabei scheiterte, diskreditiert seine Methode, nicht die Analyse und das Ziel. Unser 3. Weg beabsichtigte eine DDR plus. Unsere Niederlage und das Programm der Sieger führte zu jener DDR minus, die 1989/90 ausgehebelt und abgeschafft werden konnte. Es war das Ende von DDR und SU. Nötig gewesen wäre eine Transformation auf chinesische Art und Weise. Da sie ausblieb, verkam das SED-Politbüro ab 1956/57 zum Sitz der Konterrevolution. Die ostberliner Dependance der Moskauer Meuchler des Marxismus hatte keine Zukunft. Der praktizierte Ostmarxismus nach Chruschtschow war erstarrt, Lenins einbalsamierter Leichnam zum Realsymbol geworden, wie Christen das Kruzifix anbeten, um ihren Christus desto sicherer verleugnen zu können. Die verweigerte Erneuerung ist ein schandbarer Verrat an den Gläubigen und Ungläubigen. Auf jeden Fall Feigheit vor den essentiellen Anforderungen der Revolution.
Bis zur abendländischen Weltkrise von 2008/9 schien die Niederlage der DDR nur fatal und der westliche Hochmut bloß dumm zu sein. Jetzt werden die Folgen sichtbar. Amerika schwankt. Europa wankt. Der deutsche Wiederholungstäter freut sich auf die neue Ostfront. Schon schützen ihre Flieger den baltischen Luftraum, den die Luftwaffe einst, weil abgeschossen von roten Jägern, aufgeben musste. Sind Ukraine und Georgien erst NATOlisiert, wird die Bundeswehr endlich erneut die Krim besetzen, die Wolga erreichen und Moskau ins Visier nehmen können. Falls diese USA sich aber, statt gegen Russland durchzuhalten, mit China verbünden sollte, weil diese Gelbe Gefahr so viele Dollar bunkerte, müssen wir eben unsere braven BW-Kameraden wie einst zum Siegen an den Jangtse schicken, am Hindukusch sind sie ja schon.
Angesichts dieser grausamen Zustände in den Köpfen unserer neugesamtdeutschen Polit-Elite wird eine DDR plus als Vorstellung und Programm noch dringlicher. Man muss sich nur trauen, über ein Stückchen konkreter Phantasie verfügen und pro Niederlage sein Lachpotential steigern. Der Serbe Gojko Mitic spielte die Chef-Rothaut in einem DDR-Indianer-Streifen nach dem anderen. Musste er im Kugelhagel sterben, stand er für den nächsten Spielfilm wieder auf. So sächsisch kann selbst ein Serbe sein. Die Tradition des Karlchen May von der Mulde, Pleiße und Elbe macht Wiedergeburt erst schön. Noch ist Sachsen nicht verloren. Weil der Sachse Friedrich Nietzsche dem Sachsen Richard Wagner wegen dessen endogenen Antisemitismen die Freundschaft aufkündigte, will die Kritik in Richards Opernhelden nicht das Fleisch erkennen, aus dem Friedrich seine Übermenschen samt Unter-Menschen schuf. Es geht aber regional zu, sächsisch eben, doch mit universalen (Er-) Folgen. Sachsen greift aus. Der Hallenser Georg Friedrich Händel reiste von Triumph zu Triumph durch die Welt und hieß immer der Sachse, obwohl er wie Genscher von der Saale stammte. Richard Wagner hatte es mit Riesen, Karl May mit Indianern, Nietzsche mit willensmächtigen Kriegern. Erst wollte er mit dem Zarathustra Goethes Faust fortsetzen, dann fiel ihm die humane Klassik auf die ohnehin zerrütteten Nerven und er entdeckte die Lust am Abmurksen: „Ihr sollt den Frieden lieben als Mittel zu neuen Kriegen. Und den kurzen Frieden mehr als den langen.“ Das wär doch was für unseren freiheitsverteidigenden Kriegsminister Jung. Der deutsche Friede von 1945 - 1989 war einfach zu lang. Da steht nur noch der olle Karl May im Weg, der sein Leben fatalerweise als erklärter Pazifist in Kopf- und Herzensfreundschaft mit Bertha von Suttner beschloss, und gleich darauf läuteten Glocken und donnerten Kanonen zum Auftakt des 1. Weltkrieges. Mitten in Chemnitz aber verharrt der Marx-Nischel als heilige Dreieinigkeit von Gesicht, Kapital-Analyse, Revolutionserwartung und in Leipzig fließt die Pleiße zwischen den Erinnerungen an Dimitroff, van der Lubbe und Ernst Bloch hindurch - warte, warte nur ein Weilchen? Nehmen wir May als Vierten dazu, ergibt sich ein Quartett zum Antiaggressions- Training. So etwas gibt es heute in Schulen, Betrieben, Eheberatungsstellen, Gefängnissen, warum nicht in Regierungsgebäuden und Kasernen? Ein Vorschlag für NATO und UNO: Friedensübungen nach sächsischem Muster. Und wer nicht mithält, darf nicht mitspielen und wird mit Wasserpistolen erschossen. Der Volksmund freilich bleibt aus Erfahrung pessimistisch: Der Hahn kräht auf dem Mist, die Politik bleibt wie sie ist. Oder auch mit einem Satz aus dem für seine kräftigen Sprüche bekannten Russland, dessen weltberühmter Nationaldichter Alexander Sergejewitsch Puschkin schrieb: „Wer im Abtritt wohnt, gewöhnt sich an den Geruch von Scheiße.“
Als Werner Tübke 1996 in die Kritik missgünstiger Kleinkrämer geriet, fand ich in unserem Hausarchiv Material zu seiner Entlastung. Als der Spiegel sich in Nr. 33/ 1996 der dumpfen Hetze anschloss, schrieb ich der Redaktion am 13.8.96: „Wenn die großen italienischen Maler Aufträge und Schutz von italienischen Kirchenfürsten akzeptierten, kann ich nichts Verwerfliches dabei finden, dass der Leipziger Maler Werner Tübke für sein grandioses Bauernkriegs-Panorama Hilfen von Staat und Staatssicherheit annahm. Ganz im Gegenteil, das Schuldkonto des Geheimdienstes wird dadurch gemindert. Tübke war nicht immer bei Partei und Staat Liebkind. Die Leipziger Volkszeitung am 16.2.1957: ›Im Bezirk Leipzig sind revisionistische Auffassungen z.B. von dem Schriftsteller Genossen Zwerenz, von einigen Genossen der Fachschule für Grafik und Buchkunst, wie den Genossen Brillka und Tübke ... vertreten worden.‹
In einem internen Bericht der SED-Bezirksleitung Leipzig Abt. Kultur vom 6.2.1957 heißt es: ›Dozent Gen. Tübke ist der Meinung, dass es in den Jahrgängen um 1924 und jünger wenig Parteilose und Genossen gibt, die die Auffassung haben, dass der Marxismus-Leninismus als eine exakte Wissenschaft die Grundlage einer Weltanschauung sei. Er selbst kann sich die Frage auch nicht beantworten.‹
Tübke braucht keinen Persilschein. Es geht mir einfach um das ganze Kaltkriegspanorama.“ Da der Spiegel nicht reagierte, fragte ich bei der Leipziger Volkszeitung an, ob sie an den Papieren interessiert sei. Keine Antwort. Im Oktober 96 schickte ich die Materialien auf Bitten seiner Frau an Tübke selbst. Sein handschriftlicher Brief lautete resigniert: „Lieber Gerhard Zwerenz, ganz herzlichen Dank für Ihr Schreiben vom 8.10.96 – und die Unterlagen. Es liegt alles so viele Jahre zurück, aber es bleibt unvergessen. Ich arbeite viel und verdränge dadurch vielerlei, von früher und auch vieles von heute. Alles Gute für Sie
Ihr Tübke“ Als die Leipziger Universität 2004 eine Ausstellung über Ernst Blochs Leipziger Jahre plante und G + IZ um Mitarbeit bat, legte ich eine Reihe Dokumente und Presse-Artikel bereit, die auch Werner Tübke betrafen, der ja mit mir zusammen des Revisionismus beschuldigt worden war. Leider konnte die Uni laut Auskunft vom 8.5.04 wegen „dünner Personaldecke“ davon keine Kenntnis nehmen.
Als im Juli 2006 das Tübke-Bild Ungarn 1956 aus dem Thüringer Landtag entfernt werden musste, weil es „Propagandalügen“ verbreite, zählte das zu den dümmsten Propagandalügen. Der Sachverhalt ist so klar wie brutal und wahr: Der Spiegel druckte 1956 Fotos ab, die gelynchte ungarische Geheimdienstler zeigten. Walter Ulbricht reichte die Bilder im Politbüro herum und fragte: Wollt ihr so enden? Von da an gab es für die 56er DDR-Oppositionellen keine Chance mehr. Tübke hielt die Budapester Tragödie als Kunstwerk fest für diejenigen, die wissen wollen. Der Thüringer Landtag darf nicht dazugehören. So will es die Landtagspräsidentin Prof. Dagmar Schipanski im Namen der Kunstfreiheit.
Kurz vor ihrer Abwicklung produzierten Funkhaus Berlin und Sachsenradio mein Hörspiel Des Meisters Schüler, das vom WDR und anderen Sendern übernommen wurde und in dem Werner Tübke als „Tubb“ auftritt. Tübke-Tubb antwortet dort auf die Wahrheitsfrage: „Keines meiner großen Bilder ist gelogen. Wer Augen hat in seinem verdammten Schädel, dem zeig ich, was das ist: Blut, Fleisch, Mord, Krieg, Folter, Flucht.“
Unter der Regie von Hans Gerd Krogmann sprachen 1991 in Des Meisters Schüler die Schauspieler Hilmar Thate, Dieter Mann, Käthe Reichel, Matthias Schweighöfer. In Leipzig und Erfurt fanden Lesungen in den Schauspielhäusern statt. Ich erwog eine Bühnenfassung, hinzugefügt die Stimme von Frau Schipanski als Tübke-Zensorin. Als ich Tübkes Bauernkriegspanorama in Bad Frankenhausen besichtigte, wusste ich, es zählt zur DDR plus, unvergessbar, ein Kunstwerk der permanenten Revolte. Werner Tübke, das ist allen Widrigkeiten zum Trotz ein gelungenes Leben in Leipzig. In Sachsen und einer DDR, wie sie hätte sein können bei weniger Dummheit und Feindschaft. Hört auf, euch kleiner zu machen, nur weil's andere so wollen. Tübkes Panorama reicht von den Bauernkriegen bis Budapest Oktober 1956. Ein Maler aus Deutschland? Wir hatten viele zwischen Pleiße und Elbe. Und einige Textmeister dazu, die den Mächtigen zu zeigen wagten, was zu ändern wäre, soll der Sozialismus nicht vor die Hunde gehen. Doch wer die Macht hat, verfällt dem Tunnelblick. So wollen's alle falschen Traditionalisten, die Ignoranz und Kriegsführung als Regierungsprogramm feilbieten. Am 30. August 2009 findet in Sachsen wiedermal ein Wahlgang statt. Der Volksmund meint: Würden Wahlen was ändern, wären sie längst verboten. Tübkes Panorama vom Bauernkrieg weist ihn zugleich als gegenwärtigen Futuristen aus, obwohl heute nur der Milchpreis sinkt. Wo lebt der Tübke von heute, wo leben die Meister des Wortes, die den religiösen Weltbürgerkrieg ins Auge zu fassen wagen, der so vorbereitet wird wie der 2. Weltkrieg mit Franco in Spanien vorbereit worden ist.
Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 31.08.2009.
|
Gerhard Zwerenz
Serie
Nachworte
Aufsatz
|