Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
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Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
In den Jahren vor dem Kosovo-Krieg bildeten die Kosovaner unter serbischer Herrschaft Schulen und Hochschulen im Untergrund. Nach ihrer Niederlage behalfen sich die Serben, soweit sie nicht vertrieben wurden, ebenfalls mit Bildungseinrichtungen im Verborgenen. Die nach dem Ende der DDR von den Universitäten Evaluierten sollten die gleiche Chance erhalten, denn die Misere der Ostdeutschen wurzelt im fortgesetzten Verlust an Lebenskraft und Geist. Es gab zu viele Opfer in Kriegen und Nachkriegen. Zu viele politische Großmäuler treten auf, die lustig von der Menschenjagd leben. Sie sollten wissen, dass sie im nächsten Leben leicht als Ratten, Läuse oder Kakerlaken wiedergeboren werden können.
Soweit es den Himmel betrifft, wo die Metamorphosen entschieden werden, besaß selbst die atheistische Sowjetunion eine himmlische Einrichtung, was der nachmalige Sozialdemokrat, das langjährige Politbüromitglied Alexander Jakowlew in seiner Autobiographie
Die Abgründe meines Jahrhunderts mitteilte, wo er Obergenossen wie sich und seinesgleichen als „Himmelsbewohner“ kennzeichnete. Der heilige Petrus, von mir danach befragt, antwortete: Ja, die Irdischen schaffen sich gern ihre eigenen Himmel. Doch ist das wirklich ein Himmel – wenn Genosse Jakowlew heute, obgleich kürzlich verstorben, Leichen ausgräbt, die er vordem selbst zu schaffen bemüht war?
Da lobe ich mir mein vatermutterländisches in Leipzig mündendes Pleißental samt angrenzenden sächsischthüringischen Landesteilen bis hinauf ins anhaltische, brandenburgische, meckpommersche Ostland samt Berliner Mittelpunkt, wo die Geschichte Kobolz schoss und heute ratlos den Atem anhält. Wir sind besser als der üble Mundgeruch, den uns die Trittbrettfahrer Klios attestieren. Wir lehnen es ab, beim Parfümsaufen mitzuhalten und den Menschen zum Geldbeuteltier zu degradieren. Bei Wittgenstein heißt es: „Die Sprache ist ja kein Käfig.“ Ich füge hinzu: Doch, doch, die Sprache wird den Mächtigen und ihren Wortpriestern zum goldenen Käfig. Anfangs rütteln sie von außen daran, um hineinzukommen. Sind sie erst drinnen, ist es ihr Stammplatz an Attilas Hof.
Als ich 1977/78 für einen Tucholsky-Film Wolfgang Neuss interviewte, ließ er sich eine Reihe überraschend melancholischer Weisheiten einfallen. Weniger überzeugend fand ich, als er mich einen gefürchteten Polemiker nannte, der im Grunde ein „vagabundierender Humorist“ sei. Da kannst du mich auch gleich Komiker nennen, entgegnete ich. Neuss darauf: „Da sind wir schon zwei Komiker.“ Es brauchte eine Weile, bis ich einsah, die simplen alten Benennungen treffen meist am genauesten. Ein anderes Neuss-Wort klang so: „Unter den Blinden ist der Einäugige König. Ist der aber ein Idiot, haben die Blinden Pech gehabt.“ Wem kommen da nicht bestimmte Politiker in den Sinn.
Einen Lichtblick verdanke ich einem FDP-Bundestagsabgeordneten, der auf meinen Zwischenruf im Parlament „Ich lach mich tot!“ schlagfertig erwiderte: „Tun Sie das nicht, denn es kostet das Leben!“ Als Merksatz schrieb ich in mein Notizbuch:
Ich lach mich lebendig – ein schöner Buchtitel. Später fügte ich hinzu: Aufstand ist der Wunschtraum der Sklaven. Revolution war der Einfall von Intellektuellen. Lachen und Gelächter aber sind die permanenten Revolten der Intelligenten, die sich den Tätern weder als Opfer noch als Untergebene anbieten. Als ich im Krieg zu den Russen ging, hieß es, die legen dich sofort um. Das glaubte ich nicht. In der Tat waren sie so freundlich, mich am Leben zu lassen, kein leichtes Leben, doch Leben. Zehn Jahre später war es notwendig, der DDR und Partei aufs Wort zu glauben. Ich redete ungläubig dagegen an, und als sie mich kaschen wollten, ging ich weg. Im freien Westen türmten sich wieder jede Menge neuer Notwendigkeiten auf: Gegen die Kommunisten musste man sein, gegen die im Osten und in Vietnam, für die BRD-Notstandsgesetze und gegen die 68er, aber für die Nachrüstung. Heute sind Islamisten, Terroristen und Linkspartei zu bekämpfen, die Globalisierung aber ist zu loben. Die Arbeitslosen neiden den Milliardären das Geld, die Sozialisten sind überständig und altmodisch. Merkel, Stoiber und Westerwelle wollen neue Modelle vorführen, die von Schröder eingeführt, jedoch nicht richtig durchgeführt worden sind. Ich hör' das seit so vielen Jahren, dass ich mir eine alte Drehorgel zu kaufen vornehme, wie sie früher auf Jahrmärkten erklang. Da saß immer so'n kleiner süßer Affe drauf, der zur Musik lustig herumzappelte. Es war wie heute, nur eben kleiner und unwiderstehlich für uns Kinder. Damals glaubten wir noch daran, wir Naivlinge.
Bei einer Lesung in Chemnitz aus unserem Buch
Sklavensprache und Revolte –
Der Bloch-Kreis und seine Feinde in Ost und West begegneten Ingrid und ich Peter Gruber, einem Lyriker aus dem Vogtland. In der Anthologie
small talk im holozän finde ich sein Gedicht
Schulanfang
Die Eibe vorm Fenster: rote
giftige Früchte. Die schwarze Tafel, die seltene
Kreide. Rauchig
die Wärme des Ofens, eisernes
Gerippe. Rauhe Bänke
und der Zeichen tintenfleckiges
Alter.
Die Feder eintauchen
bis das Wort dir gelingt: sauber!
Wort, das du abscheidest von der Zunge!
Wort, das du abreibst von den Fingern!
vor dem gewissenhaften Auge
des Lehrers.
Undeutliche Folge der Stunden
bis Mittag, die Tische
mit weißem abwaschbarem Tuch,
gehütet der Apfel
bis zum ersten Bis.
Der milde September.
Die Straße.
Gehen. Sprache finden.
Die Schlusszeile: „Gehen. Sprache finden“ ist ein Anfang. Dieses Land hat noch nicht wieder angefangen. Einer geht suchend los. Ein Gedicht gibt den Weg an. Wir lernten den Lyriker in Chemnitz durch Ines-Helga Hauptmann kennen, deren schimmernd-schönes Buch
NIXEN –
Von Wassergeistern und Jungfrauen im vorigen Jahre erschien. Ich lese bei seelischer Trockenheit gern darin: „Nixen hüten die Quelle der Mulde (…) Der Fluss hatte, was der Mensch braucht: Wasser und Fische (…) Im Wasser lebte ein wilder Geist.“ Ach ja, wir Fluss- und Berggeister. Peter Gruber wohnt in einem erzgebirgischen Ort mit dem wunderschönen Namen Altmannsgrün, der mich zum romantischen Augenwimpernschlag verführt. Wir brauchen Poesie, Wälder, Berge, Flüsse und Nixen.
Einer meiner Romane trug ursprünglich den Titel
Abenteuer eines Sachsen im Ausland. Zum Glück änderte ich ihn, denn der Bestseller, zu dem das Buch wurde, wäre mit dem Titel wahrscheinlich nicht zu hohen Auflage-Ehren gelangt. Sachsen war kein animierendes Warenzeichen. Warum das so war, bedarf keiner näheren Begründung. Sächsisch war out.
Doch die Zeiten ändern sich. Vor kurzem bat eine Agentur um die Erlaubnis, einige Sätze aus einem meiner Bücher zur Werbung für eine große sächsische Firma benutzen zu dürfen. Das Zitat beginnt mit dem Geständnis: „Es ist zum Kotzen, ich bin ein sächsischer Patriot... “
Geschrieben wurde das 1961.
Ich erinnere mich meiner Kindheit. Wenn oben im Erzgebirge der Schnee schmolz oder Regengüsse niedergingen, schwoll das Rinnsal Pleiße innerhalb weniger Stunden zu einem reißenden Strom an.
In der Niederung, wenige Schritte seitab von der Furt, stand ein altes, brüchiges Fachwerkhaus. Darin wohnte eine Frau mit ihrer buckligen Tochter. Das Mädchen betrachtete vom Fenster aus begeistert den anschwellenden Fluß, lief herbei und stürzte sich kopfüber ins Wasser. Sie schwamm nicht, sie ritt die Wogen.
In der Stadt drinnen warteten die Leute am Ufer. Kam die reitende Buckelhexe in Sicht, brandete wildes Geschrei auf.
Zwei Köpfe hatte das Mädchen. Hinter ihrem Kopf erhob sich der Höcker zu einem zweiten. Die Schwimmreiterin winkte den Menschen an beiden Ufern heftig zu. Warf Kußhände. Lachte. Entschwand prustend und schnaufend.
Unterhalb der Stadt kroch die Verwachsene erschöpft und kichernd an Land und kehrte bei Nacht zum Haus an der Furt zurück. Das ganze Jahr über lauerte sie darauf, daß es Hochwasser gäbe. Es waren ihre glücklichen Tage.
Unsere Herta geht nicht unter, sagte ihre Mutter stolz. Sie hat Luft im Höcker. Das trägt.
Die Pleiße ist ein dämonischer Fluß. Bei einer Lesung in Markkleeberg sprach ich 2005 mit zwei älteren Ingenieuren, die im Braunkohlentagebau südlich Leipzigs gearbeitet hatten und sich daran erinnerten, daß sie den Lauf der Pleiße mindestens fünfmal umleiteten. Ein Fluß als industrieller Wanderarbeiter.
Mein scharfzüngiger Kollege Wolfgang Eckert aus dem ursächsischen Meerane beschreibt in seinem irrwitzigen Büchlein
Leise tönt das Martinshorn einen gewissen „Oss“: „Er wohnte in einem wackligen Häuschen direkt an der Pleiße, durch die er auch in kälteren Jahreszeiten splitternackt zum Erschauern und Entsetzen der moralischen Dorfbewohner schwamm.“ Anschließend spricht Eckert von einer „Badekur in der Pleiße.“ Offenbar besitzt dieser Urstrom sächsischer Industriekultur verborgene Qualitäten. Eine Kennerin der Gegend, die in Tegkwitz wohnende Germanistin Dr. Waltraud Seidel, mailte uns dazu: „Die Pleiße fließt auch durch das Altenburger Land. Als Kind habe ich noch drin gebadet, in Paditz. Wir Kinder nannten es Bad Itz am Plei-See.“
Noch ein Hinweis von Waltraud Seidel: Im früheren Altenburg fanden sich mehrere Richtstätten. Neben dem Galgen, der mal da, mal dort stand, gab es den Markt, wo mit dem Schwert enthauptet wurde, außerdem die Leipziger Straße für den Feuertod und fürs Ertränken die Pleiße mit einem entsprechend hohen Wasserstand. Wollten wir nun heute, unseren Konservativen zu gefallen, die schönen alten Bräuche wieder einführen, wäre ein Wassertod in der Pleiße (oder Elbe), etwa als Strafe für nachhaltige Arbeitsplatzvernichtung, von lediglich symbolischem Wert. Die Delinquenten könnten im Flußbett höchstens verdursten. Es sei denn, s'ist Hochwassersaison.
Da wir beim Verdursten und Vertrocknen sind: die weiland DDR hatte drei Chancen: entweder reformierte sie sich bis zur Überlebensfähigkeit oder sie unterwarf sich der Bonner Republik, die als Berliner Republik dem Neuzugang Zweitklassigkeit verordnete. Eine dritte Möglichkeit bot die chinesische Lösung. Indem der Mangel an Intelligenz und Charakter bei beiden Teilstaatsfürsten den zweiten Weg favorisierte, entstand im Osten ein kaum bemäntelter Kolonialstatus mit Fremdbestimmung, Arbeitsplatzabbau und ständigem Bevölkerungsverlust. Auf dem Gebiet des vormaligen Bonner Rhein-Staates aber sitzt das luftige Kapital, brütet Global Players aus und folgt einer politischen Klasse, die zwischen Hohenzollernreich und US-Imperium laviert. So entstand ein Kirchenstaat mit prä- und postfaschistischen Anmutungen, weil der Führer ging, seine Generäle und akademischen Triebtäter jedoch in Amt und Würden blieben. Vor diesen Teufelsbraten flüchte ich notfalls und meinem ausgeprägten Unglauben zum Trotz ins höchste Himmelreich.
Fragt sich nur, wie kann Mensch es in unseren Zeiten aushalten, ohne religiös zu werden, zu trinken oder zu kiffen. Da fällt mir Frau B. ein, die als Zwanzigjährige in die USA ging und sich dort lange im Umkreis der Film-
Industrie ganz gut über Wasser hielt. Seit dem 11.09.2001 wagt sie es nicht mehr, nach Deutschland zu fliegen. Ihre teure Greencard ist gefäscht, was zwar nicht so ungewöhnlich ist, bei der Wieder-Einreise in die USA jedoch der verschärften Kontrollen wegen auffallen könnte. Anruf von Frau B. in Panik bei ihren Freunden in Berlin. Ein Kollege interessiere sich sehr für sie, er meine es wohl ernst – aber wie soll ich mich verhalten? Ich hab doch noch nie nüchtern mit einem Mann geschlafen?
Das ist das Dilemma derer, die nicht ohne Ideologie, Religion und andere Drogen ganz bei sich sein können. Anders gesagt, es mangelt nie an Gründen, sich zu besaufen.
Am Montag, den 22. Oktober, erscheint das nächste Kapitel.