Von Frankfurt / Main übern Taunus ins Erzgebirge
Im Jahr vor dem Tode Karl Gerolds begrüßte der Pförtner im Frankfurter Rundschau-Haus mich mit den Worten: „Ich kenne Sie.“ Meine Antwort: „Ich bin ja auch vor 10 Jahren schon mal hier gewesen.“ Was zeitlich ungefähr stimmte. Anfang der sechziger Jahre, ich wohnte damals in Köln, erhielt ich einen Brief des FR- Chefs mit der Einladung, ihn zu besuchen. Als ich das nächste Mal nach Frankfurt kam rief ich Gerold an und er bat mich zu sich.
Er thronte hinter einem riesigen Schreibtisch, zeigte ein spitzbübisches Lächeln, redete von diesem und jenem, unterbrach sich abrupt, sprang auf, stülpte sich einen Hut über den Kopf und befahl: „Kommen Sie, wir gehen jetzt essen!“ Es war noch gar nicht Mittagszeit oder aber schon zu spät dazu, wir hetzten durch die Innenstadt in ein Lokal, wo Gerold offenbar Stammgast war. Eigentlich gab's kein Mittagessen (entweder noch nicht oder nicht mehr – ich entsinne mich nur an die Komplikation), doch für den Chef der Frankfurter Rundschau holte man den Koch herbei und öffnete die Küche extra. Ich lernte an diesem Tag einen mitteilsamen, nach Gesprächen dürstenden Mann kennen, dessen abenteuerliches Leben ebenso faszinierte wie sein schwieriger Charakter. Vom Augenblick unserer Begegnung an wollte ich über Gerold schreiben, zugleich warnte mich etwas, das zu verwirklichen, und diese leise Warnung war wohl der Grund, weshalb ich nach dem ersten ausführlichen Kennenlernen jede direkte Begegnung mied. Mit der Vorsicht, zehn Jahre fernzubleiben und nur telefonische und briefliche Kontakte zu halten, hatte ich die einzig richtige Entscheidung getroffen. Als ich mit Gerold wieder zusammentraf, zeigte sich dies sehr schnell. Es geschah gegen meinen Willen, die Initiative ging ganz vom Zeitungsherausgeber aus, dessen Heftigkeit mich zu einer kurzen, intensiven Freundschaft verurteilte. Ich habe darüber im Bericht aus dem Landesinneren geschrieben, mit der notwendigen Diskretion, doch ohne Verlogenheit, obwohl ich ahnte, die Folgen würden stören. Leider kann ich nicht umhin, starke Eindrücke festzuhalten, das Leiden heißt Schreibzwang. Karl Gerold lief mit meinem Buch von einem zum anderen Freund und Ratgeber, sie alle befragend, ob das, was Zwerenz über ihn schreibe, akzeptabel oder diffamierend sei. Ich muss hier einflechten, wie sehr ich erschrak, als ich den Mann, den ich zehn Jahre lang als kräftig statuiert erinnert hatte, jetzt als Schatten seiner selbst wiederfand. Der Tod wühlte wohl schon in ihm, was seine Reaktionen noch unberechenbarer machte. Gerold rief immer wieder bei mir daheim an, und seinen Einladungen mochte ich nicht widerstehen, auch weil ich inzwischen ahnte, der Mann würde nicht mehr lange zu leben haben. Die intensivsten Begegnungen fanden im Verlauf einiger Monate statt. Ich lernte Gerolds stille Frau, eine Pianistin aus der Schweiz, seinen Chauffeur, sein Haus, seine Neigungen und Abneigungen kennen. Er sandte mir Bücher mit Widmungen, selbstgemalte Bilder, die er mir ausdrücklich zueignete, nahm sich die Freiheit, mich nach Mitternacht aus dem Schlaf zu klingeln, und wurde mir durch alle diese Aktivitäten bald zu einer dermaßen dichten Figur, dass ich ein Manuskript über ihn begann: Der Verleger . Schon vor Gerolds Tod hörte ich auf, daran zu schreiben. Der Mann würde es nie verstehen und verzeihen, wenn ich mich nicht auf die Illustration einer Lichtgestalt beschränkt hätte. Hinter jeder genaueren Charakterisierung witterte er feindliche Angriffe. In diese Zeit fiel der Spoo-Konflikt. Gerold entließ seinen Münchner Korresponden Eckart Spoo, was seine Zeitung viele Sympathien kostete und ihm eine Niederlage vor dem Arbeitsgericht einbrachte. Ich suchte bis zuletzt zu vermitteln. Dabei wäre ich nachts bei plötzlicher Glatteisbildung beinahe mit dem Wagen verunglückt, weil es sich als unumgänglich erwiesen hatte, Gerold daheim aufzusuchen. Meine Bemühungen, zwischen Spoo und Gerold zu vermitteIn, fruchteten nicht nur nichts, sie machten den kranken Gerold auch immer misstrauischer. Er verlangte Vasallentreue, die ich weder leisten konnte noch wollte, unser Verhältnis wurde stetig stärker zerrüttet. Als ich, in Erwiderung der vielfältigen gedruckten und gepinselten Präsente ihm eines meiner eben erschienenen Bücher sandte, schrieb ich statt einer nichtssagenden Widmung hinein: „Nicht dem Zeitungsherrn – aber dem persönlichen Freund – mit guten Wünschen ...“ Das Buch kam zwei Wochen später zurück. Gerold, der wie sehr oft in seinem Schweizer Haus weilte, hatte sich die Post nachsenden lassen und führte nach Lektüre der ihm seltsam dünkenden Zeilen eine Reihe aufgeregter Telefonate mit Leuten in und außerhalb der Rundschau, las ihnen meine Widmung vor und wollte hören, wie sie ihrer Meinung nach aufzufassen sei. Was die Befragten auch antworten mochten, am Ende beschloss Kar! der Große, es böse zu verstehen. Die Freundschaft war von seiner Seite aufgekündigt, in der Zeitung lief ein Ukas um, der anordnete, von Gerhard Zwerenz dürfe künftig nichts mehr gedruckt werden. Ich nahm 's gelassen auf, war so was doch schon meinem Freund Robert Neumann widerfahren, den Gerold jahrelang hofiert hatte, bis er von einer Stunde auf die andere in tiefste Feindschaft verfiel. Wer die Presse privatwirtschaftlich führen lässt, muss allerprivateste Zensur hinnehmen. Mehr schmerzte der Abbruch der Freundschaft und das törichte Umschlagen in eine Feindseligkeit, die ich zwar nicht erwiderte, unter der ich aber doch litt. Ein alter, kranker Mann war besiegt worden von seinen eigenen Schwächen; ein Grund zu Trauer noch vor dem Sterbefall. Die Anweisung Gerolds, Zwerenz nicht mehr zu drucken, wurde von gewissen Flügelleuten, besonders im politischen Ressort, begrüßt, nichts anderes hatte man hier ja angestrebt, im Feuilleton dagegen entschlossen sich drei Mitarbeiter zum offenen Widerspruch, obwohl ich fürchtete, das könnte wie bei Spoo mit Entlassung, jedenfalls beruflichen Schwierigkeiten enden. Meine Einwände nicht achtend, verfassten die drei ein Papier, das dem Herausgeber und Chefredakteur vorgelegt werden sollte. Allein, am Tag nach der Niederschrift des Protestpapiers verstarb Gerold. Stillschweigend verschwand das mich betreffende Druckverbot in der Versenkung. Die Erfahrung mit Karl Gerold und die schockartige Erinnerung an gewisse Erfahrungen in der DDR ließen mich zu einem argwöhnischen Verfechter des Pluralismus im publizistischen und literarischen Verlagswesen werden. Es kann hier gar nicht genug verschiedene und höchst unterschiedliche Verlage und Redaktionen geben. Mir wäre am liebsten, dem privatwirtschaftlichen Pluralismus stünde noch ein gemeinwirtschaftlicher Pluralismus zur Seite. Wir brauchten neben dem Einzelkapital und der hierarchischen Struktur noch andere Modelle verschieden strukturierter Mitbeteiligung. Wobei diese Modelle nur Mittel zum Zweck sind, der aber hat die individuelle Freiheit des schreibenden Autors zu garantieren. Wird einem Autor in einer Firma die Arbeit erschwert oder erhält er Schreibverbot, muss er in anderen Firmen weiterarbeiten können. Es war in den siebziger Jahren, als dem unwillig lauschenden kleinen Schriftsteller vom Steuerberater bedeutet wurde: Wenn Sie weiterhin so unklug mit Ihren Einkünften verfahren, geht die Hälfte Ihres Geldes ans Finanzamt. Der Dichter zählte fünfzig Jahre, war gegen den Krieg, die Ehe und jeden unbeweglichen Besitz. Ich soll mir ein Haus aufladen? fragte er mürrisch. Da er aber sowieso schon lange verheiratet war und überall in der Welt Kriege geschahen, auch wenn er sie ablehnte, beschloss er, ein Haus zu bauen, und zwar im Taunus, wo er am höchsten ist und Fuchs und Wildsau sich gute Nacht sagen. Mitten im Wald saßen sie dann, diese lebenslangen Großstädter, die Natur genießend, die himmlische Ruhe preisend. Natürlich fuhren sie Auto, Frau wie Mann, jeder für sich, denn öffentliche Verkehrsmittel waren rar bis nicht vorhanden. Ein außergewöhnlicher Hund sowie zwei Schnurrkatzen komplettierten die Familie, in deren Umkreis Rehe, Eichhörnchen, Hirsche und Hasen wohnten, wie Mutter Natur es anordnete. Der kleine Schriftsteller lobte oft und gern sein Haus in der Waldesruhe, auch als das Nachbargrundstück zur Linken endlich bebaut wurde, zuvor war es gar zu einsam gewesen, und als im Tal hinterm Haus mehr und mehr Bäume verschwanden, ließ ihn das kalt, hatten sie beide in ihrem Garten in weiser Voraussicht doch allerhand Nadelgewächse eigenhändig angepflanzt. Rechts von seinem Anwesen blieb der Laubwald sicher und fest stehen, denn der Hang stieg zu steil an fürs Häuserbauen. So dachte er und dachte alle Welt, bis der Wald stracks geschlagen und gerodet und dafür eine Doppelreihe Bungalows dicht an dicht hingequetscht wurde. Dort zogen freundliche Nachbarn aus aller Herren Länder ein, so dass Reh und Hirsch samt Hase und Wildschwein in den letzten dichteren Forst emigrierten. Ja, unsere Welt ist voller Flüchtlinge. Die heilige Familie mitten in Gebirg und Wald war vom Ort eingeholt und umzingelt worden. Wir verstädtern, klagte der Autor, einst aus den steinernen Metropolen ins schöne einsame Abseits geflüchtet. Indessen war er zum Fünfundsiebziger aufgewachsen, was ihn nun doch mit leiser Unruhe erfüllte, zumal ihm die Frau im Jahrzehntabstand folgte, dabei hatten sie doch immer geglaubt, die Alten, das seien die anderen. Sei's drum, dem Glücklichen schlägt keine Stunde, erklärte der kleine Schriftsteller, der inzwischen nur noch selten schrieb, denn die Welt, die es zu verändern, d.h. zu verbessern galt, verschlechterte sich von Tag zu Tag, was der Mann als persönliche Beleidigung verstand, weshalb er seine vielen klugen Ratschläge lieber bei sich behielt. Es hatten inzwischen auch unzählige Kriege stattgefunden, unbekümmert um alle Proteste und Demos. Sie wollen halt schießen und bomben, äußerte der resignierte Dichter, und die Jets donnerten knapp übers Dach, zumindest bei Westwind. Der Flugverkehr war europaweit neu geordnet worden, einige Linien von landenden und startenden Maschinen beschenkten den Naturpark Hochtaunus mit Lärm und Abgasen, bei Ostwind aber herrschten noch immer Stille und Höhenluft, als wär die Zeit stehengeblieben. Bis auf die Autos, die nun vermehrt vorbeifahren,der vielen Neuzuzügler wegen und bis auf die Motor-Rasenmäher, die brummen und knattern. Die stolzen Besitzer neuer Häuser haben jahrelang zu tun mit Hämmern, Sägen, Bohren und Feiern. Unsere Tochter, die seit Jahren in Berlin lebt, besucht die Eltern im Taunus nicht mehr. Es ist ihr zu laut geworden, sie findet nachts keinen Schlaf. Die Frau fuhr zur Tochter. Als sie zurückkam, sagte sie: Dort kann man nachts ungestört durchschlafen. Lass' uns umziehen nach Berlin. Der Mann hörte ihre Worte als wären es Schicksalsschläge. Die Tochter wohnt, nebenbei bemerkt, am Kurfürstendamm.
Am Sonntag, dem 7.2.2010 fuhren wir zum nachbarschaftlichen Martin-Niemöller-Haus in Arnoldshein. Dort findet für einige Wochen ein Stück Erzgebirge im Hochtaunus statt – aus dem sächsischen Schwarzenberg übersiedelte 1989 kurz vor DDR-Toresschluss der Holzgestalter Matthias Schmidt mit Frau und Sohn ins Hessische ganz in unsere Nähe. Zur Vernissage lud er ein in die weitläufige Tagungs- und – Ausstellungsstätte, die nach Martin Niemöller benannt ist. Als ich in den wilden Westen kam, saßen Nazijuristen auf demokratisierten Stühlen und sperrten weiter Kommunisten ein, die sie vorher schon mal eingesperrt hatten, als die Stühle noch nicht demokratisiert waren. In Frankfurt am Main traf ich Martin Niemöller, den tapfren kaiserlichen U-Boot-Kommandanten. Mir die zarte Hand reichend sagte er: Ich brauchte zwei Weltkriege und einen Aufenthalt in Dachau, um endlich Pazifist zu werden! Mir genügte ein Krieg samt Nachkrieg, entgegnete ich unverdrossen, und so hetzten wir Ostern 1967 vor dem RÖMER und drei- bis viertausend Friedensmenschen gegen die Atombombe, nichtahnend, dass sechsunddreißig Jahre später der Zyklop Bush jun. damit wieder herumjonglieren und drohen würde, umgeben von geölten US-Blitzen, russischen Zwergen und chinesischen Schlitzohren. Derweil rotiert Niemöller im Grabe, und der brave Heinemann zählt die Runden. Seine tüchtige Tochter Ute schwebt zwischen katholischen und protestantischen Kirchen herum, ein atheismusbedrohter Engel. Ich flüchte ein wenig ins randalierende Gedächtnis. Anno 1988 durfte Walter Janka zu einer Veranstaltung in der Frankfurter Paulskirche ausreisen. Ich hatte da etwas arrangieren können. Wir sahen uns erstmals seit 1956 wieder, und er überbrachte quasi Melzheimers Grüße, die der damals dem Untersuchungshäftling Janka verlautbart hatte: zehn Jahre sollte ich bekommen, kriegten sie mich. Die Nachricht, nicht neu, aber nun spät beglaubigt, stürzte mich in Zweifel: Sollte ich verärgert sein oder laut lachen. Ich entschloss mich zur Dankbarkeit des Entflohenen. Ach ja, dieser Melzheimer, bei den Nazis Jurist, und in der DDR Generalstaatsanwalt. Welch ein Fortschritt. Brachte die Genossen hinter Schloss und Riegel. Ein Kamerad eben. Walter Janka war zweimal in Bautzen gelandet – 1933 von den Nazis, 1956 von Genossen verhaftet. Ich war 1944 den Nazis entwischt und 1957 den Sozialisten durch die Lappen gegangen. So stand ich verfroren zwischen Janka und Harich, die sich seit ihrer Haft befeindeten, blieb jedoch ungerührt mit beiden befreundet. Ein Friedens-Idiot zwischen allen Fronten, umgeben von Grabenkämpfern und ideologischen Messerstechern. Niemöller hatte zwei Kriege gebraucht, zur Vernunft zu kommen. Was ist aus der Niemöllerschen Vernunft geworden? Die Vernissage eines Holzgestalters aus dem Erzgebirge mitten im Hochtaunus vereint zwei Mittelgebirge in einem Haus, das an Martin Niemöller erinnert. Die Stilsicherheit weckt unsere Neugier, auch wenn dieser Winter mit Schnee und Eis von jeder Autofahrt abzuschrecken sucht. Der ins hessische Mittelgebirge aus- oder eingereiste Erzgebirgler aber, ein Kollege von der Internationale der Wälder, ruft und lockt in Wort und Bild. Die Präsentation mischt Holz und Heimat, Natur und Gestalt (-ung), Gestern und Heute. Es sind zahlreiche Kollegen aus der Nähe und von weiter her angereiste Gäste versammelt. Ihre Texte im Begleitheft:
Aber: Der Baum steht für sich selbst. Christhild Becker-Hock: Bin ich hier, möchte ich dort sein. Wird das Dort zum Hier, verlange ich zum Dort. Wo bin ich hier – wo dort? Bei mir. Christian Löhr: Tun und Nichtstun Handeln und Leiden Amboss oder Hammer sein? Ute Fröhner-Ludwig: Vielleicht kennt mancher noch die Namen von uns, verbreitet durch den Wind … Das Holz steht aufrecht als Zeuge seiner Herkunft, dem Baum. Aufrecht stehend die von Matthias Schmidt gefertigte Holz-Stele am Ortseingang: „Erholungsort Oberreifenberg“. Bei der Vernissage ist eine Querschnitt-Scheibe zu sehen, ein Relief: „Schwarzenberg, Perle des Erzgebirges“, eingefügt die Silhouette des Ortes. Endlich aus Fichte „Er + Sie“, statisch, verwurzelt, wortlos. („Und die Generationen blicken sich kalt in die Augen.“ Shlink in Bertolt Brechts Stück Im Dickicht der Städte.) Baumsprache. Worttod. Auf der Einladung zur Vernissage streben „Er + Sie“ auseinander. Trennung. In den Medien wird eine deutsche Einheit gefeiert. Die Trennung wechselt das Feld. Matthias Schmidt fährt zwischen Taunus und Erzgebirge hin und her. Ausstellungen in Schwarzenberg, Kronberg – Schauplätze in Ost wie West. Fortgegangen wo. Angekommen wo. Ich erinnere Kriegswälder. Bäume voller Splitter und Geschosse. Die Toten zwischen Wurzeln vergraben. Aufrechtstehen ist die Lebensform der Bäume. Sie schlafen sogar im Stehen. Werden sie gefällt, sind sie Gefallene. Es gibt Länder ohne Wald. Kahle Länder als Baumfriedhöfe. Der Holzgestalter sattelt um auf Sargtischler. Der Holzbildhauer stirbt als Letzter und kommt in die steinerne Urne. Ist der letzte Wald vernichtet, werden sie ihren Christus ans Eiserne Kreuz hängen, bis er absteigt, weil's verrostet. Die Zeichen, die Matthias Schmidt im Martin-Niemöller-Haus setzte, übersetzen die Baumwerdung des Menschen. Im Nachwort 19 und in der Folge 95 entwarf ich eine U- und S-Bahnstrecke vom Taunus nach Leipzig und retour. Warum nicht noch ein Stück von Leipzig aus die Pleiße entlang ins Erzgebirge und zurück. Da könnten wir leichter ins Innere von Sachsen reisen und auch als Auswohner Einwohnerschaft vortäuschen, die immer knapper wird. Mögen Dresden und Leipzig ihre Zahlen halten, Erzgebirge, Vogtland, Pleißen- und Muldenland laufen leer und dünnen aus. Der gesamte Osten, dieses versuchte Groß-Sachsen, leidet an einer missglückten Einheit, die den Bruch mit guten Vergangenheiten erzwingt. „Wir haben uns abgehauen“ heißt es bei Matthias Schmidt, dem Holzgestalter, der ins Niemöller-Haus lockte. Mir fällt seine Vorliebe für erektiv-einsame Gestaltungen auf. Ist das nun Schmidt-Taunus oder Schmidt-Erzgebirge? Sein Heimatort ging in die Weltgeschichte ein, weil Amerikaner und Russen 1945 mit der Besetzung zögerten. Auf kurze Zeit entstand ein freies Stücklein Erzgebirge. Darüber schrieb mein Freund und Kollege Stefan Heym ein Buch. Der junge Chemnitzer Jude, der den Nazis entkommen war, 1945 als US-Offizier zurückkehrte und 1994 den Bundestag als Alterspräsident eröffnete, war am Vortag so pünktlich wie lügenhaft von der Gauck-Behörde zum Stasi-Spitzel erklärt und verunglimpft worden. Als Heym zu seiner Rede als Alterspräsident den Bundestag betrat, erhoben sich die Abgeordneten wie üblich von den Sitzen. Kohl und seine Fraktion blieben arschfest sitzen. Ein jüdischer Linksintellektueller als deutsches Vorbild im Parlament ging hoch über ihren beschränkten Horizont. Das walte Schwarzenberg, die unbesetzte freie Zone. Ein weiteres Nachwort ist für Montag, den 19.04.2010, geplant.
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Gerhard Zwerenz
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