Das begann in Sizilien. Juli 1943 – den Tod vorher gab es nicht im Plural. Ich hing sehr an meiner Großmutter. Sie starb 1938, als ich dreizehn Jahre alt war – ein schwerer und früher Schlag, der mich traf. Vorher glaubte ich nicht an den Tod. Jetzt fühlte ich mich, als wäre ich selbst gestorben. Dann gab es fünf Jahre lang keine Toten. Der erste, den ich sah, lag auf der Straße und hatten keinen Kopf. Da ich den Jungen nicht gekannt hatte, traf mich das nicht. Rudi Hanke dagegen kannte ich gut. Wir waren schon in Utrecht zusammengewesen. Er richtete sich im Schützenloch auf und sondierte das Gelände. Der Bequemlichkeit halber knickte er leicht in den Knien ein, lehnte mit dem Rücken gegen die Grabenwand. „So kannst du den Feind nicht sehen”, warnte ich. Er blieb ganz still und hatte statt des linken Auges ein Loch. Rudi war der erste Kriegstote, den ich eigenhändig verscharrte. Am Nebentisch drehen sie weiter die Prominenz durch die Mangel, jetzt sind sie bei Thurn und Taxis, auch Tut und Tat nix genannt. Dabei war der Fürst sehr aktiv und ausgestattet mit praller Brieftasche immer auf einer ganz speziellen Pirsch. Dann hatte er eine schwere Lungenentzündung, stand in der Abendzeitung, was vermutete da der Volksmund? „Ab in den Sarg?” wirft die Jüngste vom Damenkränzchen ein. „Nein”, berichtigt ihre Nachbarin, „kein Aids, es war wirklich ne Lungenentzündung.” „Tee-und-Tee treff ich seit Jahrhunderten in jedem Nachtschuppen, neulich in New York in einem besonderen Etablissement, wo er sich um zwei junge, spitze Typen bemühte. Die klassischen Stricher, doch waren die so high, dass sie gar nicht rafften, auf welche Goldader sie bei diesem Mann stießen ... ” „Die Heirat mit Gloria passierte ja auf den letzten Drücker, der Fürst brauchte unbedingt nen Erben.” „Wieso? Kann ihm doch egal sein, was nach seinem Tode aus den Schlössern wird?” „Nicht beim Adel. In sowas sind die traditionell, da müssen leibliche Nachkommen her.” „Und du meinst, die bringt ihm jetzt dieser steile Besen?” „Gloria schafft das nebenbei, auch wenn sie immer in Talkshows und auf sämtlichen Parties rumfegt.” „Vorgestern traf ich den früheren Jungen von Bernstein.” „Bernstein?” „Leonard Bernstein. Hat der Maestro in Deutschland zu tun, treffen sich die beiden wie gewohnt. Aber nur platonisch. Ist alt geworden, der Mann, hat aber immer noch dieses starke Gesicht -” „Claudia kann vom Fenster ihres New Yorker Apartments direkt in die Bernstein-Wohnung gucken, nee, nich ins Schlafzimmer, wozu auch, da ist er doch drüber weg ... ” „Was sagst du da? Karajan auch schwul?” Ich drehe mich unempört um und erkläre kühl: „Und dazu Hildebrandt, Kroetz, Wallraff, J.R., Rühmann sowie Schmidt und Kohl –” „Und Sie?” „Ich? Mir reicht schon, dass ich mit so vielen Allerweltsarschlöchern Tag für Tag reden muss.” Die Runde verbeißt sich weiter in Karajan. Ins Feld geführt wird seine schöne, kühle Blonde – die Alibi-Arlette. Die Stimmen gehen nun wirr durcheinander – komisch ist – bei Karajan merkst du's nicht, doch Bernstein hatte zuletzt etwas leicht Tuntiges ... Ich spreche leise in mein Glas hinein: Tratsch und Trash, faktoidische Megalomanie, Zungenkrebs zum Gehirn durchwuchernd, ach, Kinder in all eurem uferlosen Gequatsche, wie seid ihr zu beneiden, in mir spüre ich das kleine Teufelchen Eifersucht. Ach ja, meine Generation grub sich gegenseitig das Gedärm aus dem Leib, öffnete einander die Hirnschalen, damit die Politiker und Generäle lustig daraus saufen konnten. Ihr habt zwar vor allem Blödsinn im Kopf, aber ihr lebt. Reines Selbstmitleid packt mich, in dem Alter war ich des verfluchten Führers Grenadier in den Pontinischen Sümpfen, malariaverseucht, die Knochen zerfetzt ... ein Volk das andere notschlachtend und ab gings zur nächsten Freibank. Im großen Rausche wendeten die Welt wir in die Eiszeit zurück. Und neben mir sitzt das junge Kroppzeug, quasselt und entrollt die Fahne des Kokains, des Konsumrausches und der gebenedeiten Genusssucht.
Ich erhebe mein Glas, kehre es um. Geleert. Der letzte Tropfen benetzt die Kulisse. Aus diesem Nektar wird eine neue Welt entstehen. Ich kapiere mit atemberaubender Geschwindigkeit, einfach durch Zusammendrücken der Zeitpartikel auf eine majestätische Fingerspanne, dass wir ein Herz, ein Abscheu und ein Untergang sind. Meine Generation hatte zu wählen zwischen Tod und Teufel, Krieg und Gefangenschaft, Hitler und Stalin. Was wir auch taten, es war falsch. Wohin wir uns auch wendeten, wir gelangten an ein fremdes Ziel, das wir nie erstrebt hatten. Meine Generation verstreute ihre Gebeine in vieler Herren Länder, nur unsere Herzen bleiben unauffindbar. Und unsere Köpfe wurden schon lange vorher requiriert. Unsere Töchter und Söhne aber haben zu wählen zwischen Hasch und Prosecco, Speed und Kokain, Pest und Cholera, Krebs und HIV. Und über allem das Ozonloch und das Atom und die Bomben und kein Wasser im Wasser und die Muttermilch vergiftet. So sitzen sie in ihren Schulstuben und Discos und Karossen und dröhnen sich zu und machen aus jedem Schnupfen einen Fall von Aids. Zwischendurch vergessen sie ihre Angst und hauen tüchtig auf den Putz. Dann treffen sie sich auf den Friedhöfen, die als Versammlungsplätze wieder in sind und werfen eine letzte Schaufel Sand in die Grube und eine Rose auf den Sarg. Machs gut, Freund, es war kein Schnupfen. Ich denke an Truman Capote, das US-Lästermaul im Quadrat. Hatte der doch die tote Marilyn Monroe von Erol Flynn behaupten lassen, der Mime habe mit dem Schwanz Klavier gespielt: „You are my Sunshine ... ” Amerika, du hast es besser, du marschierst voran auf dem Weg in die lichte Zukunft des Sex und der Verdrängung, der Mafia, Drogensucht und Kommunistenfurcht. Ich rufe den fünf so ängstlichen wie hochgemuten Figuren am Ecktisch zu: „Ihr seid alle große Poeten und weil es euch gibt, brauche ich euch nicht erst zu erfinden!” Und als ich es gerufen habe, sehe ich den toten Fassbinder vorn durch die Tür in die Kulisse kommen, und meine adrenalin- „Setz dich, Junge”, sage ich zu Rainer und denke, der hat Nerven, sich ausgerechnet jetzt wieder unter Großstadtmenschen zu begeben, wo die Gefahren sich potenzieren und die Seuche seucht. Seine alten Kumpane werden Augen machen, wenn sie ihn sehen. Wird das eine Aufregung geben in der Deutschen Eiche, in Lederkneipen und Schwulentreffs. Und er, als hätte er meine Gedanken erraten, was diese vom Tode Auferstandenen laut neuerer Horrorliteratur ja können, er also mit dröger Stimme halblaut vor sich hinmurmelnd: „Ist nicht mehr viel los in der Szene ...” Hatte er sich also schon umgetan und wusste Bescheid. „Ich glaub, ich bin genau im rechten Zeitpunkt abgetreten, nach mir die Sintflut...” Er lacht meckernd, mit leicht eingerosteter Stimme. „Nicht die Sintflut, Rainer, aber Aids, Bürgerkrieg und keine Arbeit. Das wird schlimmer als die lässige Flut.” Ich bestelle einen Whisky für ihn, für mich einen Roten. Informiere ihn im Stenogrammstil über den Schwabinger Wasserstand. Er kann sich nicht recht daran erwärmen. Kein Wunder, nach so langer Lagerung in der Kälte. Ich entschließe mich, ihm Mut zu machen. Auch Tote wollen leben, haben sie sich erst dazu entschlossen, ich war schon immer ein Humanist. „Lass dir wegen diesem Dingsda, dem Aids bloß keine grauen Haare wachsen, dich betriffts schließlich nicht, soweit meine anatomischen Kenntnisse, was Lemuren anbelangt, reichen. Als Toter auf Urlaub gehst du unbeschädigt durch die Zeit wie der Wind durch die Ruinen des Nürnberger Reichsparteitaggeländes. Keine Ansteckungsgefahr, Junge, mangels realer Berührungspunkte und -flächen. Im übrigen finde ich den Schulausflug an deine früheren Wirkungsstätten mutig. Deutschland zum Jahrtausendende. Das soll dir erstmal einer nachmachen, zumal du seit Jahren luxuriös auf dem Friedhof wohnst. Ich hoffe nur, du besuchst deine liebe Mutti in der Possartstraße und gibst ihr wegen ihres Interviews eins auf die keusche Nase. Also lassen wir jetzt unerörtert, dass das Zeitalter der Fliegen und des Fliegendrecks begonnen hat.” Er hockt am Tische, brütet abgeschieden vor sich hin, ganz wie in alten Tagen, ist schlecht rasiert und riecht nach Whisky. Hanna Schygulla schwebt vorüber, leicht abgehoben, ein Engel mit Füßen, die den Boden nicht berühren. „Hallo Rainer”, dringt ihre Flüsterstimme aus den ozongeschädigten oberen Luftschichten, und sie fliegt weiter, wahrscheinlich muss sie pinkeln. Jetzt taucht in der Ferne Kurt Raab auf, vormaliger Lieblingsfreundfeind, Schauspieler, Seelenanalytiker, ich winke ihm verstohlen zu, einen Wutausbruch des Heimgekehrten befürchtend. Obendrein treibt die stolze Ingrid Caven herbei, das gibt ein Schlachtfest, denke ich erbleichend, die beiden waren mal verheiratet. Rainer, zum Glück im Tode noch ebenso kurzsichtig wie im Leben, guckt mürrisch umher, schnuffelt, schnieft, zieht ein Döschen aus der Lederjackentasche und sich die übliche Dosis rein, was mich leicht enttäuscht denken lässt, dass Sterben auch nicht von allen Süchten heilt. Jetzt naht festen Schrittes die germanische Lichtgestalt Joachim C. Fest, der Republik berühmtester Rechtsumintellektueller, Journalist, früherer FAZ-Herausgeber, Verleger, Spiegel-Bild-tv und Filmdrehbuch-Zulieferer, der über Hitler allerlei hochgerühmte Standardwerke fabrizierte und sich von des Führers Lieblingsarchitekten entzückt auf den Rollmops laden ließ, weil Speer so anheimelnd bürgerlich parfümiert roch, während er die auf Himmlers Befehl äußerst knappbemessenen Konzentrationslager-Baracken entwarf und deren Bau überwachte. Indessen gab Speer später auf Fest's höflich-devote Fragen manierlich Auskunft. So perfekt hatte er schon im Nürnberger Prozess gelogen. Fassbinder wirft einen relativ uninteressierten Blick auf den Überdeutschen. Ist das die komische Figur, die uns beide zu antisemitischen Moskau-Buben ernannte? Rainer improvisiert frei von der Leber weg, in seiner Kindheit schon hatte er sich in Lyrik versucht: Der Tod ist ein festgebrannter Hitlerjunge aus Deutschland, der sich aus des Führers Bunker an der Nase direkt auf den nächsten Heldenfriedhof führen lässt ... Der Tod ist ein Architekt aus Deutschland, der seinen Hagiographen liebt wie der ihn, wenn im Land der toten Seelen, das sie ihren Himmel nennen, die Hölle los ist ... Während der Filmemacher sich in sorgfältig gewählten Worten ergeht, taucht plötzlich Hermann Kant auf, erblickt J.C. Fest und erstarrt zur volkseigenen Salzsäule. Ich mache Kant mit Fassbinder bekannt, weise mit des Daumens Schräge auf den Hitler- und Speer-Biographen und erläutere: Für ihn kann ich nichts. Hermann Kant steht immer noch da wie schockgefrostet. Er ist vom Umkreis der Stalin und Honecker an viel Schrott gewohnt, doch unser Münchner Treffen mit dem genasführten Naseweis geht ihm an die Nieren. Verstohlen frage ich mich, ob ich korrekt im Gedächtnis habe, dass Fest der große Historiker ist, der bei der Münchner Räteregierung nachzählte, wie viele Juden daran beteiligt waren. Beiläufig informiere ich Fassbinder, der das schöne Detail für seinen übernächsten Film vorsieht. Die Geschichte geht noch weiter, worüber ich gelegentlich berichten werde. Jetzt nur soviel: Unerwartet erscheint Sebastian Haffner in unserer dissonanten Runde, erblickt Fest und begrüßt ihn formvollendet mit „Guten Tag, Herr Speer!”, was den Angesprochenen vor Stolz erröten lässt. Ich bin mir jetzt vollkommen sicher, falls dieser Fest einmal sterben sollte, würde Albert Speer am Heldengrab die Trauerrede halten. Noch aber ist es nicht soweit, und um uns herum brummt und dröhnt das satte Großstadtleben der beliebten südlichen Metropole München, dieser Leberkäsfettfleck des deutschen Vaterlandes überdauert alle Höllenzeiten. Rainer mustert die im Staunen erstarrten Yuppies am Ecktisch nebenan und all die Maxe und Faxe und Nixen, die im Lokal sitzen und tuscheln und nicht die Bohne merken, dass sie selbst und Fassbinder und ich und Marylin Monroe, Truman Capote, Hanna Schygulla, Hitler, Fürst von Thurn und Taxis, Stalin, Karajan, Bernstein und Prinz Charles, Krebs und Aids alle miteinander schon so ungefähr seit Jahrtausenden vergangen und verwest sind, geronnene Erinnerungen des Schwabinger Märchenklatsches, noch einmal hervorgeholt von einem Sachsen zur erschaudernden Belustigung der Nachgeborenen, aufgeführt als leichtfüßig-leichtfertige Komödie (Regie Franz Xaver Kroetz) in den Münchner Kammerspielen gleich hinter der Kulisse. Ich bin mir sicher, RWF ist nur aus Versehen im Nachkrieg in Bayern geboren worden. Er hätte ebenso an der Pleiße auf die Welt geworfen werden können. Und dann seinen unaufhaltsamen Lauf begonnen:
Da ich dies zitiere, entdecken meine frühlingsgeröteten Allergie-Augen, ich schmuggelte damals dem Knaur-TB ein langes RWF-Epos rein. Und weil mich der Teufel holen soll, ließe ich ne neue Ausgabe zu, sollen hier zum Abschluss daraus ein paar teure Verslein vom schönen Abgang stehen:
Am Sarge sah man sie vereint im Leid. Am Montag, den 12. Mai 2008, erscheint das nächste Kapitel.
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Gerhard Zwerenz
Serie
Nachworte
Aufsatz
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