Parade der Wiedergänger
Mit schnellen Trippelschritten nähert er sich, und Martin erstattet Meldung.
Überfallen? Alle tot? schreit der Oberst. Er riecht nach Parfüm und Käse, und wie ich ihn mir näher ansehe, stelle ich fest, er hat auch nur seine Skelettknochen in der Uniform. Trotzdem wütet und brüllt er herum. Es passt ihm nicht, dass er nach dem Überfall auf die Kaserne nur noch aus Knochen besteht. Er hätte eben vorher sein Fleisch mehr achten sollen, aber er musste ja immer stramm und zackig dahermarschieren, da wird das Fleisch sauer. Mit den Augen hat er sich auch benommen wie eine wilde Sau. Keinen Blick für den Menschen, keinen Sinn für das Menschliche. Was Wunder, wenn da nur das Skelett übrigbleibt.
Er stakte mit seiner vormals gutsitzenden Maßuniform, die ihm jetzt viel zu weit war, durchs Tor, die Soldaten, die ihm begegneten, blieben wie vom Blitz getroffen starr stehen und hoben die Hand an die Mütze. Als ich nähertrete, erkenne ich, die Kameraden sind alle nur noch nackte Knochen. Hat es euch auch erwischt? Jawohl, erwischt. Aber wir sind nur einfache Menschen, kleine Normallandser, da kommt so was immer wieder vor, der Oberst jedoch, der kann uns schon leid tun, so ein feiner Herr, wenn der kein Fleisch mehr auf den Rippen hat, das ist wirklich ungerecht. Da hätten die holländischen Widerständler Rücksicht nehmen können. Soldaten killen und werden gekillt, hohe Offiziere aber sollte man ausnehmen. Sie schnatterten aufgeregt, ihr Mitleid mit dem Oberst war goldecht. Ich hatte noch keine feste Meinung, hörte mich nur überall um. Sogar den dicken Feldkoch hatten sie mitgekillt. Er stand mit seiner Schöpfkelle am Ausgabefenster und blickte finster aus augenleeren Höhlen. So eine Schweinerei! So eine unmenschliche Sauerei! Diese Verbrecher! tönte es aus seinem toten Mund. Die holländischen Frauen, die in der Küche arbeiteten, steckten die Köpfe zusammen und flüsterten schadenfroh. Sie waren die einzigen, die noch ihr Fleisch in den Klamotten stecken hatten. Mir schien sogar, sie hätten heute mehr Fleisch als sonst. Jetzt kam meine Wachkompanie anmarschiert. Lauter fesche Jungs von siebzehn, achtzehn Jahren, und alle in ihrer prächtigen Ausgehuniform. Das Tuch schlotterte um die dünnen Skelette. Die Unteroffiziere grinsten mit extragroßen Zähnen. Die Stahlhelme klapperten auf den Schädelknochen.
Achtung, die Augen links! kommandierte eine durch und durch gehende Stimme. Auf das Kommando hin wandten alle die glänzenden Stirnen zu mir und paradierten an meiner Wenigkeit vorbei. Das ist gewiss, weil ich noch voll im Fleische stecke, dachte ich und salutierte. Ein Lied! kommandierte die Stimme. Zwei – drei – befahl die Stimme, und dann brauste der Marschgesang aus den fröhlich aufgerissenen Kiefern: Es ist so schön Soldat zu sein, Rosemarie ... Sie sangen wie in alten Tagen und als ob gar nichts geschehen wäre. Mir war klar, sie würden immer so marschieren, ob tot oder lebendig, ob mit oder ohne Fleisch auf den Gliedern, Hauptsache sie besaßen ein Vaterland, eine Kaserne, und eine Fahne flatterte ihnen wild im Winde voran. Auf alles andere konnten sie zur Not verzichten. Es waren im Grunde genommen alles anständige, einfache, reichlich bedürfnislose Gesellen. Wenn sie mal einen draufmachen konnten, ihr Bier und einen Schluck Schnaps erhielten, eine Eiserne Ration für Notzeiten im Brotbeutel trugen und den breiten Rücken ihrer Korporäle vor sich erblickten, dann waren sie unaufhaltsam. Man konnte sie an den Nordpol schicken, in die Höhen des Himmels und in die Tiefen der Ozeane, sie befolgten jeden Befehl, und sei es der irrsinnigste, und sie kehrten auch vom selbstmörderischsten Auftrag wieder zurück in ihre Standorte. Während die Kompanie stramm und fest an mir vorbeiparadierte, überkam mich fast eine Art Rührung und Stolz, und ich spürte, wie mir die heißen vaterländischen Tränen in die Augen traten. Meine Rührung überwindend fällt mir auf, der letzte Trupp steckt in so neumodischen NATO-Klamotten, nur die blanken bleichen Knochen sind von der alten Machart. Zogen die Wehrmachtskameraden diszipliniert vorüber, wandern die aktuellen Toten, diese Vorhut des 3. Weltbürgerkrieges, gemächlich Richtung Berlin, wo Minister Jung ihnen auf dem funkelnagelneuen Bundeswehr-
Der Wecker klingelt. Ich muss aufstehen. Immer diese dummen Träume, Kameraden.
Bei einem Treffen in Tübingen zeigte Walter Jens sich unzufrieden mit Malapartes Büchern. Unser liebenswerter Rhetorik-Walter ereiferte sich besonders über Malapartes Manier, Tote auferstehen zu lassen. Auf der Heimfahrt fragte Ingrid nach dem Grund meiner Verstimmung. Meine Antwort: Malapartes Vater war ein Schuster aus Sachsen, ich mag nicht, wenn ein halbsächsischer, halbitalienischer Dichter beleidigt wird!
Tatsächlich standen mir im Krieg die Gefallenen, deren Tod ich erlebte–überlebte, kaum waren sie in der Erde verbuddelt, wieder auf. So sprach ich weiter mit ihnen. Wer das kennt, wird nie mehr einsam sein. Die Parade der Wiedergänger hatte ich längst in vielerlei Szenen im Kasten. Walter Jens urteilte da als Papiertiger, wo ich als Überlebender reagierte.
Sogar aus der ewig kapitalträchtigen FAZ tönte es: »Zwerenz' autobiographische Berichte sprechen die elementaren Bedürfnisse, die sonst verdrängt und von Hemmungen niedergehalten werden, ohne Rücksicht aus.«
Die verständigen Sätze stammen vom exquisiten, ausgewiesenen Literaturkenner Josef Quack, weiß der Himmel, wie der Diamant unter die FAZ-
Sein Familiennamensvetter Gerhard Schröder war in diesen vergangenen Zeiten auch nicht von Pappe.
Notiz vom Herbst 1997:
Träge Sitzung am Nachmittag im Plenum des Bonner Bundestages.
Diffuses Redegeplätscher. Auf den Sitzen der Bundesländer lümmeln drei Herren. Einer blickt sich um, erhebt sich und steigt zielstrebig herauf. Heinrich und ich hocken separiert beiseite, weil's etwas zu klären gibt. Der Herr hält direkt vor uns, streckt die Hand aus: Ich wollte doch mal die beiden Dichter des Hauses begrüßen! Joviales Lächeln. Ungenierte Annäherung, obwohl im Raum weithin sichtbar. Wir sind verwundert, derart nicht befeindet zu werden Erst jetzt erkenne ich, der fremde Herr ist der Ministerpräsident von Niedersachsen. Ich schnoddere: Wir sind hochfeudale Rote – Einsiedel als richtiger Graf und ich als Pornograf! Drei Männer im arglosen Gelächter vereint. Herr Schröder stapft weiter. Heinrich blickt ihm leicht erstaunt nach, wendet sich zu mir und fragt: Wer war das?
Ich hatte Schröder auch nicht auf Anhieb identifiziert. Das sage ich nicht nur, weil Einsiedel die kleine Szene ungern zugibt und, berichte ich davon, alles in Abrede stellt. Nach den Wahlsendungen von 1998 und dem anschließenden Regierungswechsel mit tagtäglichen tv-Auftritten Gerhard Schröders mag der Vorfall kaum noch nachvollziehbar sein. Jede und jeder kennen ihr Schröderchen. Doch ich beschwöre meinen Bericht in jedem Detail. Denn zwischen einer Fernsehfigur und der realen Gestalt klafft eine nicht unbeträchtliche Differenz. Die Kamera vergrößert und verkenntlicht die Gesichter zum Charakter hin. Die Macht auch. Da kann einer als Zwerg antreten und als Riese herauskommen, Oder es kann einer erst groß und mächtig werden, nachdem er sein Gesicht verloren hat, ohne die geringste Spur von Trauer zurückzubehalten.
Dass Heinrich die kleine Szene mit Gerhard Schröder nicht bestätigen will, bedauere ich deshalb, weil wir uns gleich nach seiner Frage und meiner Antwort noch einen kurzen Disput leisteten. Erst wollte Heinrich meiner Auskunft nicht glauben, als der Fall aber klar geworden war, gerieten wir beide in einen so unbremsbaren Lachanfall, dass wir schleunigst das Plenum verließen, denn am geheiligten Ort wirkt Heiterkeit destruktiv.
Die Unkenntlichkeit des realen Gerhard Schröder gegenüber dem später öffentlich übers Fernsehen zur Schau gestellten, die Einsiedel irritierte und mich anfangs ebenfalls verunsichert hatte, die doch im Nachhinein dementiert zu sein scheint, weil der vom niedersächsischen Ministerpräsidenten zum Bundeskanzler aufgestiegene Bildschirmprominente alle Kanäle besetzt hält wie Christus, Goethe, Bismarck, Adenauer und Kohl zusammenaddiert, diese von der Unkenntlichkeit zur vervielfältigten Unübersehbarkeit eskalierte Person steht doch in Gefahr übermäßiger oder bloßer Virtuellität, hinter der die Gestalt erneut in die Unkenntlichkeit zu entschwinden droht. Was ein Regierender verspricht und was er davon zu halten vermag oder gewillt ist, ist offensichtlich zweierlei. Wer weiß, ob die Wähler nicht bald Einsiedels Frage erneut stellen werden: Wer war das?
Aber nein, inzwischen kennt alle Welt Putins Gas-Genossen, und das ist auch das Allerbeste am kalten Basta-Sozi.
In den vorangegangenen Folgen 52 und 53 erinnerte ich mich an den Konflikt wegen einer Veranstaltung vor 20 Jahren in Fulda. Jetzt, am 18. Oktober 2008, lernte ich in der Bischofsstadt ein aufgeschlossenes, liberales Publikum kennen, weit entfernt vom CDU-Django Hauptmann Alfred Dregger und dem Militärbischof Dyba. Beide Herren gingen inzwischen heim zu ihrem Herrn. Bei der Lesung erfreute ich mich an der aufgelockerten Atmosphäre und gedachte fast wehmütig der einstigen Feinde. Möge ihnen ihre christliche Unsterblichkeit leicht werden.
Heutzutage sind wir das Auftreten von Toten als Untote, Wiedergänger, Vampire und was es sonst an virtuellem Personal im teuflischem Alltag der bürgerlichen Langeweile und dem christlichen Armageddon gibt, derart gewohnt, dass uns ihr Fernbleiben in höchste Unruhe versetzte. Schon dichtet der Volksmund: An Merkels NATO-Wesen soll die Russen-Welt genesen. Das erinnert mich an die 27. Folge unserer Serie mit der Passage über die Leipziger Buchmesse in diesem Frühjahr: »Mit Ingrid und 10000 Frühaufstehern :schlendern wir am Sonnabendmorgen, dem 15. März 08, durch die bereits gut gefüllten Messehallen – freie Kostümwahl herrscht ringsum, zu bestaunen sind schwarz- oder weißgekleidete Gespenster, unzählige Mangas, die heftig importierte japanische Comic-Variante und alle übrigen bunten Comic-Figuren mit oder ohne Larven, dazwischen Ritter samt Burgfräulein– eine Jugend ohne Gegenwart auf angestrengter Suche nach irgendeiner Identität. Nach und nach rücken immer mehr Grufti-Gruppen an, auch Satanisten und zum Ausgleich Engelshaarengel in züchtigen Gewändern. An der Seite Scharen von Mädchen und Jungen, die Gesichter gepudert, das Gebein frisch geweißt, die Nabel babyhaft intakt als wäre die Schnur grad abgezwackt und alle zusammen präsentieren eine friedfertige, singvogelhaft zwitschernde Jugend Sachsens im Aufbruch zum Märchenland Ichweißnichtwo.« Indem ich die Sätze zitiere, weiß ich genau, was ich beim Anblick der Leipziger Mangas und Gruftis dachte und fühlte. Die Wave-Gotik-Treffen zu Pfingsten an der Pleiße mit ihren Varianten von weiß oder bunt gekleideten Comic-Figuren bis zu den nachtschwarzen Satanisten signalisieren ein Bedürfnis nach Abschied von Erdenschwere. Die Alten werden von Toten begleitet. Die Jungen nehmen, Theater spielend, ihre Zukunft vorweg. Meine uniformierten Soldatenskelette sind nichts anderes als die Dekonstruktion des Soldaten per vorauseilender Phantasie.
Ferne Freunde
(1985) Wenn ich mitten auf der Straße mich so umblicke, sehe ich immer wieder welche, die längst gestorben sind. Ich beobachte sie über längere Zeiten. Erst gaben sie ihren Geist auf. Dann ihr Fleisch. Schulterhebend schlüpften sie aus ihren Knochen. Ganze weite krumme Friedhöfe ragen in meine Augen. Lazaretten nahm ich die Parade ab. Ich grüße mit fester Haltung. Wie gerührt ich bin, soll man mir nicht ansehen. Vielleicht hilft seelisches Strammstehen. Viele Totenregimenter marschieren vorbei. Gestern erblickte ich ein langvertrautes gutes Gesicht. Ich erkannte es und erkannte es nicht. Wir sprachen die alten Losungsworte. Wir stellen die alten Bewegungen nach. Wir nannten uns beim Vornamen. Wir haben umgebracht und wurden umgebracht. Ortlos irren unsere wehmütigen Gefühle durch das Vergessen. (Die Venusharfe) PS: Die erste Szene dieser 54. Folge hatte ich in Heft 21 von Ossietzky am 18. Oktober 08 vorveröffentlicht. Zum selben Zeitpunkt starben erneut zwei Bundeswehrsoldaten in Afghanistan durch Feindeinwirkung. Sie nehmen nun als Traumskelette im geschilderten Trupp von Wehrmachts- und BW-Toten an der Wiedergänger-Parade teil, um ihre Namen auf dem Berliner Ehrenmal für Bundeswehr-Gefallene einmeißeln zu lassen.
Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 3. November 2008.
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Gerhard Zwerenz
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