Im Jahr 2008 lesen wir Jonathan Littells Roman Die Wohlgesinnten, in dem der fiktive SS-Offizier Max Aue »die wahre Geschichte des Holocaust« erzählt, eine Zusammenfassung vieler Bücher und Akten als Verdichtung der einzelnen Morde und Massaker zur universalen Hölle. In Frankreich, wo dieser postmoderne Dante zuerst aufbrach, zeigten sich viele Kritiker und Leser fasziniert. So stellen sie sich den germanischen SS-Intellektuellen vor: Maschinengewehrhirn mit PC-Dimensionen, depraviert, dekadent, amoralisch, inzestuös mit hinterladerischer Frequenz, klavierspielend, philosophisch plappernd. Wie wird darauf das Echo östlich des Rheins sein?
Die üblichen Medienoffiziere von Schirrmacher bis XY sind schnell an Deck gewesen, die FAZ riskierte einen so kessen wie verlegenen Teilvorabdruck. »Littell hat die Sprache der Henker erfunden«, orakelt das Blatt am 28.11.07 so falsch wie laut. Vom SS-Roman wird gefaselt, bis Klaus Theweleit am 24.2.08 in der FAS der »deutschen Literaturkritik« Versagen attestierte, den anderen Horizont andeutend, geht es um die deutsche Rache an den Sowjets oder den Neid auf die Juden, wird das virulente »strukturelle Herrenmenschentum« erwähnt. Littell spart derlei aus, indem er die Vorgänge für sich selbst sprechen lässt, was dem Leser eine kühle Urteils- und Leidensfähigkeit zuweist, wo nicht aufnötigt, weil er zu oft bemerkt, wo die Quellen liegen und wie willkürlich sie genutzt werden, ja wie fragwürdig manche Quellen selbst gewichtet sind, was in der furiosen Romanfassung zwangsläufig untergeht. In den weiteren Kritiken gab es erstaunlich kluge Diagnosen, Hochachtung und krasse Ablehnung, was das höllische Werk in der Diskussion hält, während Enzensbergers Deutung des General Hammerstein und dessen Stillstand zwischen Braun und Rot den Horizont deutscher Intelligentsia soweit überstieg, dass mit dem Bestseller- Wir blenden zu Littells Buch Die Wohlgesinnten und gleichzeitig zu meinem Roman Kopf und Bauch von 1971 zurück. Vier Jahrzehnte vor Littell hatte ich die frommen Bibelsprüche satt und ein Loblied auf die so mordsgeile wie mordslustige Moderne unserer internationalen Kriegsgeschichte gesungen: »Das Morden ist uns in Fleisch und Blut übergegangen, die Roheit hat die feierlichen Formen des Anstands und der Pietät angenommen. In Wirklichkeit ermorden wir jeden Verstorbenen und töten ihn gleich ein zweites Mal. Die noch nicht Verstorbenen aber, die unverständlicherweise, peinlicherweise, überflüssigerweise noch Lebenden, bringen wir Stück für Stück um, indem wir sie krank machen, administrieren, reduzieren, unter Vertrag nehmen, unter Kuratel stellen, für krank erklären, vor Gericht bringen, auf eine Klasse, Stelle, Rolle festlegen. Die Leidenschaft des Mordens bekommt uns gut. Mörder zu sein – wie gern und unablässig wir uns darin versuchen. Wie beleidigt wir sind, versuchen sich andere an uns. Die gesamte Gesellschaft besteht aus zwei Klassen – jungen und alten Mördern. Die alten Mörder überlassen wir sich selbst. Die jungen Mörder sollten wir, der Gerechtigkeit halber, als die guten Menschen des Zeitalters feiern. Die jungen Mörder, wenn man sie nicht verhindern kann, soll man sie wenigstens ehren, denn es handelt sich nicht um Resultate eigenen Tuns und Nachdenkens, wie ihre Morde nicht Taten egoistischer Berechnung sind, nein, die jungen Mörder werden abgerichtet und erzogen. Wenn es eine Wertung für selbstlosen Egoismus gäbe, so nähmen sie in dieser Tabelle den obersten und wichtigsten Platz ein. Die jungen naiven gutgläubigen Nazisoldaten mordeten nicht aus Bosheit oder Sadismus oder Lust am Morden, nein, sie mordeten im Glauben an das Gute ihrer Taten, sie taten wahrhaftig Gutes, wenn sie umbrachten, und die jungen Nazimörder aller Herren Länder und der Herren aller Länder gleichen ihnen darin, wenn sie Kinderleichen produzieren und Frauenleichen und Männerleichen. Im tiefsten Grunde ihres Herzens liegt die Kraft einer Gläubigkeit, die sie zu Heiligen macht, und dieses sakrale Gefühl der Weihe setzt sie in den Stand zu foltern, zu morden, in aller Unschuld weiterzuleben, als seien sie in ihrem Wesenskern unbetroffen von dem, was sie tun. Sie sind es auch, denn die Heiligkeit ihres Mordens folgt aus der Heiligkeit ihres Auftrags und Glaubens, dies eben macht sie selbst zu Opfern, sie töten nicht, sie, die Werkzeuge der Gnade, nehmen unsägliche Leiden auf sich, wenn sie den Tod verbreiten, ja, sie leiden mehr und wirklicher als ihre verblutenden Opfer, denen die Gnade erwiesen wird. Morde begehen, nicht zurückweichen vor dem Auftrag, nicht zweifeln an der eigenen Heiligkeit, dies bringt die höheren Weihen. Wie einfach haben es demgegenüber die Opfer, die nur die Zerstörung ihres Leibes aushalten müssen und hernach erlöst sind von allen physischen Bürden. lch habe sie gut verstanden, die jungen Mörder, wo sie mir begegneten, als Angehörige dieses oder jenes Heeres, dieser oder jener Partei, ich sah den bleichen Zug der Erschöpfung, die Leidenschaft göttlicher Skrupellosigkeit in ihren zarten Gesichtern, sah das vergossene Blut an ihren Händen, ich nahm ihre reinen Herzen wahr und hellen Blicke, diese hinreißenden Zeichen der Aufrichtigkeit und Erwählung. Die Opfer wurden nicht umsonst gebracht, die Länder nicht vergeblich verloren. In den Ascheresten der verheizten Städte und Knochenhaufen erschlagener Armeen glimmt der Funke überirdischer Schönheit fort.« Dies meine Botschaft aus dem Jahr 1971. Hand aufs Herz, wäre die Nachricht von der überirdischen Schönheit und Reinheit der Mörderseelen, welcher Nationalität sie auch entstammen mögen, nicht ein so passendes wie prophetisches Vorwort zu Littells Buch? Müsste es nicht Wir Wohlgesinnten heißen? En kleiner Sachse von der mickrigen Pleiße sagte voraus, was ein jüdisch- In diesen Fragen fühlte ich mich zuständig, weil wir, die Ostdeutschen insgesamt, die Vertriebenen aus den verlorenen Gebieten inbegriffen, das ganze Kriegs- und Besetzungs-Elend erlebt und erlitten hatten. Deutschland als Schmerzensreich war auch darin geteilt, und es war nie ein heiliges, einiges Reich. In den Vorabdrucken bedachte die FAZ ihre Leser der Reihe nach mit Enzensberger, Littell, Walser, alle Zeitzeugen luziferischer Weltdramatik, wenn auch dramatisch absteigend von den Weltkriegen zur genitalen Wiedergeburt Goethes in Walser. Die Zeitreise geht übern Bodensee bis ins böhmische Bäderdreieck, wo der alte Knabe Wolfgang der zarten Jungfrau Ulrike nachstellte, was Martin daheim mit Blick in den mannshohen Spiegel ausprobierte – wer steht hier auf und was? Aber ach, statt dass sich bei ihm etwas regt, regt sich bei Elke Heidenreich sprachlich einiges über frühere Walser- Merkel düste kurz mal nach Moskau. Schlagzeile: »Putin gegen größere NATO«. Hatte sie, zumindest als FDJ-Sekretärin, nicht gelernt, Russen reagieren auf Feindpanzer in Moskaus Sichtweite etwas unduldsam? Auf der FAS-Seite ein lesenswerter Artikel übers florierende Mordsgeschäft der US-Söldner, z.B. Falludscha. Im März 2004 fuhren 4 Blackwater durch die Stadt und fanden ein zünftiges, wenn auch unrühmliches Söldner-Ende – »bis die amerikanische Armee zurückschlug, die Toten von Falludscha blutig rächte und die Stadt zerstörte.« Es war nicht die SS und nicht die Wehrmacht, und Nürnberg ist weit weg vom Irak. Todenhöfer hilf? Heute in den ersten Jahren des 3. Jahrtausends laufen wieder allerhand Fahnenschwenker herum, schwafeln vom Patriotimus und dem Tod fürs Vaterland. Ich entdeutsche mich, wenn das um sich greift, zum sächsischen Patrioten im Ausland und rufe: Komiker aller Länder vereinigt euch in Lachstürmen. Das ist meine Erleuchtung. Salut Saxonia! Karl May schrieb nach seinen Abenteuerromanen eine Reihe strikt pazifistischer Bücher, die auf den kriegerischen Zeitgeist zielten, in Gemeinsamkeit mit Bertha von Suttners Roman Die Waffen nieder! Was wurde aus allen diesen Mühen? Der 1. und 2. und der heute anhaltende 3. Weltkrieg. Höchste Zeit also, dass sowohl Suttner wie May aufstehen müssen. Und unsere Pazifisten Tucholsky und Ossietzky dazu, die das Erbe der Weimarer Republik und gegen deren Hitler-Nachfolger fortsetzten. 1933 wurde die Linke ausgeschaltet, um ungestört Krieg führen zu können. In Sachsen gibt es heute eine starke Linksopposition, die zur Klasse der Unberührbaren verurteilt wurde, und so blühte dort weniger die Landschaft als die eingewanderte Korruption. Nachdem wir fragten, ob Leipzig und Chemnitz bald chinesisch würden, reiste Milbradt prompt ins Land der Mitte, wo der kommunistische Kapitalismus gedeiht. Aber Vorsicht, ihr Christengenossen, im roten China droht bei Bestechlichkeit und Günstlingswirtschaft die Todesstrafe. Da wir sie als Pazifisten strikt ablehnen, sollte der sächsische Ministerpräsident in Peking die Begnadigung verurteilter Kapitalisten und Funktionäre erwirken und sie nach Sachsen mitnehmen, damit die hauseigene Korruption lernt, wie Landschaften im chinesischen Eiltempo zum Blühen gebracht werden können. Da aber wird Milbradts Rücktritt als Ministerpräsident gemeldet. Gestolpert über die eigene Landesbank. Dabei brauchte man zehn Landesbanken, um aus dem Vereinigungsschlamassel rauszufinden. Das wäre eine chinesische Lösung. Als Nachfolger gilt ein sorbischer Sachse. Der erste Eingeborene als Ministerpräsident? Er sollte einen Dreierpakt mit Polen und Tschechien anzielen. Auf zur Wiedergeburt von August dem Starken, der mit den Polen gut konnte. Vielleicht wagt es dessen später Nachfolger Stanislaw Tillich, Frau Steinbach in Rente zu schicken. Zu Littell neue bestürzende Informationen. Am schnellsten vorige Woche der Spiegel über Leon Degrelle, den belgischen Faschisten und SS-Offizier, von dem Hitler schwärmte, er hätte so einen gern als Sohn gehabt. Wir werden auf die süßsaure Komik zurückkommen. Vorerst nur soviel: Indem Littell diesem Degrelle einen Extra-Essay von 144 Seiten spendete, wird die fiktive Hauptfigur Max Aue im Roman Die Wohlgesinnten noch fragwürdiger. Max Aue ist schwul, inzestuös, sadomasochistisch, rundum ein Abgrund, Degrelle dagegen ein verheirateter Faschist und Soldat, wo nicht Held, wie von Goebbels erfunden. Nehmen wir Littell als konträren Orwell, dessen Roman 1984 als linke Realfiktion der rechten Realfiktion Littells gegenübersteht oder sie komplettiert, so wird die Figur des Dr. Max Aue noch unpassender. Der reale SS-Typ reichte vom hochintelligenten Dr. Otto Ohlendorf bis zur Banalität des Bösen, wie Eichmann von Hannah Arendt gezeichnet wurde. Die Steigerung ins Reich des Marquis de Sade ist unnötig und politisch falsch. Die Monster sind durch die Bank von Natur normale Menschen wie du und ich. Dies ist das Erschreckende. Indem Littell seinen Dr. Aue überzeichnet, signalisiert er, die Figur in ihrer Tatsächlichkeit sei ihm nicht entsetzlich genug. Während ich das niederschreibe, wird es mir zugleich fraglich, nicht weil ich unsicher bin, sondern aus genauer Kenntnis. Vor dem Mauerfall sendete der HR-Hörfunk meine Trilogie der Schuldlosen. Das Mittelstück heißt Dialog unterm Galgen. Der Sender dazu: »Der Fall Ohlendorf basiert auf Protokollen der Nürnberger Prozesse. Der Massenmörder Prof. Dr. Ohlendorf erklärte 1945 dem ihn vernehmenden amerikanischen Marineoffizier, er habe die Kriegszeit in Berlin verbracht, ›mit Ausnahme eines Jahres‹. Auf die Frage, was er in diesem Jahr getan habe, antwortete er: ›Ich war Chef der Einsatzgruppe D.‹ Auf die weitere Frage, wie viele Männer, Frauen und Kinder er mit seiner Gruppe umgebracht habe, lautete die Antwort: ›Neunzigtausend.‹« Littells Roman basiert in wichtigen Passagen auf Ohlendorfs und Degrelles Aussagen und Zeugnissen. Beide sind gehorsame Intellektuelle. Den Protokollen vom Nürnberger Kriegsverbrecherprozess ist zu entnehmen, Ohlendorf, der von seinem Kommando 90.000 Menschen erschießen ließ, brachte keinen einzigen mit eigener Hand um und rühmte sich, durch strenge Aufsicht Grausamkeiten verhindert zu haben. Ein zartfühlender Massakreur. Die Trilogie führte zu einem überraschend großen Hörer-Echo, wurde mehrfach im In- und Ausland gesendet, diskutiert, von Theatern und Schulen genutzt. Mit der deutschen Vereinigung erlosch plötzlich das Interesse. Ich hatte Ohlendorf wohl zu exakt gezeichnet. Die Hörer reagierten damals betroffen und nachdenklich. Die Medien verlangen inzwischen nach mehr Übertreibung und inszeniertem Horror. Fazit: Aus Ohlendorf wurde Dracula. Aus Degrelle Dr. Mabuse. Und dann läuft alles wie geschmiert. Hans machte links um, und solche Szenen sind es, die ich in Littells Roman vermisse. Am Montag, den 28. April 2008, erscheint das nächste Kapitel.
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Gerhard Zwerenz
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