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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | 46. Nachwort
Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
46. Nachwort |
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Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
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Schon im 1. Weltkrieg sagt
Karl Kraus den Untergang
der Menschheit voraus.
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Die Dekonstruktion ist ein Geheimnis. Alle reden verschieden darüber. Keiner weiß alles. Das Rätsel zu enthüllen läuft auf eine Geheimoperation hinaus. Der Ausgang ist offen. Du stehst am Ende vor Kafkas Tür, auf der zu lesen ist: Vor dem Gesetz! Der Türwächter, eine beamtete Seele, halb Stasi – halb BND, warnt den Einlass begehrenden Mann aus dem Volk: Gehst du durch diese Tür, wirst du vor der gleißenden Helle des dritten Raumes erblinden. Inzwischen wacht Kafka in Leipzig vorm Eingang zu Auerbachs Keller, wo Kollege Goethe seinen Faust aufführen lässt, der von Dr. Mephisto begleitet wird, um die Jungfrau Nietzsche zu verführen. Das ist ein Faschist, warnt Wolfgang Harich, in Bautzen gealtert, vordem wusste er's anders. Ab und zu schaut Karl Kraus vorbei, weil Brecht nach dem Faust die K- K- Tragödie Die letzten Tage der Menschheit inszenieren will. Unsere toten Dichter können das. Sie überleben, weil im Internet für alle Ewigkeiten aufbewahrt, während in den üblichen Talkshows frühere und künftige Minister und Staatssekretäre aus ihren neuesten Büchern vorlesen, bis das Volk sich entschließt, den Flohzirkus ganz abzuschaffen. Danach treten in unserem Christenland nur noch fremdgläubige Ausländer auf, und falls sie unsere Sprache, die dann zu den alten klassischen Sprachen gehören wird, auswendig gelernt haben sollten, können sie im www nachlesen, was in den letzten Tagen der Deutschen wirklich geschah. Soviel zur Abschaffung der Deutschen, dem grausam-schönen Märchen.
Kannitverstan – Das Wort passt in der Vergangenheit wie in unserer Gegenwart
J. P. Hebel (Ausschnitt)
Wie weit ist die Sprache, deren wir uns – werkzeughaft und instrumental – bedienen, von der Realität entfernt? Identität ist nicht erreichbar, Nicht-Identität eine Gefahr, per Tunnelblick in die Kerkerzelle des abgeschotteten Ich zu geraten und in egozentrischer Borniertheit zu verkommen. Man nennt das Familien- und Nationalgeschichte.
Sprache definiert verbal. Begriffe definieren logisch. Stimmen Wort und Begriff sowie das gemeinte Objekt überein, erzielt das artikulierende Subjekt den optimal exakten Ausdruck. Was aber, wenn es statt des konkreten Objekts ums Allgemeine geht? Womit wir beim Universalienstreit angelangt sind, dem zweiten Sündenfall der Unmenschwerdung.
Der erste Sündenfall bestand in der Sprach-Herausbildung, die das Tier vom Menschen trennte, was ihn zum Feind aller Lebewesen, sich selbst eingeschlossen, werden ließ. Gewehr, Kanone, Bombe, Rakete, Drohne, Atomwaffe sind materialisierte Sprachwerkzeuge. Der Tod heißt Kannitverstan (Johann Peter Hebel)
Als ich 1994 für die PDS in den Bonner Bundestag ging, wo ich es tatsächlich vier Jahre lang aushielt, worauf ich heute noch ein wenig stolz bin, wollte mich die Frankfurter Rundschau, in der ich über Jahrzehnte hin Artikel veröffentlicht hatte, nicht mehr kennen. Von nun an war der Ofen aus. Das ehemals liberale, der SPD ergebene Blatt, gegen das wir viel einzuwenden hatten und dem wir dennoch nahestanden, bot als größten Trost die zivilcouragierte Aktivität der Leserbrief-Schreiber. Der jetzige FR-Vorständler Konstantin Neven Du Mont, als Erbe auch Mitbesitzer anderer Zeitungen, beschwert sich, wie eben zu erfahren ist, über die Medienwelt, die hohes Interesse am Niedergang der FR an den Tag lege. Er sollte das heutige Blatt mal mit dem früheren vergleichen, um zu erkennen, was damals den Erfolg eintrug. Überfliege ich dagegen die in der Mehrzahl hohl- und holzköpfigen Leserzuschriften in der FAZ, denke ich, sollen sie doch endlich eine offen konservative Partei gründen, damit sie wieder Raum und Plattform für Ihre Parolen haben. Der ehemaligen Frankfurter Rundschau sei eine romantische Träne gewidmet. Es könnte so scheinen als sei ich für die frühere FR voreingenommen und der FAZ gegenüber unfreundlich gestimmt. Das trifft zu. Gerechterweise muss ich einräumen, der FAZ-Wetterbericht ist nicht schlechter als anderswo und auf den Wirtschaftsseiten finden sich als Folge der großen Krise relevante Analyseversuche, ganz selten Lichtblicke im Feuilleton. Vorherrschend bleibt der Ökonomie-Faktor. Seit China mehr und mehr dominiert, bleibt das Land öfter unbeschimpft. Vielleicht unterhält ein Herausgeber Außenhandelsbeziehungen.
In der weiland DDR verliefen die Abhängigkeiten direkter. Wenn das Politbüro hustete, bekamen Chefredakteure die Grippe. Was mein Verhältnis zur Presse betrifft, bin ich erfahrungstrainiert. Im Fall Neues Deutschland wartete ich ab, bis es 1989 seine bisherigen Vorgesetzten in die Wüste schickte, danach ließ sich eine Zeitlang ganz lustig im Nichtmehrparteiorgan schreiben. Sollten der FAZ auch endlich die obersten Instanzen abhanden kommen, kann das Blatt sich rehabilitieren, indem es z.B. unsere so schöne vertrackte Sachsen-Serie abdruckt. Das sind bisher 99 Folgen und 46 Nachworte, dass die noch mehr werden können, sei höflich angedroht. Meine Bedingung: pro Tag eine FAZ-Seite – jede zum Honorar von 1000 Euro und kein redaktioneller Kommentar dazu, sonst müssen wir das Blatt und seine Stahlhelmfraktion in Ewigkeit weiter dekonstruieren. Im Feuilleton sollen übrigens anderhalb Liberale oder gar Linksverdächtige stecken, darüber regen sich Leserbriefschreiber alle 3 bis 4 Monate fürchterlich auf, weil sie die Revolution immer näher heranrücken sehen.
Von Michael Jäger erschien im Freitag 2005/39 der Artikel Geborstene Fahrt: „Man könnte Ernst Bloch als einen Vordenker der Dekonstruktion begreifen“, heißt es da als „Einstimmung auf eine Tagung zu ›Erbschaft dieser Zeit‹“. Jäger referiert über Blochs Montage-Begriff und Walter Benjamin und schließt mit den Worten: „Vielleicht ist die Geschichte der Philosophie mit Derrida noch nicht zuende.“
Das mag so sein, falls nicht die ganze Welt des weißen Mannes bald endet. Begonnen aber hat die Geschichte nicht mit Derrida. Am Anfang standen vor tausend Jahren die Scholastiker und auf Nietzsche und Heidegger folgten Brecht, Benjamin, Bloch, Lukács gegen Heidegger. Das geschah anno 1927.
Die Pariser Dekonstruktivisten nennen meist Nietzsche und Heidegger als Stammväter. In dieser Frage gab es, als 1927 Heideggers Sein und Zeit erschien, in Berlin einen Dissenz zwischen links und rechts, wobei Heidegger unverzüglich in die Reihen der Rechten eingeordnet wurde, dabei trat er ja erst 1933 in Hitlers Partei ein. Nietzsche gegenüber verhielt man sich unterschiedlich. Lukács lehnte konsequent ab. Walter Benjamins Position bedürfte genauerer Analysen. Bloch erarbeitete sich eine Symbiose von Nietzsche und Marx, hielt sich damit jedoch zurück. Sklavensprache mit Artistik.
Bei der Dekonstruktion des Marxismus, jedenfalls seiner sowjetischen und französischen Prägung, verkannten die kritischen Pariser Philosophen, dass Marx selbst die vorherige Ökonomie und Kultur dekonstruiert hatte. Erst die Entstellung zum sowjetischen Marxismus entstellte die Lehre, die sich der Analyse und Kritik entzog und jeden Versuch bereits zum Straftatbestand erklärte.
In Leipzig wurde nach einem Bloch-Seminar diskutiert, was uns die alten katholischen Glaubensfragen der Scholastik noch angingen. Bloch darauf sarkastisch: Der Universalienstreit ist zeitlos. Daran erinnerte ich mich später in Frankfurt, als ich für die FR und den Hessischen Rundfunk über die Pariser Dekonstruktivisten schrieb, die sich als vormalige Linksgläubige gegen die marxistischen Universalien wandten. Ihr Bruch mit dem Marxismus galt dessen Allgemeinheiten Proletariat, Diktatur, Klassenkampf. Die Gesellschaft, Geschichte, Kultur sollte und musste so aktuell wie konkret neu erforscht und definiert werden.
In unserer Leipziger Zeit war der Begriff Dekonstruktion unbekannt. Mir genügte es, im Sinne des eingreifenden Denkens einzelne eingreifende Worte einzuschmuggeln. Nicht zu deutlich, sonst ginge es schief. Blieb man aber hinter der Alarm-Linie, blieben auch Gegenmaßnahmen aus. Unbedingt wollte ich ein Trotzki-Signal setzen, damit begannen meine individuellen Komplikationen. War Trotzki der genuine Anti-Stalin, galt zugleich sein Satz, falls Hitler die Sowjetunion angreife, sei sie trotz Stalin zu verteidigen. Das bezog ich zeitgemäß modifiziert auf die DDR.
Inzwischen geschieht der Endkampf um die Macht über den Erdball in Form von Religionskriegen, deren verbale Form sich in Medienschlachten ausdrückt.
Spiegel-Cover
Leutnant Augstein ging mit Hitlers Staatsjuristen Schmitt spazieren
Die Distanz zum ökonomisch begründeten Weltreligionskrieg setzt auf die Differenz in der Bedeutung von Derridas Zentralkategorie. Um uns schauend müssen wir fatalerweise erkennen, seit der Vereinigung nahmen Fremdheit und Feindschaft zu. Sollen wir „Differenz“ also wie Carl Schmitt kulturmorphologisch mit Feindschaft übersetzen? Wir haben uns entmauert, entgrenzt, entideologisiert. Nun wird entmenscht. Folgt aus der Differenz in der Tat lediglich Feinddenken? Die Differenz lässt Freundschaft wie Gegnerschaft zu. Sie kann das die Gegner Verbindende sein als intellektualisierte Gegnerschaft.
Feinde differenzieren nicht. Sie bekriegen sich. Derridas Differenz ist als westliches Angebot keine Rückkehr zu Carl Schmitts Feinddenken. Allerdings unternahm selbst Rudolf Augstein ausgedehnte Spaziergänge mit Hitlers Staatsdenker und ließ sich ab 1952 in Rechtsfragen von ihm beraten. Der Leutnant und sein Jurist.
Die Schriftsteller stritten sich in den 80er und 90er Jahren stellvertretend für unterschiedliche Interessen. Seit der Wende erscheinen die einen unbelohnt als Sieger, die anderen als gestrafte Besiegte. In Wirklichkeit sind wir alle Besiegte, gelingt es nicht, unsere Differenzen zu intellektualisieren, was postkulturell nicht möglich ist, weil es den Kriegern die Herrschaft überlässt.
Bisher wurde übersehen, dass das Ende Blochs in Leipzig das endgültige Aus jener internationalen Volksfrontpolitik bedeutet, die mit dem Pariser Schriftsteller-Kongress 1935 begann. Bloch war einer der intellektuellen Gründungsväter. Sein Buch Erbschaft dieser Zeit, 1935 in Zürich erschienen, enthält seine Volksfrontphilosophie. Er lehnte die Diktatur des Proletariats als misslungen ab, hielt die 11. Feuerbach-These für mindestens unzureichend interpretiert, favorisierte seit 1955 eine Gramsci-nahe kulturelle Hegemonie mit antidiktatorischen Akzenten, verwarf das Dogma vom wissenschaftlichen Sozialismus und entwickelte seine eigene Existenz- und Subjektphilosophie. Alle diese Abweichungen sind im Erbschafts-Buch enthalten, das folgerichtig in der DDR nie erscheinen konnte.
Die vorstehenden Sätze sind meinem Essay Bloch in Leipzig oder die Front zwischen Stalin und Heidegger entnommen. Erstdruck in Das Krisenjahr 1956, Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, Leipzig 2006. Seltsamerweise oder bezeichnenderweise stießen die aus Blochs Erbschafts-Buch gefilterten Provokationen auf keinerlei Widerhall. Am 16./17.Oktober 2010 bestückte Helmut Dahmer die junge Welt mit noch stärkeren Provokationen. Mit Walter Benjamin geht es gegen Stalins Komintern, Moskauer Schauprozesse, Verleugnung der Niederlage im Kampf gegen die Nazis, den Umschlag der Russischen Revolution in eine despotische Schreckensherrschaft. Enthalten sind auch diese Sätze: „Marx hat in der Vorstellung der klassenlosen Gesellschaft die Vorstellung der messianischen Zeit säkularisiert … Eben dies haben die Marx-Epigonen verdrängt …“ Die Marx-Epigonen schweigen verlegen weiter, doch in der jungen Welt wurde postwendend zugestimmt: „Ja klar, Machtgeilheit ist die Wurzel von Patriarchat und Kapitalismus … Insofern kann ich die neue Offenheit der jW gegenüber Bewegungen, die nicht nach den Heiligen Schriften (Marx & Lenin) leben, nur begrüßen.“ (Bettina Hammerschmidt, per E-Mail)
Eine gewisse neue Offenheit ist tatsächlich von der jW bis zur FAZ festzustellen, auch wenn's den Verantwortlichen lausig schwerfällt. Nach dem Bericht der Historikerkommission über das Auswärtige Amt sprach sogar Frank Schirrmacher Klartext in der FAZ und FAS: „Das AA war systematisch an der Judenvernichtung beteiligt. Die Karrieren der Diplomaten gingen nach 1945 bruchlos weiter …“ Der weit oben positionierte Publizist und sein Club sind entsetzt. Joschka Fischer, Ex-Sponti, Ex-Außenminister feixt sich eins. Den Herrschaften ist furchtbar neu, was sie zuvor aus selbstverschuldeter Blindheit nicht zur Kenntnis nehmen wollten, weil es nur von Linken mitgeteilt worden ist, denen aber glaubte man nicht und bezichtigte sie kommunistischer Propaganda. Wir wenden uns vom bürgerlichen blinden Ich ab und Ernst Bloch zu. In Der Impuls Nietzsche von 1913, abgedruckt in Durch die Wüste 1923, dann 1984 – spricht er exakt vom „suchenden Ich“, verwahrt sich gegen Zarathustras Übermenschen samt Nietzsches endloser Wiederholung und wendet gegen die herrschende Wissenschaft ein, sie „sei ohne Subjekt und ohne Traum.“ Aber es ist da auch zu lesen: „Darum leuchtet hier zuerst die Ahnung eines noch nicht bewussten Wissens auf …“ Bloch nennt Nietzsche unersättlich und schöpferisch: „… hier gilt in der Tat, dass es nicht darauf ankommt, die Welt nur zu begreifen oder doch nur zu dem Ende, dass man sie danach verändere …“ Der nachfolgende Text trägt nicht zufällig die Überschrift: Die Landesgrenze des Nihilismus.
Nihilismus ist als Stichwort ein Schlüsselbegriff der Dekonstruktion, die Heidegger bei Nietzsche entdeckte. Friedrich, unser sächsischer Hammerphilosoph, erklärte seinen geliebten väterlichen Gott, diesen Hauspastor für tot und prügelte in der Folge meisterhaft auf unzählige Universalien ein, bis er am eigenen Nihilismus zu verzweifeln drohte und sich seinen dionysischen Übermenschen erfand. Man kann diesen amorphen Ersatzgott als intellektuelles Format mit Übergröße verstehen oder als visionären Militärstiefel. Die deutschen Ritter beider Weltkriege, Typus Ernst Jünger, setzten den Helm auf, den Feind zwang man in die Rolle des Untermenschen. Bloch attestierte Nietzsche die richtigen Fragen, doch die falschen Antworten. Man lese seinen Bloch auf diese andere Weise. Der Mensch in der Revolte des Albert Camus ist dafür eine Nummer zu klein, der Mensch in der Revolution der Marx und Lenin erwies sich als auf Dauer zu schwach. Das Proletariat wollte nicht. Das Prekariat weiß nicht. Das Bürgertum ist nur auf Besitzstandswahrung fixiert. Und da kommt einer daher und wagt es mitten im Inferno das Hoffen zu lehren? Gerade signalisierte Orwells Roman 1984 das Ende der Revolution, da kehrt 1949 ein linker deutscher Jude aus dem US-Exil zurück und will ausgerechnet von Leipzig aus den Kirchen Beine und Konkurrenz machen, indem er Hoffnung verkündet?
Rückblick expressiv. Nach Chruschtschows Moskauer Anti-Stalinrede vom 25. Februar 1956 verzögerte Walter Ulbricht seine endgültige konträre Stellungnahme bis zum 28. November. An diesem Tag begann mit seinem Schreiben gegen Bloch die Kehrtwende. Sie wurde Teil der Kehrtwende, die 1990 zum Exitus der Sowjetunion und ihrer Kriegsbeute führte. Ein 3. Weg, wie China ihn riskierte, war ab 1956/57 verschlossen und infolge einer erstarrten Ideologie, die als Marxismus (Leninismus) firmierte, nicht möglich. Damit hatte Blochs Dekonstruktionsphilosophie ihren Ort verloren. Die Herrschaft war zur hierarchischen Diktatur entfremdet und endete als verunglücktes (sozialistisches) Übermenschentum. Statt Marx erteilte Nietzsche das letzte Kommando: „Ihr sollt den Frieden lieben als Mittel zu neuen Kriegen.“ An die Stelle besiegter Ostkrieger treten erneut Westkrieger. Und Deutschland ist wieder dabei.
Der Freitag macht sich. Am 9.7.2010 feierte die Psychoanalytikerin Hanna Gekle Blochs 125. Geburtstag: „Bereits mit seinem expressionistisch ungezähmten Frühwerk Geist der Utopie warf er jener politischen und geistigen Welt, die zum Ersten Weltkrieg geführt hat, den Fehdehandschuh hin. Es begründete seinen Ruf als Gründer der Utopie … Als Amoklauf zu Gott charakterisierte Max Scheler diesen Entwurf einer neuen Metaphysik …“ Gut gebrüllt, Löwin aus Frankfurt/Main. Der Gottestod muss kein Menschentod sein. Nur Gekles Überschrift Denken als Handgemenge sei ein wenig korrigiert in Denken als Kopfgemenge.
Uns fehlt Blochs Wille zur rebellischen Weltreformation ungeachtet der Gegnerschaft von Staat, Partei, Religion. Wir sind zu feige, den Denker zu entschlüsseln. Obwohl sein Werk greifbar ist, verunkenntlichen wir es, er war aber ein philosophischer und politischer Partisan mit dem Ziel universeller sozialistischer Reformation. Davon durfte im Osten nicht gesprochen, das sollte und soll im Westen nicht realisiert werden. Deshalb wurde die Revolte von 1956 in Polen, Ungarn und der DDR dort verfolgt und im Westen ideologisch entschärft. Die 68er verdrängten die 56er, wie Augsteins paar Haftmonate die Todesurteile von Ungarn und die erheblichen Zuchthausstrafen in Berlin, Leipzig, Halle, Jena verdrängten. Aus der Zelle heraus beschuldigte Harich, um sich selbst zu entlasten, den Zukunftsphilosophen der Aufwiegelung und hatte recht. Blochs Aufwiegelei begann schon beim Schüler und endete nicht mit seinem Tode im Jahre 1977.
Eingeschüchtert schwimmen heute alle mit im bürgerlichen Mainstream. Auch Blochs Schüler haben Schiss. Der oppositionelle Trotz ihres Meisters ist ihnen fremd, denn er verband stets Philosophie und Politik zur permanenten Aktion, während sie zaghaft und verspätet auf Papier herumtigern. Bloch war weder in Theorie noch Kultur und Praxis ein passiver Privatgelehrter oder braver sozialdemokratischer Wahlhelfer, zu dem ihn die Puppenstube in Ludwigshafen degradiert. Mit der notwendigen Radikalität betrachtet zeigt sich, Blochs permanente Kulturrevolution war die letzte Chance der DDR. In seiner Sprache gesagt: Die letzte objektiv-reale Möglichkeit. Danach ging der Staat an seiner falschen Philosophie samt Ökonomie zugrunde. Schlimmer noch – der Anschluss der DDR an die BRD versperrt der neuen Berliner Republik eine autarke Alternative. Man klemmt zwischen USA und China fest, deren künftige Konflikte das deutsche und europäische Schicksal bestimmen. Es ist exportabhängig, also auf der schiefen Ebene.
Die Utopie von der ewigen Gültigkeit des Grundgesetzes
Juristen im Dritten Reich zu Diensten – nach 1945 wieder auf Posten
Blochs Buch vom Geist der Utopie ist das philosophisch-poetologische Dekonstrukt des Ersten Weltkrieges und in Denken wie Sprache der absolute Gegenpol. Die deutsch-nationale Linie führt über Jünger-Schmitt-Heidegger zum Zweiten Weltkrieg und ist danach zum dritten Mal mobilisierbar geworden. Bloch, die Stärken und Schwächen seiner expressionistischen Revolte erkennend, fügte ihr mit seinem Buch über und für Thomas Münzer die pragmatisch-revolutionäre Komponente hinzu. Beides ist im Passwort, endlich Schach statt Mühle zu spielen, enthalten. Es ging um Existenzfragen. In der aktuellen Gesellschaft der Eintagsfliegenkultur behilft man sich nur noch mit Pop-Figuren und Papp-Kameraden. Wer wollte schon einem G. W. Bush existentielle Ernsthaftigkeit zusprechen. Der Terror grinst heute postkulturell. Bei den Fernsehspielen rangiert Mord in jedem zweiten Titel. Der Revolver ersetzt das Kruzifix. Die Anbetung des Heiligen läuft über den gekrümmten Zeigefinger. Stanislav Lecs Frage, was einer mit dem Kopf durch die Wand gehend in der Nachbarzelle anfangen wolle, wurde mir zum Lehrstück. Als Neunzehnjähriger gelangte ich von der Wehrmacht zur Roten Armee, das heißt von der ersten in die zweite Zelle. Als Siebenundzwanzigjähriger ging es von der DDR in die BRD, d.h. von der zweiten in die dritte Zelle. Und wieder herrscht Kriegsgedröhn. Wo ist die Wand zur vierten Zelle? Mit dem Kopf durch die Wand wohin? Im Kopf eine Botschaft: die Mutter der Freiheit heißt Revolution. Die beiden deutschen Staaten begannen nach 1945 mit zwei Utopien. Im Westen das Grundgesetz, im Osten die intellektuelle reflexionsfähige Revolution. Beides scheiterte an den reaktiven Machteliten. Die DDR gab auf. Die deutschen Soldaten stehen dort im Krieg, wo es das Grundgesetz strikt untersagt. Die Nachkommen werden viel aufzuarbeiten haben, soweit es sie noch geben kann.
Beweisführung Ost: Im Nachwort 13 sind die 5 Akte der Anti-Bloch-Dramaturgie aufgeführt:
1. Der Startschuss fiel am 30. Januar 1957 in der Leipziger Kongresshalle
2. Die Anti-Bloch-Konferenz fand am 4./5. April ebenfalls in Leipzig statt. Überraschend schnell und noch im selben Jahr lag das Protokoll in Buchform vor: Ernst Blochs Revision des Marxismus, Untertitel: Kritische Auseinandersetzung marxistischer Wissenschaftler mit der Blochschen Philosophie (VEB Deutscher Verlag der Wissenschaften, Berlin 1957)
3. Kulturkonferenz am 10./11. Oktober 57 in Leipzig Zur Vorbereitung der Kulturkonferenz des ZK der SED
4. 33. Plenum des ZK der SED in Berlin, genaueres Datum unbekannt, Teilberichte ab 20.Oktober 57 (Neues Deutschland)
5. Anti-Bloch-Tribunal am 12./13. Dezember 57 als Sitzung der Parteigruppe des Präsidialrates des Kulturbundes im "Gästehaus der Regierung" (Dieses 5-Punkte-Anti-Bloch-Programm wurde bisher ignoriert. Warum?)
So wurde schon 1957 das Ende der DDR von 1989/90 programmiert.
Beweisführung West:
„Grundgesetz – Artikel 26 [Kein Angriffskrieg] (1) Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.“
Die Kriminalgeschichte der Dekonstruktion ist philosophiegeschichtlich belegbar. Ins Märchenhafte übersetzt lautet die verbale Botschaft: Der Kaiser ist nackt.
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Gerhard Zwerenz
Serie
- Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
- Wird Sachsen bald chinesisch?
- Blick zurück und nach vorn
- Die große Sachsen-Koalition
- Von Milbradt zu Ernst Jünger
- Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
- Reise nach dem verlorenen Ich
- Mit Rasputin auf das Fest der Sinne
- Van der Lubbe und die Folgen
- Unser Schulfreund Karl May
- Hannah Arendt und die Obersturmbannführer
- Die Westflucht ostwärts
- Der Sänger, der nicht mehr singt
- Ich kenne nur
Karl May und Hegel
- Mein Leben als Prophet
- Frühe Liebe mit Trauerflor
- Der Schatten Leo Bauers
- Von Unselds Gegner zu Holtzbrincks Bodyguard
- Karl May Petrus Enzensberger Walter Janka
- Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen
- Tanz in die zweifache Existenz
- General Hammersteins Schweigen
- Die Pleiße war mein Mississippi
- Im Osten verzwergt und verhunzt?
- Uwe Johnson geheimdienstlich
- Was fürchtete Uwe Johnson
- Frühling Zoo Buchmesse
- Die goldenen Leipziger Jahre
- Das Poeten-Projekt
- Der Sachsenschlag und die Folgen
- Blick zurück auf Wohlgesinnte
- Sächsische Totenfeier für Fassbinder (I)
- Sächsische Totenfeier für Fassbinder (II)
- Brief mit Vorspann an Erich Loest
- Briefwechsel mit der Welt der Literatur
- Die offene Wunde der Welt der Literatur
- Leipzig – wir kommen
- Terror im Systemvergleich
- Rachegesang und Kafkas Prophetismus
- Die Nostalgie der 70er Jahre
- Pauliner Kirche und letzte Helden
- Das Kickers-Abenteuer
- Unser Feind, die Druckwelle
- Samisdat in postkulturellen Zeiten
- So trat ich meinen Liebesdienst an …
- Mein Ausstieg in den Himmel
- Schraubenzieher im Feuchtgebiet
- Der Fall Filip Müller
- Contra und pro Genossen
- Wie ich dem Politbüro die Todesstrafe verdarb
- Frankfurter Polzei-buchmesse 1968
- Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
- Als Atheist in Fulda
- Parade der Wiedergänger
- Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
- Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
- Fragen an einen Totalitarismusforscher
- Meine fünf Lektionen
- Playmobilmachung von Harald Schmidt
- Freundliche Auskunft an Hauptpastor Goetze
- Denkfabrik am Pleißenstrand
- Rendezvous beim Kriegsjuristen
- Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
- Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
- Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
- Der Bunker ...
- Helmut auf allen Kanälen
- Leipzig anno 1956 und Berlin 2008
- Mit Konterrevolutionären und Trotzkisten auf dem Dritten Weg
- Die Sächsischen Freiheiten
- Zwischen Genossen und Werwölfen
- Zur Geschichte meiner Gedichte
- Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten
- Der Dritte Weg als Ausweg
- Unendliche Wende
- Drei Liebesgrüße für Marcel
- Wir lagen vor Monte Cassino
- Die zweifache Lust
- Hacks Haffner Ulbricht Tillich
- Mein Leben als Doppelagent
- Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein
- Vom Langen Marsch zum 3. Weg
- Die Differenz zwischen links und rechts
- Wo liegt Bad Gablenz?
- Quartier zwischen Helmut Schmidt und Walter Ulbricht
- Der 3. Weg eines Auslandssachsen
- Kriegsverrat, Friedensverrat und Friedenslethargie
- Am Anfang war das Gedicht
- Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
- Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
- Im Hotel Folterhochschule
- Brief an Ernst Bloch im Himmel
- Kurze Erinnerung ans Bonner Glashaus
- Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
- 94/95 Doppelserie
- FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller
- Rainer Werner Fassbinder ...
- Zähne zusammenbeißen ...
- Das Unvergessene im Blick
1. Nachwort
Nachworte
- Nachwort
siehe Folge 99
- Auf den Spuren des
Günter Wallraff
- Online-Abenteuer mit Buch und Netz
- Rückschau und Vorschau aufs linke Leipzig
- Die Leipziger Denkschule
- Idylle mit Wutanfall
- Die digitalisierte Freiheit der Elite
- Der Krieg als Badekur?
- Wolfgang Neuss über Kurt Tucholsky
- Alter Sack antwortet jungem Sack
- Vor uns diverse Endkämpfe
- Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren
- Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
- Kampf der Deserteure
- Fritz Bauers unerwartete Rückkehr
- Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
- Als Fassbinder in die Oper gehen wollte
- Was zum Teufel sind Blochianer?
- Affentanz um die 11. Feuerbach-These
- Geschichten vom Geist als Stimmvieh
- Von Frankfurt übern Taunus ins Erzgebirge
- Trotz – Trotzalledem – Trotzki
- Der 3. Weg ist kein Mittelweg
- Matroschka –
Die Mama in der Mama
- Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
- Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller
- Jan Robert Bloch –
der Sohn, der aus der Kälte kam
- Das Buch, der Tod und der Widerspruch
- Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad
- Bloch und Nietzsche werden gegauckt ...
- Hölle angebohrt. Teufel raus?
- Zwischen Heym + Gauck
- Von Marx über Bloch zu Prof. Dr. Holz
- Kafkas Welttheater in Auerbachs Keller
- Die Philosophenschlacht von Leipzig
- Dekonstruktion oder Das Ende der Verspätung ist das Ende
- Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
- Meine Weltbühne im poetenladen
- Von Blochs Trotz zu Sartres Ekel
- Die Internationale der Postmarxisten
- Dies hier war Deutschland
- Kopfsprünge von Land zu Land und Stadt zu Stadt
- Einiges Land oder wem die Rache gehört
- Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen
- Macht ist ein Kriegszustand
- Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
- Damals, als ich als Boccaccio ging …
- Ein Traum von Aufklärung und Masturbation
- Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
- Leipzig am Meer 2013
- Scheintote, Untote und Überlebende
- Die DDR musste nicht untergehen (1)
- Die DDR musste nicht untergehen (2)
- Ein Orden fürs Morden
- Welche Revolution darfs denn sein?
- Deutschland zwischen Apartheid und Nostalgie
- Nietzsche dekonstruierte Gott, Bloch den Genossen Stalin
- Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter
- Von Renegaten, Trotzkisten und anderen Klassikern
- Die heimatlose Linke (I)
Bloch-Oper für zwei u. mehr Stimmen
- Die heimatlose Linke (II)
Ein Zwischenruf
- Die heimatlose Linke (III)
Wer ist Opfer, wer Täter ...
- Die heimatlose Linke (IV)
In der permanenten Revolte
- Wir gründen den Club der
heimatlosen Linken
- Pekings große gegen Berlins kleine Mauer
- Links im Land der SS-Obersturmbannführer
- Zweifel an Horns Ende – SOKO Leipzig übernimmt?
- Leipzig. Kopfbahnhof
- Ordentlicher Dialog im Chaos
- Büchner und Nietzsche und wir
- Mit Brecht in Karthago ...
- Endspiel mit Luther & Biermann & Margot
- Die Suche nach dem anderen Marx
- Wer ermordete Luxemburg und Liebknecht und wer Trotzki?
- Vom Krieg unserer (eurer) Väter
- Wohin mit den späten Wellen der Nazi-Wahrheit?
- Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen
- Die Heldensöhne der Urkatastrophe
- Die Autobiographie zwischen
Schein und Sein
- Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
- Atlantis sendet online
- Zur Philosophie des Krieges
- Deutsche, wollt ihr ewig sterben?
- Der Prominentenstadl in der Krise
- Der Blick von unten nach oben
- Auf der Suche nach einer moralischen Existenz
- Vom Krieg gegen die Pazifisten
- Keine Lust aufs Rentnerdasein
- Von der Beschneidung bis zur
begehbaren Prostata
- Friede den Landesverrätern
Augstein und Harich
- Klarstellung 1 – Der Konflikt um
Marx und Bloch
- Bloch & die 56er-Opposition zwischen Philosophie und Verbrechen
- Der Kampf ums Buch
- Und trotzdem: Ex oriente lux
- Der Soldat: Held – Mörder – Heiliger – Deserteur?
- Der liebe Tod – Was können wir wissen?
- Lacht euren Herren ins Gesicht ...
- Die Blochianer kommen in Tanzschritten
- Von den Geheimlehren der Blochianer
Aufsatz
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