Der 3. Weg ist kein Mittelweg
Auf die Frage, warum uns die Sonne am Morgen und Abend viel größer erscheint als tagsüber, erteilen Fachleute völlig unterschiedliche Antworten, weshalb ich schließlich nicht mehr erfahren wollte, was unerfahrbar bleibt und mich mit der Tatsache abfand. Man nennt das pragmatisch, was heißt, man bescheidet sich, weil es Wichtigeres zu klären gibt. Immerhin weiß, wer darüber nachdachte, zwischen Morgensonne und Abendsonne einerseits und Mittagssonne andererseits zu differenzieren. Nicht zu vergessen – Diogenes aus dem Fass zu Alexander dem Großen: Geh mir aus der Sonne!
Brechts Theater ist die Praxis seiner Gedichte. Die Knoten (Synkopen) in seiner Lyrik sind paradigmatische Dekonstrukte von Format: Das große Karthago führte drei Kriege … Das große Deutschland führte drei Kriege. Anders das ironische Konstrukt in der Kriegsfibel:
Wie einer, der ihn schon im Schlafe ritt
Die Glocken läuten und die Salven krachen.
Und ich dachte immer: die allereinfachsten Worte Die 1.391 Seiten der Suhrkamp-Ausgabe von Brechts Gedichten ergeben eine Enzyklopädie literarischer Möglichkeiten der Dekonstruktion als Poesie/Poetik. Die fast vergessenen Verfremdungs-Effekte haben die dramaturgische Funktion von Ideologie-Zerstörung. Was bleibt ist die Sprache, die Brechts poetischen Kommunismus enthüllt. Trotzki: Wir haben den Kapitalismus überall da besiegt, wo es ihn noch gar nicht gab. Gerhard Urbach: Das westlich-kapitalistische System hat einen Sozialismus besiegt, der niemals einer war. Den Rest besorgen die Dichter? Brechts Lyrik plus Verfremdungspraxis ergibt den Klassiker literarischer Dekonstruktion. Das blieb bisher unbewertet, nein unausgesprochen, denn es widerspricht dem Bild des DDR- Die Philosophie dazu ist in Blochs Erbschaft dieser Zeit enthalten. Das hat zeitgeschichtliche Gründe. Heideggers Sein und Zeit (1927) beurteilten Brecht, Bloch, Walter Benjamin, Günter Anders als philosophischen Vorschein des Faschismus. Ihr Plan eines Anti-Heidegger-Pamphlets scheiterte, das Projekt, den aufstrebenden Nazis „eingreifendes Denken“ entgegenzustellen, blieb in Ansätzen stecken. Was als weitausgreifendes Resultat vorliegt, ist Blochs Erbschaft dieser Zeit von 1935, sein Rückblick auf das Versagen der Weimarer Republik. In der Erweiterten Ausgabe von 1962 wird die exakte Analyse der Versagensursachen weitergeführt. Antifaschistische Kritik inklusive antifaschistischer Selbstkritik ergibt Dekonstruktion. Blochs Hauptwerk ist Das Prinzip Hoffnung, die Erbschaft aber ist ein klassisches Dekonstrukt. Gelangten die französischen Philosophen (Kritiker) von Nietzsche über Heidegger und Sartre zu ihren neuen Erkenntnissen, verlief die Linie in Deutschland über Nietzsche und Marx zu den antifaschistischen Linksintellektuellen. Antimarxismus wie in Paris verbot sich, Marxfresser gab es schon zahlreich genug. Daraus folgt eine weitere Differenz. Die französischen Dekonstruktionisten heimsten Erfolge ein. Die Deutschen gehörten in der Bonner Republik zu den unerwünschten Linken. In der DDR mussten sie sich tarnen. Im 1990 eingemeindeten Ostteil der Berliner Republik herrscht das Prinzip des Unwissens und Vergessens, ganz wie in der DDR ab 1956/57. Die Anti-Bloch-Kampagne hatte mit dem Walter-Ulbricht-Brief vom 28.11.1956 begonnen und steigerte sich dramaturgisch geschickt über 5 Stufen bis zum 12./13. Dezember 1957. Am Anfang stand Blochs Ausschluss vom Philosophischen Institut und am Ende seine Verbannung in die innere Emigration. Am 15. Dezember 1957 registriert die Leipziger Lauschbehörde ein Gespräch zwischen Ernst und Karola Bloch sowie Hans Mayer, in dem es u.a. um Kurella, Winfried Schröder, Loest und Zwerenz geht. Bloch: „Ich habe gesagt, dass ich mich zur DDR bekenne, dass ich diesen dritten Weg für diskutierbar halte – es gibt nur die Selbstreinigung des Marxismus … zur DDR kann ich mich bekennen, zur Regierung nicht.“ (Näheres dazu im Nachwort 13 „Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung“) Damit war Das Prinzip Hoffnung auf dem Boden der DDR perdu, die Erbschaft dieser Zeit war gar nicht einbezogen gewesen. Nach deren Erweiterter Ausgabe bei Suhrkamp wurde schnell klar, im Westen fehlten sowohl Basis wie Überbau. Wenige West-Blochianer, die schließlich überdauerten, stochern fein akademisch im Tal der Hoffnung herum, ähnlich den Dresdnern zu DDR-Zeiten, die ohne Westfernsehen im Tal der Ahnungslosen lebten. Die philosophische Anti-Bloch-Konferenz vom April 1957 in Leipzig und ihr Buchprotokoll bezeichnen den Wendepunkt in der DDR- Die römisch-katholische Begriffs- und Kategorienlehre schloss an Aristoteles sowie Platon an und geriet in Dauerstreit bei der Frage, wie viel Realität den allgemeinen Begriffen zuzuordnen sei. Historisch gesehen fügten die Nominalisten den Gattungsbegriffen (Universalien) nur Worte (Nomen) zu, während die Realisten auch den Universalien Realität zusprachen. Der tausend Jahre zurückreichende Universalienstreit stört jeden Glauben an Gott, Staat, Partei, Ideologie. Wenn die Wahrheit wirklich konkret ist, wie Georg Lukács in Die Zerstörung der Vernunft demonstriert, muss das Nichtkonkrete, das Allgemeine, die Universalie auf ihre Realität hinterfragt werden. Die neuen französischen Kritiker (Philosophen) hinterfragten vor allem den landeseigenen Marxismus, der ihnen in Gestalt der KPF und deren temporärem Verbündeten Sartre begegnete. Fatalerweise gründeten sie ihre Erfolge auf Nietzsche und Heidegger, während der deutsche Dekonstruktionalismus auf Nietzsche, Marx, Brecht, Bloch gründet, so er überhaupt wahrgenommen wird oder werden darf, weil Anti-Marxismus von 1933 an bis heute Staatsphilosophie ist und seine Adepten das mediale Umfeld beherrschen. Derart lebt der selbstgemordete Hitler über seinen getreuen SA-Kameraden Heidegger beidseits des Rheins weiter und die stahlhelmbewehrten Schrumpfköpfe bringen es fertig, ihren Hauptmann Ernst Jünger mit dem daran gewiss unschuldigen Grimmelshausen zu verbrüdern. (FAZ-Feuilleton – wo sonst am 8.4.2010) So bleibt von Vernunft nur Zerstörung übrig. Brechts Lyrik ist totale Dekonstruktion im Schutze von Poesie/Poetik (Sprache). Blochs Erbschaft ist das erste Dokument und Lehrbuch der Dekonstruktion. Dass Bloch sich in seiner DDR-Zeit der Sklavensprache bediente und die Sprachrevolte taktisch dosierte, zeigt die zeitliche Abfolge der Ereignisse. Am 30. Januar 1957 wurde ich wegen der Nähe zu Bloch, dem 3. Weg und meinem Freiheitsgedicht zum Feind erklärt. Immerhin konnte ich vor den in der Leipziger Kongresshalle zuammengeholten Kulturarbeitern noch alle Strophen des Gedichts vorlesen. Auf der Leipziger Kulturkonferenz im Oktober klagt mich Heinrich Schwartze mit seiner Rede über Die Illusion vom 3. Weg an. Am 12. Dezember distanziert sich Bloch auf dem Berliner Kulturbund-Tribunal vom 3. Weg. Drei Tage später meldet eine geheimdienstliche Wanze aus seinem Leipziger Arbeitszimmer, Bloch halte „diesen 3. Weg für diskutierbar.“ Darüber waren wir uns schon im August bei meinem letzten Besuch einig gewesen. Innerhalb von drei Tagen muss unser Philosoph vom Berliner NEIN zum Leipziger JA zurückgekommen sein. Das fällt einem Marxisten naturgemäß schwer. Alexander Kluge fasste die Sorge in einem Filmtitel von 1974 zusammen: In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod. Es ist ein gravierender Denkfehler, den 3. Weg als Mittelweg zu sehen. (Belege dazu in den Folgen 69 und 82 und den Nachworten 18 und 19 ) Trotzki, Mao und seine distanzierenden Nachfolger, Kuba, Vietnam markieren keinen Mittelweg. China mit seinem kommunistisch gesteuerten Kapitalismus geht keinen Mittelweg. Der 3. Weg besteht aus radikal pluralen Expeditionen im Versuch, dem tödlichen Tanz ums Goldene Kalb zu entkommen. Trotzki sagte voraus, Stalins Sozialismus in einem Land werde vom Kapital stranguliert. So geschah es. Doch ohne Stalins späteren Sieg über Hitler wäre Europa, vielleicht die ganze Welt, faschistisch geworden. Der Sieg Stalins über Hitler kostete wiederum den sowjetischen Sozialismus. In Gefahr und größter Not griff Stalin zum letzten bitteren Stück Brot. Mit der Roten Armee siegte das alte zaristisch aufgemöbelte Russland im „Großen Vaterländischen Krieg“. Der Sozialismus ging vor die Hunde, wie sich bald zeigte. Brecht: Der unbekannte Soldat der Revolution ist gefallen. Ich sah sein Grabmal im Traum.
Unsere offenbar überlebenslangen Lehrer wollen ihren Kaiser Wilhelm wiederhaben. In Leipzig ließ Ulbricht die Universitätskirche sprengen. Sie ist rekonstruiert worden, nur der benachbarte Hörsaal 40 nicht, denn da lehrten bürgerliche Radikaldemokraten und aufmüpfige marxistische Professoren die Diktatur der Humanität. Das mögen unsere Lehrer nicht besonders. Unsere Lehrer transformierten zu vorbildlichen, enthaltsamen Christen und verprügelten ihre Klosterschüler und Domspatzen, um heilig gesprochen zu werden. Im Hodenwald übten andere Lehrer die Liebe ein. Quälereien und Schläge wie bei den Schwarzen gabs keine, nur mal von Schüler zu Schüler, wie bei Soldaten üblich, die Lehrer streichelten die Stellen, auf denen die schwarzen Lehrer Stockschläge plazierten. Unsere Reformlehrer verteilten Küsse und ließen sie sich erteilen. Unsere Lehrer waren anfangs schlachtfeldgeil. Danach kirchenfromm mit Arschverhauen, dann liebesfreudig bis zum Lotterbett der Nächstenliebe. Unsere Lehrer waren dabei nie allein. Über ihnen kommandierten Adenauers Generäle, die schon als Hitlers Generäle das Oberkommando innehatten wie vordem Hindenburg und Ludendorff. Unsere Lehrer lernten von Nietzsche, das Leben ist eine ewige Wiederholung des Gleichen. Das erhält, worauf es ankommt, die permanente Ungleichheit von Herren und Knechten.
Am 3.4.2010 fielen in Afghanistan drei Bundeswehrsoldaten. Im Spiegel vom 12.4.2010 sind sie „auf tragische Weise“ ums Leben gekommen. Unter dem Titel Das Gesicht des Feindes werden die Feinde exakt zu „Mördern“ erklärt. Das ist das Resultat funktionierender Sprachpropaganda, derzufolge sich die Bundeswehr zur „Verteidigung unserer Freiheit“ am Hindukusch auf „Mission“ im „Einsatz“ befindet. Die dortigen Terroristen ermorden also unsere Freiheits-Soldaten. Im 2. Weltkrieg waren „jüdische Bolschewisten“ und Partisanen die Terroristen und Mörder. Soviel zur Nutzanwendung von Derridas Katze, die das Spielmaterial für den Ernstfall liefert und geschlachtet wird. Es hängt eben von den Differenzen im Blick ab. Nach deutscher Sprachregelung hat im Krieg der Feind die Toten beizusteuern. Schießt er zurück, ist er ein Mörder. Am Ende des 2. Weltkrieges drangen die mörderischen Feinde sogar in unser deutsches Vaterland ein. Auch dafür haben wir unsere Sprachregelungen. Semantik über alles. Dummerweise hielt ich mich nicht daran. In der DDR reichte eine Gedichtzeile, um mein Leben dort unmöglich zu machen. In der Bonner Republik wechselte ich das Medium, wenn's zu dicke kam. In der Berliner Republik gilt vorerst noch die Outcast-Freiheit im Internet. Da lohnt doch ein nostalgischer Blick zurück. Das Gedicht Die Mutter der Freiheit heißt Revolution entstand nach Chruschtschows Anti-Stalin-Rede vom Frühjahr 1956, wurde am 1. Juli desselben Jahres im Sonntag gedruckt und am 30. Januar 1957 in der Leipziger Kongresshalle öffentlich verdammt. Die Dekonstruktion des Stalinismus war insgesamt gescheitert. Das Gedicht Unablässig und einsam (siehe Nachwort 5) erschien 1966 in der Anthologie Deutsche Teilung – Lyrik-Lesebuch aus Ost und West. Die Strophen wurden viel nachgedruckt und bald vergessen, denn sie dekonstruierten die parteipolitische Vernutzung der Vertriebenentragödie und enthüllten die Bonner Vertriebenenpolitik als Illusionismus im Kalten Krieg. In Weder Kain noch Abel von Jürgen Reents sind die 12 Seiten meiner Kurzgeschichte Der Maulwurf nachgedruckt. Der Titel hat eine lange Vorgeschichte in Ost und West und lautete ursprünglich Der Scharfschütze. Unser tapfrer Held schießt präzise seine Feinde in den Kopf und entwickelt eine spezifische Meisterschaft im Ausschachten seines Schützenlochs. Am Ende gerät er dabei unter ein Massengrab, das über ihm zusammenbricht und ihn erstickt. Ich bin gern bereit, die Rechte am Text, dieser Dekonstruktion des Infanteristen, ans Berliner Verteidigungsministerium zu vergeben. Die Story ist das beste Lehrbuch für Soldaten, die in den Krieg ziehen. Im Spiegel vom 19.4.2010 wird aus Afghanistan berichtet: „Mit der Panzergrenadierbrigade 37 ›Freistaat Sachsen‹ im Einsatz, April 2009 bis März 2010, Erlebnisse von Soldaten im Einsatzjahr der Brigade.“ Na da kämpft mal schön? Nach Ende des 1. Weltkrieges kämpften deutsche Freikorps in Oberschlesien gegen die Polen. Nach Ende der friedlichen Revolution von 1989 kämpfen Panzergrenadiere des ›Freistaat Sachsen‹ zur Verteidigung deutscher Freiheit in Asien. Welch ein Fortschritt. Wann schmiedet Schorlemmer Pflugscharen zu Waffen um? Mit Karl May aus den Schluchten des Balkan in die Schluchten des Hindukusch. Mein Titel Die Verteidigung Sachsens … ist ein wenig anders gemeint. Die Mutter der Freiheit heißt weder Konterrevolution noch Krieg. Soviel zum 3. Weg. Am 22. April 2010 erklärte die Kanzlerin im Bundestag: „In Afghanistan geht es um unsere Sicherheit“ und die FAZ leitartikelte, es ginge „um Krieg und Frieden, um Leben und Tod.“ Wenn die Lage tatsächlich so ernst ist, sollte man die gesamte Bundeswehr mitsamt Kasernen und Waffen an den Hindukusch verlegen. Wenn die Soldaten dann noch zum Islam übertreten und unsere Rüstungsmilliarden der afghanischen Wirtschaft aufhelfen, wird sogar am Kundus eitel Frieden und Freundschaft herrschen. Die US-Armee kann abziehen und sich den Kriegen in anderen Ländern widmen. Die Deutschen aber werden es so schön haben wie in den Jahren von 1945 bis 1955 – entmilitarisiert wie Jesus Christus und seine Jünger. Ein weiteres Nachwort ist für Montag, den 03.05.2010, geplant.
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Gerhard Zwerenz
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