|
|
Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | 70. Nachwort
Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
70. Nachwort |
|
Büchner und Nietzsche und wir | 1991
|
|
„Die Rede des Georg Büchner vor der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung anläßlich seiner Ablehnung als Büchnerpreisträger“
|
Gerhard Zwerenz
Büchner und Nietzsche und wir
Bei seiner vorjährigen Preisrede nutzte Dieter Hildebrandt das Prinzip des mehrfachen Anfangs, und da schon Platon seine Schrift über die REPUBLIK siebenmal angefangen hatte, was also eine Tradition begründet, die von der griechischen Antike vor zweieinhalbtausend Jahren bis zur Preisrede Hildebrandts vor einem Jahr hier in Darmstadt reicht, schließe ich mich dem an und beginne auch mindestens siebenmal. Denn das ist ein literarisches Prinzip geworden, und ein politisches. Wir möchten immer wieder gern neu anfangen. Die Pluralisierung des Anfangs kündet immerhin von unserm guten Willen.
Erster Anfang also: Schon gibt's die Schwierigkeit mit der Anrede. Soll ich sagen: Verehrte Alternative? Oder: Hochverehrte Freunde? Aber wer nun gar kein Freund sein will? Also etwa: Liebe Freunde und Feinde? Liebe – deine Feinde? Schon wird's zu christlich, das brachte Büchner schon gegen den tapfren Weidig vor.
Und was unterscheidet eine Alternativpreisrede von einer üblichen Preisrede? Vielleicht dies: Mach keine Sprüche, rede frei von der Leber weg und lass' die Luft raus.
So danke ich als erstes dem Stifter, der aus freien Stücken und ganz ohne Not und Hintergedanken mit seiner Preisstiftung den Ämtern und obwaltenden Göttern so nahe tritt, daß sie Bannkreisverletzung argwöhnen und Verlust angemaßter staatlicher Exklusivität. ja, darf der denn das ohne staatliche Erlaubnis? hätte Tucholsky ironisch gefragt.
Er darf nicht, er tut es.
Das wäre der Anfang. Und was kommt jetzt? Natürlich Büchner, der in „Dantons Tod“ seinen Helden sagen läßt: „Puppen sind wir von unbekannten Gewalten am Draht gezogen.“ Das Wort sei modifiziert. Zwar hängen wir puppengleich an Telefondrähten, Computerleitungen, Befehlssträngen, Karriereseilen, doch die Gewalten, die an uns ziehen, läßt unsere feige Trägheit unbekannt sein und unbenannt. Statt Geschichte gut zu produzieren, produzieren wir sie lieber schlecht und starten nach jedem Krieg geschichtliche Aufarbeitungs- Aktionen. Die einen tun das Falsche, die anderen sagen danach, der unterlassene Widerstand täte ihnen leid. Beim nächsten Akt wiederholt die Arbeitsteilung sich in schöner Monotonie.
Nein, so hart anzufangen wäre unhöflich. Ein anderer Anfang also. Warum zwei Büchner-Preise? Den staatlichen und den alternativen? Verkam des jungen Autors Werk nicht längst zur bloßen Schulbuch-Lektüre? Sind seine Stücke nicht Lückenbüßer, spielplanfüllend, kaum noch das Parkett? Verkehren Akademien und Jurys den Rebellen nicht aus guten Gründen zum bequemen Halbklassiker?
Bestenfalls amüsiert er, läßt ein windeliebender postmoderner Regisseur den Woyzeck wie beschrieben auf offener Bühne furzen, was die Kritik zur Anmerkung inspiriert, endlich habe einer den Duft der Blumen des Bösen unparfümiert dargeboten. Im Rostocker Atelier-Theater führten neulich dreizehn Schauspieler den „Woyzeck“ für acht Besucher auf.
Ein neuer Versuch des Beginns: In den siebziger Jahren hielt ich für den Übersetzer und PEN-Generalsekretär Janheinz Jahn auf dem Waldfriedhof die Totenrede. Der um Darmstadt verdiente Oberbürgermeister und Autor Heinz Winfried Sabais, der bald nachfolgte in den Tod, war dabei, Karl Krolow sprach zarte Gedichte, Wolfgang Weyrauch, der Begräbnisse scheute, hatte seine Frau geschickt, sie stand neben Ernst Kreuders Witwe. Es war ein vom Sarg ausgehender Sog zu spüren, der aristotelische Horror vacui. Wenig respektvoll dachte ich: In Darmstadt möchte einer nicht begraben sein. Daß zur selben Zeit eines meiner Bücher von der Darmstädter Jury zum „Buch des Monats“ ernannt wurde, schreckte mich auf. Was hatte ich falsch gemacht?
In diesen Tagen schrieb ich den Monolog, den zu Beginn Joseph Lorenz vertrug, und den ich als höfliche Bitte an die Akademie verstehe, die Mahnung des Hofpredigers in „Leonce und Lena“ zu beherzigen und, das Reich Popo wie das Reich Pipi verlassend, einen Präsidentenspruch zu dementieren, der da lautet: „Alle Untertanen werden aufgefordert, die Gefühle Ihrer Majestät zu teilen.“
Stattdessen wäre ein anderes Büchner-Wort aus „Dantons Tod“ angebracht: „ Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet?“
Aber nein, der Anfang mit Mord ist zu brutal. Ich versuche einen vierten: Büchner 1835 aus Straßburg an Gutzkow: „Das Verhältnis zwischen Armen und Reichen ist das einzige revolutionäre Element in der Welt ... “
Ein gefährlicher, ein überholter Satz. Wir, die Reichen dieser Welt antworten den Armen, wenn und wo sie revoltieren, mit Grundgesetzänderung, mit NATO-Eingreiftruppen, elektronisch gesteuerten, ihr Ziel suchenden Massakerraketen. Kein revolutionäres Element darf unseren abendland-fürstlichen Reichtum antasten. Im Frieden bestimmen wir die Rohstoffpreise, im Krieg die Tötungsraten. Unsere Priester gebieten den armen Völkern karnickelhafte Vermehrung, unsere Dichter definieren fremde Völker, wenn sie aufbegehren, als todessüchtige Nazi-Massen und unsere Söldner tun dann auf Befehl nichts als ihre Pflicht, wozu der Militärbischof Dyba als Fundi von Fulda die Waffen segnet. Da mag
der tote Büchner aus seinem Krautgarten-Grab noch so aufschreien, ein Staats-Preisträger wird ihn zensieren: Krieg den Hütten!
Und so bombardieren wir die Hütten. Und wer dazu auffordert, kriegt von der Akademie den Büchner-Preis. Stimmt da was nicht?
Nein, dieser Anfang ist zu ernst. Mein fünfter Versuch: Literatur sei nichts als Sprache, dozieren die Vorsitzenden der kakerlakischen Kunst-Industrien, die als beamtete Sprachrohre des Zeitungeistes per Sitzfleisch Karriere zu machen verstehen. Stellen wir uns Büchner vor, wie er einen sauberen Entwurf der Flugschrift einreicht beim Darmstädter Literaturfonds, mit untertäniger Bitte um Förderung, der folgsam bezopfte Stipendiat als schweißtriefender Zögling, der artig gelobt, sich modischer Ästhetik zu bedienen und durch die Blaue Blume sanft zu poetisieren. Hätte der hessische Schorsch dann nicht seinen Danton sagen lassen müssen: Was ist das, was in mir buhlt, bettelt, leugnet, nach den Krumen hascht, die von der Beamten Tische fallen? Ja hätte Büchner kürzlich vor einem Friedrich Zimmermann, diesem „Kuratoriumsmitglied“ und „Organ der Akademie“, so die offizielle Bezeichnung, den Hut ziehen sollen? Der Innenminister als Akademie-Organ, das dem Nazi-Oberst Rudel höchste Lobesworte widmet: „Rudel war im 2.Weltkrieg das ist unbestritten einer der tapfersten und in seinem militärischen Wirken erfolgreichsten Soldaten. Er erfüllte seine soldatische Pflicht, zuletzt beinamputiert, bis zum bitteren Ende. Dafür sollte man ihm Anerkennung entgegenbringen ...“
So Zimmermann über Rudel. Nun, als Beispiel, Rudel nicht über Zimmermann, aber über seinen Führer: „... Und der Führer steht vor mir. Ich denke nur daran, daß ich kein frisches Hemd angezogen habe, mehr nicht.“ Mehr dachte er nicht. Der Rudel. Der Zimmermann. Beinamputiert oder hirnamputiert, das ist
hier die Frage. Die Akademie sollte es zum Thema ihrer nächsten Tagung machen.
Ich setze zum sechsten Anfang an:
Nicht absichtslos bat ich zwei Autoren hier als Sprecher zum Pult für die montierte Laudatio. Ihre Namen: Stefan Wachtel, vormals DDR-Häftling, und Martin Rooney, ein englischer Germanist, in Bremen lebend, in deutsche Literatur und jenen Teil unserer Kultur verliebt, den wir strafbar vernachlässigen. Keiner der beiden wird von einem Kulturfonds unterstützt. Kein Wunder, sie katzbuckeln nicht vor Stipendienverwaltern, fehlen auf allen Vorschlagslisten, auf denen die immer gleichen Bettelzöglinge stehen.
Stefan Wachtels schmaler Erstling „Delikt 220“, im Greifenverlag erschienen, berichtet autobiographisch vom existentiellen Widerstand des jungen Gefangenen. Sätze, genau und kühl. Erfindungen so wenig wie im „Lenz“, die Poesie wie mit dem Skalpell aus dem Inneren des Äußeren hervorgeholt. Ich tausche gern 100 modedeutsche Weinerlichkeiten gegen diesen einen glasklaren gescheiten Existenzbefund. Das wurzelt im selben Boden wie der junge Büchner.
Und Martin Rooneys Ausgrabungen des uns unbekannt gemachten Armin T. Wegner bezeugen die Liebe eines Briten zu unserer Literatur Ich werde jetzt nicht anheben, Armin TZ Wegner zu rühmen, diesen Pazifisten und Stilisten, diesen Anti-Nazi aus Klugheit und Liebe zum Leben. Der englische Germanist Martin Rooney widmet dem großen Vergessenen alle Kraft und Energie, und da wir leider der untergegangenen DDR nicht viel Gutes nachsagen können, sei sie wenigstens dafür gerühmt, daß sie Wegner verlegte. Er starb 1978 in Rom. Die BRD hatte ihn schon jahrzehntelang durch Schweigen getötet. Dem Gedächtnis des Landes will Martin Rooney aufhelfen.
Hier nun mein siebter Anfang:
Große Zeiten stehen uns bevor, eine neue Bush-Ordnung soll geschaffen werden. Die unsere europäische Humanismustradition verleugnenden Großraumpolitiker gefallen sich in amerikanischen Gefangenschaften als wäre der bigotte Empirismus eines US-Präsidenten mehr als mühsam kaschierter Weltherrschaftswahn.
Weshalb laufen immer mehr Intellektuelle zu den Kriege vorbereitenden Machtpolitikern über? Der Verrat der Intellektuellen, von dem Julien Benda sprach, ist heute in ihrer Weigerung begründet, das 20. Jahrhundert als Tiefpunkt der Menschheitsentwicklung zu begreifen. Stattdessen rühmen sie den westlichen Fortschritt, denn natürlich ist die Fähigkeit, mit einem einzigen Schlag mehr Menschen zu eliminieren als in allen Schlachten der griechischen Antike zusammengenommen getötet wurden, eine unübertreffliche Kulturleistung.
Was wäre als Gegenkraft zu mobilisieren? Vielleicht das Weltbürgertum außerhalb der Gewaltmonopole? Büchner, Schopenhauer, Nietzsche als regionales Weltbürger-Dreigestirn – Darmstadt, Gießen, Frankfurt, Leipzig, Basel, Straßburg, Genf und Hessen, Sachsen, Thüringen, die Schweiz, Italien sind ihre Lebens-Mittelpunkte gewesen. Kein Machtstreben aus Regierungssesseln, Oberkommandos, Medien-Schlössern, aber die ebenso scharfe wie humane Konsequenz des aufrechten Ganges unter Verzicht auf Orden und Karrieren.
Bietet die Dreiheit Büchner-Schopenhauer-Nietzsche den Ausgangspunkt für revolutionär-bürgerliche Kultur-Innovationen? Der Untergang im Osten besiegelte den falschen Weg des Sozialismus. Was nun? Muß dieses 20. Jahrhundert nicht unters Skalpell wie ein verkrebstes Organ? Wer seine Kriege und die mißlungene Revolution zu verantworten hat, wäre der nicht besser vorher abgetrieben worden? Betrachte ich unsere deutschen
Jahrhundertgrößen, weiß ich, es wurde zu wenig geburtenregelnd eingegriffen, derart wachsen Monster auf, die alle Abtreibungen kriminalisieren, denn sie brauchen neue Monster. Sie züchten sie.
Unser Freund Alfred Andersch erntete als Deserteur Schimpf und Schande. Und als er in Deutschland Gasgeruch bemerkte in einem seiner letzten Gedichte, da wurde er in den Medien in effigie gelyncht. Anfang dieses Jahres 1991 stank das deutsche Gas bis in den Irak, doch Andersch durfte nicht erinnert werden, denn wer beizeiten warnt, den fressen die Hyänen unter Absingen ihre Nationalhymne.
Im letzten Weltkrieg wurden zwanzig bis dreißigtausend deutsche Deserteure geköpft, erschossen, gehenkt. Als Stalin aber vorschlug, fünfzigtausend verantwortliche deutsche Offiziere und Führer hinzurichten, schockierte er die Welt, die den Holocaust geduldig ertragen harte. So endete nur ein kleiner Teil der Massenmörder am Galgen, denn die anderen wurden für neue Aufrüstungen benötigt. Merke: Ohne grundsätzliche kopernikanische Wende von der Kriegs- zur Friedenskultur ändert sich nichts.
Kehren wir folgerichtig zurück zu den schärfsten Geistern des vergangenen Jahrhunderts. Büchners dramaturgisches Seziermesser läßt keinen Platz für Unterdrücker und sie ermöglichende Opportunisten. Schopenhauers Desillusionierung erzwingt den Abschied von Ideologien.
Nietzsches unruhiger Scharfsinn endlich postuliert: „Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch, der nicht überflüssig ist ...“
So spannt sich ein mißachteter Bogen von Büchner zu Nietzsche, zu einem Philosophen, der so verfälscht wurde, daß Hitler ihn schändlich mißverstehen konnte. Noch einmal Nietzsche: „Staat
heißt das kälteste aller kalten Ungeheuer. Kalt lügt es auch; und diese Lüge kriecht aus seinem Munde: ›Ich, der Staat, bin das Volk.‹“
Hier höre ich den jungen Büchner im alten Nietzsche sprechen. Wie Ludwig Wilhelm Luck berichtet, grüßten Büchner und Minnigerode sich schon zu ihrer Gymnasialzeit mit: „Bonjour, citoyen“, das war ein Gruß an die Menschenrechtsrevolution, und sie entboten einander kein „Bonjour; bourgeois“, der offenbar postmodernen Gegenwartsgrußformel.
Die horrende Sprachlosigkeit unserer politischen Klasse, der gebückte Gang mit Sklavensprache der regierenden Kulturmoderatoren, die grassierende Nabelschau-Literatur mit seelischen Flohzirkus-Ausmaßen dies alles schuldet sich intellektueller Dürftigkeit. Schon fühlen die Kräfte der Verderbnis sich bestärkt: die intellektuelle Rechte rüstet auf. Ausländerfeindschaft wuchert, Überfälle auf Vietnamesen, verletzte Polen und ermordete Farbige sind keine Schlagzeile mehr wert. Nur wenn eine der Millionen Tötungswaffen, die im Land der angeborenen Unschuld produziert werden, nach hinten losgeht und einen Angehörigen der Oberklasse trifft, wird Entrüstung laut. Die tausend und abertausend Opfer unserer Rüstungsproduktion, die in ferneren Gegenden getötet werden, kümmern unsere Kulturnationalisten nicht. Dafür setzt es dann Spendenaufrufe ans liebe, gutwillige Volk..
In unseren gutdotierten Institutionen und Akademien aber herrscht der Nepotismus des Mittelmaßes, das besser der Chemie angeschlossen würde, Abteilung Schlafmittelherstellung. Die Chemie freilich würde dankend ablehnen. Bei ihr gilt Leistung. Die gilt nun auch in der Darmstädter Akademie. Man lockte jetzt gar einen Leipziger Dissidenten-Autor ins Präsidium. Warum auch nicht – der Kampf ist entschieden. Nun ist gut Heulen mit den Siegern. Vorher allerdings, als der Kampf noch unentschieden, hielt man sich vornehm unpolitisch zurück. Solidarnosz
in Polen, Havel in Prag, Walter Janka, Wolfgang Harich und Erich Loest in Bautzen, das war weit hinten in der Türkei. Als ich vor dreißig Jahren in meinem Buch „Ärgernisse“, die Namen der Häftlinge nennend, Solidarität für sie forderte, machte das Buch zwar Auflage, doch von Raddatz bis Reich-Ranicki, von der Gruppe 47 bis zur hiesigen Akademie antwortete Schweigen. Heute nun kennt jeder die Namen Janka, Harich, Loest, zugleich klagen die Kulturbürokraten, in der DDR habe es keine Dissidenten, vergleichbar den Havel, Kundera, Georgy Konrad gegeben. Das ist geheuchelt und verlogen. Kein polnischer, tschechischer, ungarischer Dissident mußte für unfrisierte Worte so lange ins Zuchthaus wie unsere Freunde. Die Repression gegen sie war härter, Desinteresse und Verrat westdeutscher Autoren waren kälter. Die bundesdeutsche Intelligentsia half der DDR-Diktatur, entweder aus politischer Nähe oder aus Marktspekulation, denn wer tüchtig mitmachte, durfte mitkassieren, oder es herrschte die selbstverschuldete Unschuld purer Unwissenheit vor, die man wohl der Akademie attestieren darf. Sie hatte es eben immer mit der Sprache zu tun, die zum Verstummen Verurteilten scherten sie einen feuchten Kehricht bis, ja bis nun die deutsche Einigung unerwartet ausbrach, und jetzt entdeckten die Gehirne im grauen Flanell gar die Politik und wagten jüngst vereinigungstüchtig in Weimar zu tagen beim Großonkel Goethe, der immerhin Minister gewesen, während der arme Büchner es nicht mal zum Geheimrat brachte. So geht alles seinen Kriechgang. Würde etwa einer der Ex-DDR-Häftlinge, so wie Havel in Prag, in den neuen Bundesländern gebraucht? Wurde das Zuchthaus in Bautzen angezündet, abgerissen? Nein, Polit-Beamte aus dem Westen verschwistern sich mit Karriere-Stalinisten, die Oppositionellen stehen wie Borcherts Beckmann draußen vor der Türe.
Man entscheide sich, ob man als Akademie im Schlafrock mit Filzpantoffeln Marke Leisetreter nichts als das eigene Gruppenglück betreiben will oder sich gar von der Akademie für Sklavensprache
und Staatsdichtung umwandelt in eine Kriegs- und Militärakademie, in der die Aufstellung mobiler Eingreiftruppen für den nächsten Krieg am Golf und sonstwo beschönigend bedichtet wird.
Für die Ironie komme ich nicht um Vergebung ein.
Mein achter und letzter Anfang: Was ist zu tun? Können wir Büchners Gesellschaft der Menschenrechte als Weltbürgerrechts-Gesellschaft realisieren? Ist die Kriegsstrategie, zuletzt am Golf kriminell erprobt, in eine gezielte Friedensstrategie zu verkehren? Abrüstung programmiert, keine Waffen ins Ausland, Kürzung der Rüstungsausgaben pro Jahr um 5%, Finanzierung des Friedens und politischer Strategien gegen herrschende Machtgruppen und Monopolinhaber. Das sei Utopie, sagt man uns. Aber nein, das ist die Kernaussage des menschlichen Entwicklungsprogrannn der Vereinten Nationen, das gerade erst in Genf veröffentlicht wurde. Welche deutsche Partei macht sich dieses revolutionäre Friedensprogramm zu eigen? Wo sind die großen Medien, die für den UNO-Beschluß im Golfkrieg trommelten und nun ebenso lautstark für die UNO-Friedensstrategie eintreten?
Verhält sich, wer das lauthals verkündete Programm künftiger „Kampfeinsätze der Bundeswehr“ in anderen Ländern akzeptiert, nicht genauso opportunistisch wie diejenigen, die Hitlers Krieg gehorsam mitführten? Wo bleibt die Anti-Kriegspartei?
· Bei Büchner, Schopenhauer, Nietzsche ist die Haltung der individuellen Revolte zu lernen, gegen die Verführungen der kollektiven Vernichtungssysteme, zu denen Theorie und Praxis der kommunistischen Diktaturen ebenso gehören wie ihre antikommunistischen Gegen- und Ebenbilder. Das alte Denken blockiert sich gegenseitig.
Dazu gehört die bei uns jetzt so beliebt gewordene Schuldzuweisung an den Osten, als wohnten im Westen lauter Engel. Auch
Wolf Biermann schimpft immer lauter auf Stalinisten, als wären er und Robert Havemann nicht auch welche gewesen, zu lange, ließe sich urteilen. Gestern machte mich der Herausgeber der „europäischen Ideen“ auf Sätze aus meinem 1959 erschienenen Roman „Die Liebe der toten Männer“ aufmerksam. Es heißt darin: „Dies Buch ist gewidmet meinen Freunden Erich Loest und Günter Zehm und allen anderen in Ulbrichts Kerkern. Dies Buch ist geschrieben gegen ihre Kerkermeister und alle die das Unrecht unterstützen, verschweigen und insgeheim billigen, zur Tagesordnung übergehen, den Kaisern geben, was ihnen nicht ist, von Freiheit reden und nichts für sie tun ...“
Cover zum Bühnenstück
Ich zitiere das nicht aus Rechthaberei. Die Worte aus dem Jahre 1959 trafen hier im Westen auf taube Ohren und im Osten galten sie als Kalter Krieg. Zu dieser Zeit waren Biermann und Havemann noch voll auf Parteilinie. Ich klage nicht an, rate aber: Hören wir auf mit der Beschimpferei. Dieser Kampf ist entschieden. Es ist Zeit für Vergebung.
Arthur Koestler erzählte mir einmal, wie Alfred Kantorowicz ihn nach seinem Weggang aus der DDR in London aufsuchte. Kantorowicz erzählte mir das auch, aber anders. Sicher ist nur, Koestler empfing den alten Freund mit der vorwurfsvollen Frage: „Warum kommst du erst jetzt?“ Gemeint war der späte Absprung von Stalins Partei. Kantorowicz antwortete: „Besser jetzt als gar nicht.
Die Frage bleibt: Warum erst jetzt? Vielleicht ist es für uns alle längst zu spät. Vielleicht sind die Weichen längst weltweit auf Vernichtung gestellt. Dann gilt das Trotzdem. Wer eine schäbige Existenz nicht führen will, der wird die Parteien der Diktatur ebenso verabscheuen und bekämpfen wie die angesagte okzidentale Strategie der Herrschaftserhaltung durch Kriege.
Ich bedanke mich bei Ihnen fürs geduldige Zuhören und beim Preisstifter für die Gelegenheit, frei von der Leber weg sprechen zu können wie es anderswo kaum noch möglich ist, denn der Fortschritt der Medien ist der Rückschritt des freien Wortes, das die Akademien gewiß nicht gewährleisten können, sind sie doch die institutionalisierte Angst vor dem Schmerz neuer Erkenntnisse. Der illusionslose Schopenhauer sagt in „Parerga & Paralipomena“, „der deutsche Gelehrte“ sei „meistens ein rücksichtsvoller Lump“, denn „Die Barbarei kommt wieder“ und „jedes Stück Soldatenleben“ wirke „demoralisierend“. Da hören wir unsern Büchner durch und denken an unsere großartige Gegenwart mit militärischen Konfettiparaden in Manhattan und in den Köpfen unserer Politiker.
Ich denke dagegen an die vielen Freunde bei uns und anderswo, die als Friedensaktivisten beschimpft, verdächtigt, entmutigt, behindert, verfolgt, verprügelt, bestraft wurden. Denn konkret gegen Rüstung und Krieg etwas zu tun, gilt immer noch als kriminell.
Mein sächsischer Landsmann Erich Kästner brachte auf den kürzesten Ausdruck, was ich hier vorzutragen versuchte und was etwas hochtrabend Existenzphilosophie genannt wird. Die lyrische Marginalie des Poeten von der Elbe lautet:
„Es gibt nichts Gutes, es sei denn man tut es.“
Aufführung im Düsseldorfer Schauspielhaus
Nachwort zum Nachwort 70 |
|
Als 1989 mit der deutschen Einheit neue alte Krisen und Kriege drohten, stiftete der so wohlbetuchte wie aufrechte Darmstädter Bürger Walter Steinmetz den Alternativen Büchnerpreis – alternativ zum kommoden Akademiepreis. Die Alternative gab es fünfmal: 1989 Walter Jens – 1990 Dieter Hildebrandt – 1991 Gerhard Zwerenz – 1992 Robert Jungk – 1993 Karlheinz Deschner. Zwanzig Jahre nach meiner damaligen Rede lese ich sie als Abschiedsadresse. Bis 1989/90 gab es Alternativen in Politik und Kultur – wir nannten es 3. Weg. Inzwischen zementierte Angela Merkel ihre desaströse Wortschöpfung „alternativlos“. Ringsum herrscht das programmierte Chaos. Stolz bin ich nicht darauf, den Niedergang vorausgesagt zu haben: "Die horrende Sprachlosigkeit unserer politischen Klasse, der gebückte Gang mit Sklavensprache der regierenden Kulturmoderatoren, die grassierende Nabelschau-Literatur mit seelischen Flohzirkus-Ausmaßen, – dies alles schuldet sich intellektueller Dürftigkeit ...“ Das war wohl widerwillig wahrgeredet.
Die Darmstädter Preis-Alternative war als Potential der Nichtintegrierbaren gedacht. Ist Büchner tot oder lebt er? Inzwischen handelten die Praktiker Kohl-Schröder-Merkel wie geschmiert. Inzwischen versucht sich Walter Jens nahe dem Tübinger Turm am Neckar in der Rolle des abwesenden Friedrich Hölderlin, lacht Dieter Hildebrandt aus München wie Tucholsky aus Schweden, entwirft Gerhard Zwerenz eine freiheitliche DDR auf dem 3. Weg, schreibt Zukunftsforscher Robert Jungk zu Heller als tausend Sonnen als zweiten Teil Dunkler als tausend Höllen, verschweigt Karlheinz Deschner das Ende der christlichen Kriminalgeschichte, Armageddon genannt.
Während in der Berliner Republik Büchners Friede den Hütten, Krieg den Palästen in einen Krieg den Hütten umgedeutet wird, gibt es von auswärts freundliche Nachrichten:
|
|