Einiges Land oder wem die Rache gehört In jenen fernen Zeiten, als der Genosse Chruschtschow im Jahr 1956 im Kreml eine Rede gegen den überlebenstoten Genossen Stalin hielt und der Genosse Walter U. im Politbüro in allerlei Turbulenzen geriet, rettete der Genosse Paul F. als Leipziger SED-Bezirkssekretär den Bedrohten, indem er sich selbst sowie seinen Kultursekretär Siegfried W. von der Leine ließ. Nach der Bellerei und Beißerei fanden sich die einen im Zuchthaus und die anderen in westlichen Gefilden wieder, der Rest begab sich ins gelobte Land ruhiger Parteikarrieren. Der Sieger Siegfried W. aber brachte es zum ZK-Kultursekretär und Ministerstellvertreter und disziplinierte siegreich den aufmüpfigen Dichter Heiner M., welcher das skandalöse Theaterstück Die Umsiedlerin in die sozialistische Welt zu setzen versuchte, was ihm fürsorglich verhagelt werden musste. In jenen fernen Zeiten also richtete ich von Irland aus, wo ich mit Frau und Tochter für einige Monate in Heinrich Bölls Cottage wohnte, einen Liebesbrief an den schlimmen ZK-Finger. Mein Schreiben vom 20.3.1960, aufbewahrt in der Behörde für „Geheime Forschungen“, von der aus ich es nun zur Kenntnis nehmen durfte, ging so:
„Lieber Siegfried Wagner, soweit ich orientiert bin, bist Du faktisch der Nachfolger von Paul Wandel. Ob es mir passt oder nicht, ich muss mich also an Dich wenden. Wie ich erfahre, macht sich Euer Staatssicherheitsdienst immer noch oder auch wieder viel Arbeit mit mir. Das sollte er nicht tun, ich meine, die Genossen hätten wirklich wichtigere Dinge zu tun. Was meine politische Meinung betrifft, so hat sie sich in den letzten Jahren wohl in konkreten Dingen geändert, nicht aber im Wesentlichen: Ich halte von der hiesigen westlichen Gesellschaft ebenso wenig wie von einem Sozialismus, in dem Leute Deines Schlages Machtfunktionen ausüben, die vom Volk nicht kontrolliert werden können. Dies ist das eine, und ich kann nur raten, dass Du meinen nächsten, im Herbst erscheinenden Roman liest, da exemplifiziere ich diese meine Ansicht. Damit komme ich zur Hauptsache. Ich habe die Zeit genutzt. Es liegen mehrere Manuskripte vor, die Bücher können eins nach dem andern die nächsten Jahre erscheinen, und sie werden Dir und Deinen Genossen nicht viel Freude machen. Andrerseits bin ich aber auch nicht auf das Erscheinen dieser Bücher angewiesen. Einmal liegt mir nicht viel daran, den Antikommunisten Argumente zu liefern, zum andern möchte ich gern über unpolitische Dinge schreiben. Da hindert es mich geradezu, dass ich nun verpflichtet bin, erst die gegen Euch gerichteten Romane drucken zu lassen. Ich könnte mir vorstellen, dass es da zu einem gewissen gegenseitigen Einvernehmen kommen könnte. Ich schlage vor, Ihr solltet Euch überlegen, ob man Günter Zehm, Erich Loest und noch ein paar andre nicht freilassen könnte. Sie haben nichts wirklich Ernsthaftes getan, und Ihr steht gefestigt genug da, als dass dies Euch beeinträchtigen könnte. Freilich müsste ein Siegfried Wagner dann seine persönliche Antipathie zügeln, aber ich nehme an, dass er bereit ist, für die Partei auch dieses Opfer zu bringen. Sonst kann ich nur raten, die dummen Nachstellungen und Erkundigungen doch sein zu lassen. Ich falle nicht auf Finten rein, ich bin nicht zu kaufen, und bei meiner Frau findet Ihr auch nichts. Wollt Ihr unbedingt was wissen, so wendet Euch lieber direkt an mich. Übrigens, was die Manuskripte anbetrifft, von denen ich eingangs sprach, so lass ich mich auch da auf keinen Kuhhandel ein. Eindeutig: Sie sind fertig und an sichrer Stelle deponiert. Sie können ungedruckt bleiben, wenn Ihr mir entgegenkommt. Das riecht nach Erpressung, aber es ist keine, denn Ihr seid die Mächtigeren, ich habe nur das zu tun, was mir mein Gewissen rät. Und damit wir uns richtig verstehen: Ich biete Euch nicht mein Stillschweigen an. Ich werde nicht, weil Ihr einige Leute freilasst, die Ihr widerrechtlich eingesperrt habt, nun fürderhin gutheißen, wenn Ihr andere widerrechtlich inhaftiert. So ist es also nicht gemeint, ich binde mir keinen Maulkorb vor. Ich stelle nur in Erwägung, die alten und ganz konkreten Geschichten auf sich beruhen zu lassen. Meine beiden Bücher Aufs Rad geflochten und Die Liebe der toten Männer werden also noch ein halbes Dutzend Nachfolger finden oder auch nicht. Dies ist zu verhandeln. Gerhard Zwerenz“ Wie ich hörte, soll der Genosse Siegfried W. die Veruneinigung von 1990 unbeschadet überstanden haben. Der Dramatiker Heiner M. hat ihm kurz vor seinem Tode großherzig vergeben, und da mir zum Rache-Engel die flotten Flügel fehlen, sage auch ich: Schwamm drüber. Zumal Genosse Siegfried W. danach als von der SED gemaßregelter Widerstandskämpfer galt. Tatsächlich wurde er, wie ich lese, wegen zu liberaler Haltung in seinem späteren Leben verschiedentlich vom Politbüro vermahnt. Offenbar litt Wagner unter Anflügen von Reue und suchte sich zu bessern. Wollte ich ihm weiter unversöhnlich begegnen, gliche ich jenen Bürgerrechtlern, die, vom Dritten Reich ungerührt, ihren Hass allein auf die im Orkus verschwundene DDR konzentrieren. Sie meinen, Hitler heiße in Wahrheit Ulbricht-Honecker, der habe den Zweiten Weltkrieg ausgelöst, indem er die Bonner Republik überfiel und die Westdeutschen sofort ins KZ steckte. „Mein ist die Rache, ich will vergelten, spricht der Herr“, sagte Paulus laut Römer 12,19. Nun sollen das Paulus und sein Herr unter sich ausmachen. Mein ist die Rache nicht. Außerdem unfruchtbar, viel zu anstrengend und so geist- wie humorlos. Meinen Brief von 1960 aus Irland an den damaligen Triumphator in Leipzig lesend, denke ich nicht ohne Mitgefühl an den inzwischen Besiegten. Es steht uns, der Gemeinschaft unterlegener Sozialisten wohl an, die heutigen Sieger mit fröhlicher Gelassenheit zu betrachten. Beneidenswert sind sie nicht. Schreiben wir ihnen also zum Trost liebenswürdig-freche Sätze ins Stammbuch. Kein Sieg ist von Dauer. Die fünf kategorischen Imperative: 1. Kant: Handle so, dass die Maxime deines Willens zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten können … 2. Marx: Die Kritik der Religion endet mit der Lehre, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei, also mit dem kategorischen Imperativ, alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist … 3. Nietzsche: Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muss … 4. Bloch: Der Mensch ist erst im Werden begriffen … 5. Jesus: Liebe deine Feinde … Anmerkungen – zu Jesus: Wer sich selbst nicht liebt, sondern hasst, der hasst die Menschheit. Zu Bloch: Der Mensch hat die Wahl, wieder Raubtier zu werden. Zu Nietzsche: Der überwundene Mensch ist das Gespenst seiner Vergangenheit. Zu Marx: Der Mensch als Revolutionär mutiert an der Macht zum Konterrevolutionär. Zu Kant: Diese Anweisung ist inhaltlich leer. Dieter-Schiller-Broschüre Es ist schwer, einen Feind zu bekämpfen, der einem Kopf und Herz umfangen hält „Auch der letzte Redner der Konferenz, der Leipziger Kultursekretär der SED – Siegfried Wagner – bald danach wurde er Leiter der Abteilung Kultur im ZK – wies Cremers provozierende Klarstellung zurück. Er tat dies im Kontext einer Rede, die einen erschreckenden politischen Zynismus verrät. Die Partei – sagte er – habe Verständnis für jede Auffassung, aber kein Verständnis, wenn man sich der Partei verschließt, den Weg der Partei nicht gemeinsam mitgehen will. Was blieb da von den Auffassungen? Von solchem Grundsatz her war es kein Ausrutscher, dass sein letztes Wort eine offene Drohung ist. Mit Verweis auf die Parteidiskussion um Veröffentlichungen von Gerhard Zwerenz, die mit Ausschluss endete, fordert Wagner dessen geistigen Vater Ernst Bloch auf, jetzt ›Farbe zu bekennen‹, und legt dem Präsidialrat des Kulturbundes – Bloch war noch Mitglied dieses Gremiums – ultimativ nahe, sich endlich in die Hexenjagd auf den Philosophen und seine Vorstellungen von demokratischem und humanem Sozialismus einzuschalten. Das .geschah dann auch am 13 .Dezember. Zum Skandal schließlich wird Wagners Bericht über den Umgang mit dem Leipziger Kabarett. Als es mit Feinfühligkeit und geduldiger Aufklärung nicht mehr gegangen sei, habe man einige Arbeiter ins Kabarett geschickt, die sich auf ihre Weise mit dem republikfeindlichen Programm auseinandergesetzt hätten. Es dürfte den Zuhörern angesichts der Leipziger Verhaftungen schwer gefallen sein, das nicht als einen bewussten Einschüchterungsversuch zu empfinden.“ In diesen Passagen über die Konferenz tauchen die bekannten Namen unserer Verfolger auf: Heinrich Schwartze, Alfred Kurella, Siegfried Wagner. Um die Gruppe zu vervollständigen sind Walter Ulbricht, Paul Fröhlich, Kurt Hager, Rugard Otto Gropp anzufügen und wir haben die Anti-Bloch-Gang beisammen. Im Bloch-Roman sollten sie das Schlusskapitel bilden. Die Fakten reichten, die Motive nicht. Ich sah mich in einem Dilemma, denn, heißt es bei Leo Tolstoi in Krieg und Frieden, es ist schwer einen Feind zu bekämpfen, der einem Kopf und Herz umfangen hält. Walter Ulbricht hatte als Sozialdemokrat und Deserteur ab 1918 zur Revolution gefunden. Nicht die Utopie, sondern seine Vision vom Kommunismus führte ihn in die Abhängigkeit von den Sowjets und schließlich von Stalin. In unterschiedlicher Weise und Intensität gilt das auch für die anderen, deren Feindschaft wir entweder sklavisch erwidern oder dekonstruieren können. Wer Feindschaft nur erwidert, macht sich zum Sklaven seiner Feinde. Wer Feindschaft dekonstruiert, riskiert die intellektuellen Abenteuer der Ich-Revolte. Heute beschimpfen professionelle Christen unsere Genossen gern als Gutmenschen und zählen sich damit unbewusst zu den Schlechtmenschen, die ihren Gutmenschen Jesus kreuzigten. Die Logik der Sprache bereitet anfangs interne Schwierigkeiten, was bei der Gründung einer neuen Partei der Konservativen zu Komplikationen führt. Wenn die Besatzer aus dem Land, das sie besetzten, vertrieben werden und anschließend als Vertriebene, gar deren Sprecher (-innen) auftreten, erhält das Wort Opferverband einen seltsamen Sinn. Neudeutscher Logik zufolge mutiert Hitler zum Opfer des Stalinismus. Das sei übertrieben, wendet der brave Mann ein, Kriegsopfer jedoch ist er wie alle Leidtragenden des sogenannten Schandvertrages von Versailles … Ich begreife, der deutsche Bürger kann als Soldat jeden Krieg beginnen, nur zur Beendigung benötigt er fremde Heere. Die fremden Heere West kamen beim letzten Mal mit Bombenterror aus der Luft. Die fremden Heere Ost drangen über Land mit Terror, Mord, Vergewaltigung, Vertreibung in unser deutsches Vaterland ein. Hätten unsere Besieger nicht etwas humaner siegen können? Das weiß ich nicht. Ich weiß nur, hätten die Russen (Bolschewiken) uns nicht niedergeworfen, stolzierten unsere Herrschaften in scheißbraunen und totalschickschwarzen Uniformen herum – als Sieger weltweit. Von innen unbesiegbar. Schwarzbraun ist die Haselnuss, Im Nachwort 40 wurden Johannes R. Bechers Totengedicht auf den ermordeten Erich Mühsam und Brechts Nachruf auf Carl von Ossietzky abgedruckt. Wir fragen nach bei Lehrern, Schülern, Studenten: Wer kennt die beiden Wortwerke einer antifaschistisch eingreifenden Literatur? Welches deutsche Land widersteht dem kollektiven Vergessen, das mehr und mehr ein kollektives Verdrängen ist? Ohne die ständig versprochene Einheit zu erlangen spaltet sich die Sprache zu alten Frontstellungen: War der Kampf also vergebens? (Brecht) Am 19.9.2010 feierte die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Ernst Jünger auf prallen zwei Seiten als gesamtdeutschen Helden: „Blutbuch … Gesteigerte Poesie … Der Krieger …“ Leben wir nun nach oder vor 1945? Hubert Spiegel, sonst gar nicht aus dem düstren Hinterwald, signalisiert am 2. Oktober in der FAZ für den Beginn der Buchmesse die Schöne Literatur in diesem Herbst unter der hochaktuellen Überschrift Nahe am Abgrund, was für sein Blatt zutreffen mag. Noch näher am Abgrund folgt der Satz: „Was die Schriftsteller am Krieg reizt“. Nach allerlei aufgeblasenen Helden-Histörchen folgt die Frage:„Worin liegt der literarische Reiz von Krieg, Gewalt, Zerstörung und Untergang?“ Dominiert wird der Reiz von Ernst Jüngers Stahlgewitterdonner, wovon sonst. Ein knappes Jahrhundert nach seinen Stroßstrupp-Legenden und inmitten neuer globaler, realer Schlachten fasziniert der epische Kriegsfaschismus, denn mit dem Ende der DDR entwichen die letzten Erinnerungen an die revoltierenden Kriegsfeinde Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Genossen aus den großbürgerlichen Kleinhirnen der unerschütterlichen Stahlhelmfraktionen. „Der Krieg hat mich zum Tenor gemacht! … Der Krieg hat mich zum Dichter gemacht!“ So zitieren Jüngers späte Jünger ihren Eiszeitritter von der traurigen Gestalt und fragen treuherzig verblödet mit Nietzsche: „Was ist das Böse?“. Fragt mal lieber, was die ewige Wiederkehr des bezahlten Dummen ist. Ulbricht gab 1956 im Oktober den Genossen Julius Hay und Georg Lukács die Hauptschuld am Ungarischen Aufstand. Es galt, einen Petöfi-Club in der DDR zu verhindern. Ulbricht hielt einen Aufstand ebenso wie Harich für möglich. Harich und Bloch wollten Ulbricht aus seiner Machtposition weghaben, um einen Aufstand zu verhindern. Mit Lukács und Bloch verlor der revolutionäre Marxismus zwei der Intellektuellen, die seit dem 1.Weltkrieg zu Wortführern prädestiniert waren. Ihre Anhänger verschwanden wie sie aus der Öffentlichkeit. Ihre Werke zählten nicht mehr. Der Feldwebel Fröhlich und sein Kulturorgan Wagner beklagten, dass diese „unmarxistischen“ Bücher überhaupt hatten unkommentiert erscheinen dürfen. Der Wehrmachtskoch als Philosoph, dem Kommentar – recte Zensur – über die Schriften von Lukács und Bloch hätten zugestanden werden sollen. So gingen Marxismus und Revolution zugrunde. Da sich dies alles zu Leipzig zutrug, begeben wir uns wieder in Auerbachs Keller mit Kafka vor der Tür, Goethe im Herzen und Prof. Holz als naives Gretchen, das dem Doktor Faustus widersteht, was Mephisto enttäuscht zur Hölle fahren lässt, von wo er mit neuen Aufträgen zurückkehrt. Demnächst mehr dazu. Mehrmals erwähnten und empfahlen wir Prof. Siegfried Prokops Bücher 1956 – DDR am Scheideweg und Zwischen Aufbruch und Abbruch, beide 2006 im Kai Homilius Verlag, Edition Zeitgeschichte Band 32 und 41 erschienen. Am 25. 5. 2008 mailte mir Prokop: „In Vorbereitung des Ulbricht-Kolloquiums am 14. Juni habe ich nochmal Deine Studie von 1966 gelesen und einiges in meinen Beitrag eingebaut. Ich schicke Dir den Entwurf meines DB zu Ulbricht. Für Kritik, Hinweise und Widerspruch wäre ich Dir dankbar.“ Meine Antwort kommentiert unsere fatale Lage damals und danach bis heute: „ Lieber Siegfried, besten Dank für Dein hochinteressantes Redekonzept zu W. U. Die Mischung von horizonterweiternden Details und Klischee-Korrekturen macht den besonderen Reiz aus. Ende der siebziger Jahre konnte ich in Belgrad Vaso Cubrilovic, einen der beiden letzten Überlebenden der Attentäter von Sarajevo 1914 sprechen, der sonst jedes Interview verweigerte. Darüber berichtete ich in meiner damaligen Hauszeitung, der Frankfurter Rundschau. C. schildert, wie schwierig es war, einerseits als Historiker über den 1. Weltkrieg vorzutragen, andererseits dabei aktive Figur gewesen zu sein. Im Fall W.U. ging es mir ähnlich – einerseits verfolgte uns Ulbricht 1956/57, war also auch mein Feind, andererseits konnte ich, in den Westen retiriert, nicht an den alten Gefühlen, Erfahrungen, Informationsmängeln festhalten. Vergangene Zeit und Wissenszuwachs verlangten nach Objektivierung. Ironie der Situation 1966: W.U. Essay und Casanova-Roman erschienen im selben Jahr, im September-konkret lobte Haffner mein W.U.-Bändchen übern grünen Klee, im selben Heft wurde mein Roman absolut verrissen. Des Rätsels Lösung, Röhl war zwar finanziell nicht mehr von der DDR abhängig und Haffners Worte über mein W.U.-Buch waren kompatibel, doch die Redaktion unter Ulrike Meinhofs Einfluss favorisierte noch die alte KP-Ideologie, da war mein Casanova eben nicht kompatibel. Warum erzähle ich das? Die Fronten West – Ost, subjektiv – objektiv, Fiktion – Authentizität, Gefühl – Ratio, Analyse – Erfahrungsbetroffenheit sind keineswegs überwunden und vorbei. Auch ich bin geteilt. Ulbricht von Leipzig 1956 aus gesehen ist mir ein Greuel, später von Köln aus wurde er mir zum Anatomie-Objekt. In Deiner Rede ist die Mischung auch minimal enthalten, was die Einzelheiten nicht diskussionsresistent macht. Frage Seite 2: 2.– 4. Juni Grotewohl, Oelßner, W.U. in Moskau – war das 52 oder 53? Der Konflikt Berija – W.U. scheint mir immer noch unklar. Klar nur, Berija wollte die DDR aufgeben. Ob Stalin das auch wirklich wollte? Und wenn, um den befürchteten Krieg zu vermeiden? Oder? Schirdewans Angaben sind meist etwas erinnerungsgestört? Zu Ulbrichts heimlichem Wunsch, Stalin anders zu überwinden als beim 20. PT geschehen. Ja, doch auf dem PT stellte sich diese Machtfrage unsicher als Entscheidung über Tod und Leben. Berija verlor es danach. Deine Bemerkung über SU und China benennt die entscheidende Differenz – Endlich das Gespräch Ulbricht – Harich. Wir wissen, Harich war auf Zehmsche Weise hysterieanfälllig. Dass er Ulbricht einen inneren SU-Zerfall offerierte, finde ich unwahrscheinlich. Gemeint waren wohl die ›soz. Länder‹ samt ›Grenzkorrekturen‹, das war auch noch illusionär genug, obwohl von heute aus gesehen Prophetie. Zu Harich-Augstein müsste ich etwas anmerken nach dem Motto: Zwei Illusionisten ringen um praktische Vernunft – genug, ich scheue sonst so lange Papiere. Deine Rede hat mich verführt. So also mein herzlicher Dank und Grüße dazu! GZ PS: Im poetenladen skizzierte ich in der 30. Folge den ›Sachsenschlag‹ – seitdem (1923) ist die DKP samt Ulbricht und Wehner deformiert wie die Sozis seit 1914, und immer geht die SPD ursächlich voran. Soviel zur Frage, ob nicht eine ganz andere und neue Sicht notwendig wird. Innerhalb der Deformation war Ulbricht die schärfste und stärkste Figur. Ein klassischer Sachse wie Nietzsche, Richard Wagner und Karl May. Der letztere an erster Stelle.“ Die Antwort an Prof. Prokop enthält eine Verteidigung unserer Opposition in der DDR und zugleich die Verteidigung Ulbrichts und Genossen gegen seine und unsere Feinde (Gegner?) im Westen. In der Bundesrepublik war ich dann nicht weniger oppositionell als ich es in der DDR gewesen bin. Es gab dafür Gründe. Den geradezu chirurgischen Einschnitt vom August 1944 werde ich nie als ungeschehen betrachten, geschweige denn vergessen. Die Nachricht vom misslungenen Attentat auf Hitler am 20. Juli saß mir noch in den Knochen, als ich Anfang August in den Warschauer Aufstand geriet. Vor die Wahl zwischen Hitler und Stalin gestellt, schlug ich mich zu den Genossen durch. Auf die Konsequenzen verweist Prokop in seinem Vortrag von 2008: „Nimmt man das Wirken Ulbrichts in den 50er Jahren in den Fokus, so fällt im Vergleich zu Konrad Adenauer Ulbrichts Weitblick auf. Schon 1950 drängte er mit Erfolg auf Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze, während die westdeutsche Deutschlandpolitik dabei verharrte, in unrealistischer Weise ein Deutschland in den Grenzen von 1937 zu verlangen. Die Bundesrepublik setzte die traditionelle Maßlosigkeit fort, die Zwerenz in seiner Studie über Walter Ulbricht beschrieb: ›Dieses Bürgertum, das nie auf der Höhe seiner Zeit und Situation war und immer nur Vergangenes wiederherstellen wollte, verlor bei jedem Restaurationsversuch nur neue Gebiete und antwortete mit erneuerter Aggressivität, wobei es den Völkischen gelang, das Volk mitzureißen. Dergestalt verlor man zwei Kriege, erhielt aus der Ablehnung des Vertrages von Versailles das Über-Versailles von Potsdam und führt nun den Krieg, den man jeweils über den Rhein, die Weichsel, die Wolga getragen hatte, an der Elbe, dem Fluss in der Mitte Deutschlands: auf sich selbst zurückgeworfen und noch immer mit denselben ungelösten Fragen.‹“ Mag sein, in Warschau handelte ich noch aus dem Bauch heraus. Die zugehörigen fünf kategorischen Imperative lernte ich erst in den fünfziger Jahren in Leipzig kennen, ohne sie in den sechziger Jahren im Westen zu vergessen. So wird der Blick zurück frei von allen Ressentiments, aber auch von der Verlockung des Beschwichtigens. Ich bin eitel genug, Siegfried Prokop zu zitieren, der mich zitiert, doch jenseits aller Eitelkeiten wie Einheitsbeschwörungen bleibt die bürgerliche Kriegsfrage ohne Antwort. Am 24.9.2010 präsentierte die Bild- Zeitung im Vorfeld der Frankfurter Buchmesse moralische Leitsätze aus Jüngers Kampf-Epik: „Blut plätscherte wie ein Wasserfall zu Boden.“ Das passt zur aktuellen Jugendkultur wie die Faust aufs Handy. Die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung liebt es stilvoller, wenn sie ihrem Jünger am 19.9. „gesteigerte Poesie“ attestiert. Der gesteigerte Poet in weiser Voraussicht dazu: „Wir aber sind Söhne von Kriegern und Bürgerkriegern … “ Das ist eben so, wenn Krieg der Papa aller ungeratenen Söhne ist. Tatsächlich prophezeite schon der jüngere Jünger, bald werde sich „das entfalten können, was noch an Natur, an Elementarem, an echter Wildheit, an Ursprache, an Fähigkeit zu wirklicher Zeugung mit Samen und Blut in uns steckt.“ Wir sehen, das ist hochmoderne Dichtung, avantgardistisch gar, und wenn's vorbei ist, werden sie wieder der Opfer des Krieges gedenken und sich selber meinen. PS: Am letzten Freitag endete das Fußballmatch Deutschland - Türkei mit 3 : 0. Es war ein spannendes, faires und schönes Spiel. Unsere nationalgermanischen bücherschreibenden Streithammel von Gauck bis Sarrazin könnten davon etwas lernen. Offensichtlich verfügen Fußballer über die helleren Köpfe. Ein weiteres Nachwort ist für Montag, den 18.10.2010, geplant.
|
Gerhard Zwerenz
Serie
Nachworte
Aufsatz
|