Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
Bei der Schwärmerei für Ritterkreuzträger und ihr gespenstisches Überleben in lausigen Landserheften und anderen Volksausgaben für den dummen August traf der junge Torsten Lemmer sich mit anderen politischen Analphabeten. Sie suchten halt nach Helden. Ich erinnere mich gut ans Frühjahr 1944, als wir, aus der Front von Monte Cassino herausgezogen, nach Rom kamen. In den Schaufenstern lagen italienische Landserhefte mit Bildern von heroisch kämpfenden Bersaglieri und von uns, den „grünen Teufeln“ der Wehrmacht. Wir bestaunten die behelmten Monster, die wir sein sollten und wohl auch waren, soweit es unsere soldatische und politische Borniertheit betraf. Lemmer, im Absprung aus seiner rechtsextremen Kameraderie, suchte ratlos nach ideellen Fixpunkten und kehrt zu seinen einstigen FDP-Ikonen zurück. Er hatte die Honoratioren von Möllemann bis Westerwelle näher kennengelernt, wie er berichtet. Sein Idol aber fand er in „Dr. Erich Mende. Der nationalliberale Bundestagsabgeordnete und Ritterkreuzträger, der von der FDP zur CDU wechselte, war eines meiner großen Vorbilder.“ So Lemmer am Beginn seiner Lebensgeschichte und so auch am Ende mit Mende: „Schließlich gehört Erich Mende nach wie vor zu den Menschen, die auf mich nachhaltigen Eindruck gemacht haben. Ich finde, es gibt schlechtere Vorbilder.“
Das mag sein. Es gibt aber auch beträchtlich bessere als den geschniegelten Träger eines verdammten Blutordens, dem, wo nicht Verachtung, so zumindest ein kräftiges, spöttisches Auslachen gebührt, falls die Heillosigkeit des Hitler-Krieges überhaupt einen Ansatz zur Heilung bieten könnte. Mendes noch im Nachkrieg per Ritterkreuz verzierter Halsknorpel war das Kainszeichen eines nicht einmal versuchten Bruchs mit dem Eroberungs- und Vernichtungswahn des Dritten Reiches. Wie wäre es stattdessen mit einem wirklichen Leitbild – dem Theologen Dr. Hermann Stöhr, der schon 1939 den Kriegsdienst verweigerte, als der Klerus den Polen-Feldzug noch freudig bejahte, ein Mann, der einen Tag vor Kriegsbeginn verhaftet und am 21.6.1940 geköpft wurde, wozu die theologischen Amtsbrüder ein Schweigen bewahrten, das noch bis in die Nachkriegszeit anhielt. Was ist an diesem ersten Totalverweigerer des 2. Weltkrieges, das ihn dem Vergessen anheimfallen lässt, während ein schmucker Mitläuferoffizier wie Mende im hehren Ordensglanz erstrahlt? Hilft das Exempel Stöhr gegen Störkraft und kann aus Saulus tatsächlich ein Paulus werden? Es geht nicht um diesen oder jenen Glauben, dem du anhängen kannst oder nicht. Es geht um einen vollständigen Bruch, der als halbes Experiment eben nicht genügt. Mende, der Hitlerarmee-
Diese Gemeinsamkeit reichte über die Parteien bis in den Bundestag hinein, in dem ein Hitler-Steigbügelhalter und Antisemit wie General Dietl zum Vorbild aufgeblasen über Jahre hinweg eifrige Fürsprecher fand. Es ist dieses Bündnis zwischen einer als Mitte getarnten Rechten in den Staatsstrukturen und ihren außerparlamentarischen Extremgruppen, das im Krisenfall autoritäre Freiheitsbeschränkungen ermöglicht. Verbindendes Element zwischen den Bundestagsrechtsauslegern und ihren externen Wurmfortsätzen ist die verweigerte Anerkennung von Fakten, wozu es allerdings schwerer Charaktermängel und konsequent unterlassener intellektueller Anstrengung bedarf. Wer ständig verkündet, dass der alliierte Bombenkrieg eine halbe Million deutsche Opfer forderte, aber verkennt, dass allein in der von der Wehrmacht eingeschlossenen Stadt Leningrad eine Million Menschen starben, der begreift entweder diese Dimension der Realität nicht oder er will sie nicht begreifen.
Lemmers Ausstiegs-Plan ist durch ein riskantes Experiment der Theaterleute Christoph Schlingensief und Peter Kern mit angeschoben worden. Lemmer wollte anfangs die Chance nur nutzen, sich und seine Rabauken auf der Bühne zu präsentieren. Doch statt der rechtsextremen Provokation findet ein Wandel der Provokateure statt. Es liest sich so schön, dass man trotz gebotener Skepsis daran zu glauben geneigt ist. Was ich ein Jahrzehnt vordem in Düsseldorf zu ahnen begann, brachten Schlingensief und Kern mit ihrer Inszenierung zuwege. Die Sache war mühevoll, eine Frucht schwerer Arbeit, sie blieb nicht verschont von Rückschlägen, dennoch sehen wir hier das Resultat ungewöhnlicher Kühnheit und unorthodoxer Lehr- und Lernmethoden vor uns. Das Hamlet-Experiment Schlingensiefs als kreativer Umgang mit rechten Aufsteigern, die den Ausstieg aus der Neonaziszene riskieren wollen, scheint mehr Erfolg zu erbringen als das konzeptionslose, aufgeregte Geschwätz von zahlreichen Promis aus Politik und Unterhaltungsindustrie in allerlei zoologischen Galavorstellungen.
Bleibt die Frage des Antifaschismus, der in der DDR oft und von manchen Splittergruppen bis in die Gegenwart taktisch unklug benutzt wurde und wird, dennoch ist er notwendig. Als „verordneter“ Antifaschismus des Ostens denunziert, wird im Westen der Anschein geweckt, es gäbe keinen unverordneten, ergo originären Antifaschismus. Die herrschende politische und intellektuelle Klasse der Bonner Republik vermochte kaum Männer und Frauen vorzuweisen, die tatsächlich gegen Hitler gekämpft hatten, stattdessen waren die führenden Leute aufs engste mit dem Dritten Reich verbunden gewesen. Im bürgerlichen Westen fehlt die emotionale Nähe zum Widerstand. Der typische Bundestagsabgeordnete der fünfziger und sechziger Jahre hatte den Krieg als Nazi, Mitläufer, zumindest als gehorsamer Soldat, meist Offizier, durchlebt. Die nachfolgenden jüngeren Generationen projizierten ihre Abneigung und Feindschaft auf die gleichen Personen wie ihre Vorgänger, so dass sich eine sämtliche Altersgruppen verbindende Kampfbereitschaft gegen alles Linke ergab – zu Kaiser Wilhelms Zeiten waren das die Sozialdemokraten, nach deren Einzug in Regierungsämter wurden es die Kommunisten, die ihrerseits auf sowjetischen Druck hin wiederum Feindschaften produzierten. Inzwischen ist annähernd der Status quo von Weimar erreicht. Christ- und Sozialdemokraten verwalten das Land mehr schlecht als recht, die Juristen sind bis auf wenige Ausnahmen allerdings nicht so reaktionär wie ihre Weimarer Kollegen. Der Antisemitismus hat überlebt, wird gesetzlich in Schach gehalten, was gar nicht so leicht fällt, denn Israel rächt sich an den Palästinensern als wären sie für die Shoa verantwortlich. Die Kommunisten aber wurden 1989/90 besiegt, was die deutsche Niederlage von 1945 als vorübergehendes Ärgernis zu relativieren scheint. Soviel zum Fußabdruck der jüngsten Geschichte im kollektiven nationalen Nervensystem. Wer es sich leicht macht, schwimmt in diesem morosen Mainstream bedenkenlos mit. Wer das nicht will, braucht zum Widerstand intellektuelles Interesse und ein wenig Charakter. Statt der Lektüre schmierig-romantischer Landserhefte könnte ein Blick in die Bibel, in Büchners Hessischen Landboten sowie ins Kommunistische Manifest nicht schaden. Da hilft keine bequeme Bürgerlichkeit weiter, deren politische Klasse riesenhaft ausschreitend auf der Stelle tritt und damit immer weiter zurückfällt.
Wir sollten nicht in romantische Schwärmereien geraten. Ich versetze mich ins desillusionierende Kriegsjahr 1943/44. An manche Dinge erinnere ich mich nicht mehr, an andere ungenau, in meinen Aufzeichnungen von früher lesend versuche ich mir die damalige Situation vorzustellen. Was waren wir für Menschen? Was dachten wir? Fühlten wir? Waren wir Soldaten Nazis?
Als ich einen Leutnant nächtens begleiten musste, den Ersatz in die Stellung zu holen, wussten wir genau Bescheid. Frisch ausgebildete Rekruten, die den Krieg noch nicht kennen, besitzen schlechte Überlebenschancen. Die meisten von ihnen erwischt es in der ersten Zeit. Als älterer Hase weiß man das, doch erinnere ich mich nicht, dass der Leutnant und ich die frischen grünen Jungs mit Mitleid betrachtet hätten.
Bei der Einweisung in der zerstörten Scheune betrachtete ich, während der Leutnant sprach, die neue Fuhre mit Gleichgültigkeit. Ja, mit einem leisen Anflug von Verachtung.
Wir waren etwa gleichaltrig, nur waren sie als Achtzehnjährige eingezogen worden, während ich mich schon als Siebzehnjähriger freiwillig gemeldet hatte. Hinter mir lagen anderthalb Jahre Militärzeit, davon mehr als sechs Monate an der Front. Ich blickte mit dem Hochmut des eisgrauen Kämpfers auf den Nachwuchs, und als sich herausstellte, dass es sich durchweg um Abiturienten und Napola-Schüler handelte, verhärtete ich noch mehr, denn die Typen wollten aufsteigen und Offizier werden. Nur mussten sie, um das zu erreichen, die kommenden Tage und Wochen erst einmal überleben. Als ich mir dies durch den Kopf gehen ließ, wusste ich nicht, dass der erste Aderlass gleich anschließend beim Marsch in die Stellungen erfolgen würde.
Wenn ich mir unsere Blödheit von 1943/44 vergegenwärtige, stellt sich automatisch das fatale Gefühl der Gleichgültigkeit und Verachtung ein, mit dem ich den jungen Schlachtfeldnachschub betrachtete. Genau diesen Eindruck rufen heutige Neonazi-Aufmärsche in mir hervor, inklusive ihrer Krawalldemonstrationen gegen die Wehrmachtausstellung, die mir, weil ich zur Eröffnung in mehreren Städten sprach, in ihrer ganzen Pracht vor Augen und zu Ohren kamen. Die üble Erfahrung versetzte mich erst in Wut, dann in Verachtung und schließlich fühlte ich mich alarmiert genug zum antimilitaristischen und antifaschistischen Protest. Die neuen Nazis skandierten Parolen wie Ruhm und Ehre unserer Wehrmacht oder Mein Großvater war kein Verbrecher ...
Manche von uns Großvätern waren eben doch Verbrecher, und wenn nicht, so nahmen sie als dumpfe gehorsame Befehlsempfänger an dem Verbrechen des Krieges teil. Andere widerstanden als Antinazis.
Als ich auf der Frankfurter Buchmesse 2003 am Stand des Eulenspiegel Verlages vom zufällig vorbeikommenden Lemmer angesprochen wurde, stellte er Ingrid und mir seine marokkanische Frau Saida vor. Ingrid sagte leise zu mir: Nicht zu fassen, die Ehe mit dem netten Mädchen als Alibi? In Lemmers Buch steht, dass er Saida gefragt hatte: „Würdest du einen Christen heiraten, der bis vor kurzem auch noch Nazi war?“ Und einige Seiten weiter versichert er: „Wichtig ist, dass der Ausstieg im Kopf stattfindet.“ Da hat einer sich viel vorgenommen. Und noch ein Lemmer-Versprechen: „Dazu gehört natürlich, dass jede Art von Gewalt abgelehnt wird.“
Das klingt so schön wie Kirchenglocken aus der Ferne. Warten wir mal ab, die Probe auf den Pudding ist das Essen ohne zu kotzen.
Beim nächsten Zusammentreffen mit Torsten Lemmer auf der Frankfurter Buchmesse 2003 begriff ich erst die wirkliche Ursache für mein Interesse von 1992. Als ich ihn damals bei der RTL-Sendung kennenlernte, erinnerte er mich an ein Gesicht, das ich vergessen hatte und nun plötzlich vor mir zu sehen meinte.
Unter dem Ersatz, den ich mit nach vorn in die Frontstellung gebracht hatte, befand sich ein Napola-Schüler, der sich an mich anschloss. Wir hoben unser Schützenloch zusammen aus, ich lehrte ihn die notwendigen Überlebenstricks, er erwies sich als belehrbar, bis auf einen Rest von Übermut, nein, Sportsgeist, der ihn den Kopf kostete.
Schnell hatte ich ihm eingetrichtert, wie man sich im einsehbaren Gelände bewegte. Der Junge erwies sich als sportlich so trainiert, dass ihm auch lange Strecken, die auf dem Bauch gerobbt werden mussten, nichts ausmachten. Nur einen Fehler legte er nicht ab, irgendwann, meist kurz vor dem Ziel, packte es ihn, er sprang auf und legte die letzten Meter aufrecht gehend zurück. Es war nicht unbedingt Angabe und Protzerei, sondern mehr der Leichtsinn eines jungen Mannes, dem körperliche Strapazen nichts ausmachen und der obendrein noch zeigen will, dass er keine Angst kennt.
Soviel ich darüber schimpfte, zumal damit ja die genaue Lage unseres Schützenlochs angegeben wurde, es nützte nichts. Das Ende kam durch einen Granatwerfervolltreffer. Die Geschosse gehen im Unterschied zu Artilleriegranaten steil nach oben und kippen ebenso steil nach unten. Es muss ihn direkt am Kopf erwischt haben. Von Kopf und Hals blieb nichts, Brust und Rücken klafften zwischen den Schultern tief auf, eine Blutfontäne schoss heraus.
Da wir kurz danach die Stellung aufgaben, blieb die Leiche verklumpt liegen. Von der neuen Stellung aus, hundert Meter weiter zurück und auf einer sanften Anhöhe gelegen, sah ich den Menschenrest als leichte Erhebung. In der zweiten Nacht schlich ich nach vorn und warf einige Spaten Erde drüber. Es wurde bemerkt oder gehört, und von dem Beschuss fuhr mir ein winziger Splitter in die rechte Wade. Aus Angst, die Eigenmächtigkeit könne bestraft werden, meldete ich meine Verwundung nicht. Sie eiterte und machte mir tagelang Beschwerden, bis der Sanitäter mit der Pinzette den Splitter fand und herauszog. Ich gab an, ich hätte den Kratzer gar nicht bemerkt, was zu der beim Militär üblichen Übertreibung führte. In den Augen der andern war ich der „Mann, der nicht bemerkt, wenn ihm das Bein abgeschossen wird. “
Der Napola-Junge hingegen war längst vergessen. Es hatte ihn in der kurzen Zeit auch kaum jemand kennengelernt, außer mir. Und ich vergaß ihn ebenso. Er hatte sich sein schnelles Ende durch Stolz und Übermut hinreichend verdient.
Die Kriegsszene von 1943/44 schilderte ich 1988 in einem Buch. Erst 2003 erlebte ich beim Anblick Lemmers das frappante déja vu, plötzlich tauchte der junge, von einer Granate zerrissene Napola-Schüler aus dem Gedächtnis auf. Die üblichen stupiden Gesichter der marschierenden Neonazis von heute rufen lediglich Abwehr und Wut hervor. Lemmer hob sich schon rein äußerlich deutlich ab von der Kohorte, und endlich scheint er sich auch innerlich von den Schlägern, Schreihälsen und Saufkumpanen getrennt zu haben.
Seit längerem und neuerdings vermehrt wird die 11. Feuerbach-These von Karl Marx zitiert: „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.“ Die Interpretation dieser Maxime durch den Philosophen Ernst Bloch legt nahe, eine Variante hinzuzufügen: Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sich zu verändern. Beide Sätze können ein Angebot zur sowohl individuellen wie revolutionären Lebensführung sein.
Anno 1990, noch während der Wendewirren, saßen der Futurologe Robert Jungk und ich in einer politischen Talkshow in Westberlin. Auf der Gegenseite präsentierten sich Dutzende von Bundeswehroffizieren in Uniform, die zu tragen bis dahin in Berlin nicht gestattet war. In der Diskussion ging es heiß her und hart zur Sache. Unter unseren Kontrahenten tat sich besonders der CDU-MdB und Ex-Verteidigungsminister Rupert Scholz hervor. In der Sendepause erhob sich der neben mir sitzende Robert Jungk und nahm gegenüber mitten unter den Offizieren Platz, die ihn verwundert bis verständnislos anstarrten.
Die Talkshow ging in die zweite Runde, Jungk kam zurück, setzte sich wieder neben mich und erklärte, dass alle es hören konnten: „Und trotzdem Frieden schaffen ohne Waffen.“
Im Archiv finde ich just in diesen Tagen eine liebenswürdige Besprechung über mein Büchlein Rechts und dumm?, aus dem ich in beiden Torsten Lemmer-Folgen zitiere. Ralph Giordano rezensierte es am 9.4.1993 in Die Zeit: „Ich lese gerade enthusiasmiert von der Verbalkraft eines politischen Rundumschlages, süffig und wutentbrannt hingefetzt, wie es so gnadenlos nur dieses Enfant terrible der deutschen Gegenwartsliteratur vermag. Sie kommen alle an die Reihe: alte und neue Nazis, gewissensschwache Parteien, die Nationalhymne, die FAZ, Antisemiten, Türkenklatscher, Zigeunerverfolger etc. pp. Da tobt sich furios das Misstrauen dieses Sachsen gegenüber seinen deutschen Landsleuten aus. Kernsatz: Die Hitler-Anhänger von früher mussten noch nicht wissen, wohin ihr ›Führer‹ sie führte, ›die neuen Nazis der 90er Jahre hingegen können und müssen es wissen‹. Ich denke immer wieder: Nein, Zwerenz übertreibt nicht, so ist, entsetzlicherweise, deutsche Wirklichkeit. Gleichzeitig ertappe ich mich aber auch fortwährend bei jenem Gedanken, den Zwerenz dann doch noch, vorsichtig, mit einem Nachtrag einfügt: Millionen Deutsche haben der einzigartigen Explosion des Fremdenhasses eine einzigartige Koalition für die Menschenrechte entgegengestellt. Also: Dass Du für Deutschland nun gar keine Hoffnung mehr haben willst, das habe ich Dir auch diesmal wieder nicht geglaubt. Dennoch: trefflich gebrüllt, alter Löwe aus dem Taunus!“
Im Jahr 2009 diese Giordano-Zeilen von 1993 lesend, gedenke ich fast melancholisch jener vergangenen Zeiten, als uns noch keine neuen Kriege teilten. Kaum habe ich das notiert, kommt mir die linksletale Junge Welt vom 10.1.09 auf den Tisch, in der Klaus Gietinger, sachkundiger Luxemburg-Liebknecht-Biograph, schreibt: „Im November 1961 veröffentlichte Gerhard Zwerenz im Stern einen Artikel unter der Überschrift ›Ulbricht lässt die andern schießen‹. Der Beitrag brachte nun aber nicht Ulbricht, sondern den Major a.D. Pabst aus der Windscheidstraße in Rage. Denn Zwerenz hatte auch den weißen Terror der Freikorps 1919 verurteilt und Pabsts Tat Mord genannt. Pabst war außer sich und ging zum Gegenangriff über.“ Mehr dazu war und ist im unverzichtbaren poetenladen zu lesen. Siehe Folge 17 unserer Serie, Titel: Der Schatten Leo Bauers. Hier jetzt nur einige Pabst-Sätze aus seinem Gegenangriff: „Im Heft 47 des Nachrichtenmagazins stern vom 19.11.1961 verbreitet sich eingehend ein Gerhard Zwerenz unter dem Titel ›Ulbricht lässt die anderen schießen‹ auch über den sogenannten ›weißen Terror‹ der ›reaktionären monarchistischen Freikorps.‹ So nennt Herr Zwerenz diejenigen Männer, die sich, wie das offizielle Werk der kriegsgeschichtlichen Forschungsanstalt schreibt, ›zur Verfügung gestellt hatten im Kampf gegen den Bolschewismus und denen gegenüber es eine Ehrenpflicht sei, in Dankbarkeit der Opferfreudigkeit zu gedenken, mit der sie (sich) trotz vorangegangener Kränkungen und Bedrohungen seit dem Novemberumsturz 1918 einsetzten für die Erhaltung des Reiches.‹
Herr Zwerenz schreibt wörtlich: ›Der weiße Terror‹ wütete damals in den Kämpfen gegen die Bolschewiken (Spartakisten) in Deutschland schlimmer als der ›rote Terror‹. In Berlin wurden die aufständischen Spartakisten in der Blutwoche zwischen dem 10. und 17. Januar 1919 schonungslos zusammengeschossen, Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht grausam ermordet.“
Seine Tat als Doppelmord definiert zu sehen, empörte den Major Pabst, der ihn befahl. Er wollte die „Opferfreudigkeit“ seiner heldenhaften Offiziere gewürdigt wissen, die Liebknecht tapfer in den Rücken schossen und Luxemburg in den Kopf. Zwei Wehrlose erledigt zur höheren Ehre des deutschen Reiches. Die Fakten aus dem Januar 1919 waren in der Bonner Republik 1961 noch tabuisiert. Seinem bewährten Reflex folgend, nannte mich der Herr Major einen Kommunisten, obwohl ich von einigen DDR-Genossen gerade mal wieder als Antikommunist mit Haftbefehl gesucht wurde. Mein Talent, Attacken aus beiden Richtungen auf mich zu ziehen, blieb mir erhalten. So bestärkte und erfreute mich ein Glückwunschtelegramm, das Ernst und Karola Bloch mir zum 50. Geburtstag sandten:
Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 26. Januar 2009.
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