Die herzleidenden Vierzeiler erschienen 1962 in Gesänge auf dem Markt bei Kiepenheuer und Witsch in Köln und bilden das Moto einer Geschichte, die mir nicht aus dem Kopf ging. Hier ist sie:
Auf der Latrine kam mir der beste Gedanke dieser Jahre. Das war in Süditalien, ich begriff, auf der Stange über der gesamten Kompaniescheiße hockend, ich müsste mich jetzt von dieser blödsinnigen Armee, der ich fatalerweise angehörte, trennen. Beim Angriff auf eine völlig überflüssige Berghöhe nahe Gaeta blieb ich, die Gunst der Stunde nutzend, nachdem wir zurückgeschlagen waren, vor den feindlichen Stellungen unterhalb des Gipfels liegen. Es sind nicht meine Feinde, dachte ich. Nach Mitternacht näherten sich Soldaten der Gegnerseite meinem Versteck im Felsgestein. An Gefahr dachte ich nicht mehr. Jubel erfüllte meine Brust. Mir war, als müsse ich vor Lebensfreude gleich zerspringen. Ich schnellte hoch und feierte meine ganz persönliche Kriegsbeendigung. Gern hätte ich irgendwelche Kameraden in die Arme geschlossen, wie es sich für ein richtiges Kriegsende gehörte. Doch waren keine Kameraden vorhanden. Ich vollführte einige Luftsprünge und geriet auf dem Felsgeröll des Steilhangs ins Rutschen. Zu Fall gekommen, schlug ich mehrmals hart auf. Es tat mir an mehreren Stellen ziemlich weh, und diese Schmerzen brachten mich zur Besinnung. Ganz nüchtern war ich in die Wirklichkeit des Krieges zurückgeholt worden. In nächster Nähe fielen Schüsse. Das Geschrei zeigte, man machte von unserer Kompanie zurückgebliebene Verwundete nieder. Die armen Kerle bettelten um ihr Leben, hoben die Hände und warfen die Arme, von Schüssen getroffen zurück, als wollten sie nach hinten wegspringen.
Die Wut ließ mich meine löbliche Absicht, den Krieg zu beenden, vergessen. Erst viel später wurde mir bewusst, dass ich derjenige gewesen bin, der brüllend und schießend auf die gegnerische Gruppe losgegangen ist. Bei aller Wut zielte ich genau, die Getroffenen purzelten, sich überschlagend, den Geröllhang hinab. Danach hetzte ich, noch immer wild brüllend bergab zu meiner Kompanie, dem schönen Krieg zurückgegeben. Fortan stand mir stetig das Bild vor Augen, khakifarbene Gestalten, scharf vom Mondlicht umrissen, auf am Boden liegende, sich schmerzvoll krümmende, halbaufrichtende Männer einschlagend, einstechend, zielend, in meiner Vorstellung ging alles seltsam lautlos und sehr geschmeidig vor sich, selbst die Schüsse, abgegeben auf Flüchtende, fielen zeichenhaft und ohne Knall, bis meine Feuerstöße und mein Gebrüll dazwischenfuhren, sie erinnerte ich als heilsame Erlösung. Jeder Soldat erinnert sich einer traumatischen Szene, in der immer die Gegenseite Wehrlose der eigenen Seite abschlachet. Die Erfahrung auf dem felsigen Berg nahe Gaeta verlängerte meine Soldatenexistenz um fast ein Jahr und kostete elf Soldaten der Gegenseite Leben oder Gesundheit. Ich zählte genau. Eine meiner übelsten Eigenschaften ist Rachsucht. Alle anderen deutschen Schriftsteller sind bessere Menschen.
Diese Kriegsgeschichte steht in meinem Roman Kopf und Bauch, der 1971 erschien, aber in den sechziger Jahren geschrieben wurde. Aus derselben Zeit stammen die vier Rache-Strophen, die den Prosa-Text zur Lakonie verdichteten. Mein Unbehagen resultiert aus dem Umstand, dass der erste Teil der Geschichte real ist, der zweite Teil jedoch fiktiv. Die genannten elf Soldaten der Gegenseite beruhen auf meinem bloßen Wunsch nach Rache, genauer gesagt Revanche. Tatsächlich gingen einige Kritiker triumphierend darauf ein. Der Autor wollte aber nicht als Engel erscheinen, weshalb er sich zum Rache-Engel stilisierte, was mit der Begründung, die anderen seien schuldhaft vorangegangen, ein klassisches Modell liefert, das strategisch immer auf Vergeltung hinausläuft. Historisch und politisch gesehen heißt das: Dem Angreifer ist nichts anderes übriggeblieben als der Attacke des Feindes zuvorzukommen, von da an wird Schlag mit Schlag beantwortet. Die beste Vergeltung ist der Erstschlag. Womit auch die Sprache längst Soldat geworden ist.
Im 35. und 36. Kapitel dieser Serie wandte ich mich gegen pauschale Verdächtigungen der Flakhelfer-Generation. Das Plädoyer für den Einzelfall ist kein umfassender Freispruch. Es geht nicht um Schuld oder Unschuld und was einer tat oder unterließ. Es geht um intellektuelle Energie und Ehrlichkeit beim Rückblick. Sind wir in aller Subjektivität objektiv oder behelfen wir uns mit Halbwahrheiten und Lügen.
Am Ende des 36. Kapitels verweise ich auf den Schriftsteller Dieter Wellershoff und Ex-Außenminister Hans Dieter Genscher. So spät, wo nicht verspätet Wellershoff seine disziplinierte Kriegstreue schildert, so kann seine kühle Sachlichkeit überzeugen, die mich allerdings fragen lässt, was den klugen Mann zur deutschen Treue bis zum letzten Zahltag zwang. Wellershoff ist Gottfried-Benn-Spezialist, auf dass Revolte und Rebellion verbal bleiben, Genscher führte ein zugleich cleveres und braves Leben in Treue fest zum jeweiligen Chef. Anders Ernst Jünger, der aus purer Neugier ein Deserteurs-Exekutions-Kommando kommandierte. Das ist eben große deutsche Literatur. Hätte der Deserteur auf der Flucht den Hauptmann niedergeschossen, wäre Jünger unbeschadet ein Kriegsheld geblieben und der Fahnenflüchtige zweimal zum Tode verurteilt worden.
Ein Befehle ausführender Hauptmann findet sich bei uns immer. Und schildert er den juristischen Mord in wohlgesetzten Worten, gibt's dafür vaterländische Ehren und Kulturpreise en masse. Ein Sohn Ernst Jüngers biss an der Front in Italien ins Gras. Ganz in der Nähe trug auch der uniformierte Idiot, der ich war, seine Haut zu Markte. Gottlob war mein Papa kein Dichter.
Es geht immer noch um die Verkehrsformen der Rache und Revanche und damit um die tiefgründenden Bedürfnisse nach schuldloser Barbarei. Der Schlächter erläutert dem Opfer seine guten schönen Gründe. In der deutschen Romanliteratur führt hier eine Linie von Grass zu Littell. Grass entschuldigt sich und seinesgleichen mit den Märchenfiguren seiner Blechtrommel. Littell reiht ein aus Sachbüchern abgeschriebenes Massaker ans nächste, entschuldigt nichts, es sei denn mit der kommentarlosen Blutlinie. Sein Hauptheld ist ein intellektuelles Monster, das de Sade erfunden haben könnte und nichts könnte falscher sein. (Dazu äußerte ich mich in Folge 31)
Am 25.4.08 druckte die FAZ einen fast ganzseitigen Artikel von Klaus Theweleit über den belgischen SS-Offizier Léon Degrelle und dessen Rolle in Littells Roman Die Wohlgesinnten. Das hätte er besser unterlassen. Theweleits berechtigter Stolz auf die Akzeptanz als Autor, deren er durch Littell teilhaftig wird, verführt ihn zur Verminderung seiner vorherigen Interpretations-Möglichkeiten. Littells Anleihen bei Theweleits Buch Männerphantasien sind fruchtbar, solange sie fragmentarisch genutzt werden. Wird das Monster des SS-Offiziers Max Aue aber gegen Hannah Arendts Eichmann-Bild vom Banal-Bösen in Stellung gebracht, stimmt nichts mehr, denn die Ausdeutung mystifiziert ihre Personen, Haltungen und Handlungen. In der Konsequenz macht Theweleit alle soldatischen Mörder und Massenmörder der Weltgeschichte zu Faschisten, die er an ihrem »Körperzustand« misst, »einer Materie, die mit Macht und Gewalt darauf dringt, den Zustand der Welt den Zuständen des einen Körpers anzugleichen, zu unterwerfen.« Im Anschluss spricht er direkt vom »Horror des faschistischen Körpers«, was per Definition nichts als Fiktion ist. Mit anderen Worten: Hannah Arendts Formulierung von der Banalität des Bösen traf die Figur Eichmanns als Angeklagten vor Gericht. Theweleits Männerphantasien eröffneten interessante Interpretationen. Littells Roman bleibt dadurch nur zum Teil betroffen, unabhängig davon, wie er selbst das einschätzt. Insoweit sich der eine an den anderen hält, sprechen beide in Gleichnissen. Der Logos wird geopfert.
Theweleit eröffnet einen anderen Zugang, schreibt er erschrocken von seiner eigenen Familie: »Am Vater und seiner Umgebung hatte ich gesehen, dass sie ›ideologisch‹ keine Nazis waren, ›intellektuell‹ nicht fähig, den Nazi-Schrott herzubeten oder gar zu verteidigen. Sie waren körperlich Nazis, Teile ihrer Körperlichkeit verlangten die ›Auslöschung‹ anderer …«
In diesen Passagen offenbart Theweleit sich und diejenigen, über die er berichtet, als wahre 68er. Sie verstanden sich beim Suchen nach Akzeptanz als Nazi-Söhne im Aufstand. Inwieweit die Väter ganze oder halbe Nazis, Körper- oder Geistes-, also Ungeistes-Nazis waren, es fiel immer schwer, das zu erkennen, »ohne permanent zu kotzen oder darunter zusammenzubrechen.«
Dieser Blick auf die väterlichen Kotzbrocken ehrt den Nachwuchs wegen der Ernsthaftigkeit, genügt jedoch nicht für die Konsequenz des anderen Lebens. Kann der Vater, weil diskreditiert, die Karriere des Sohnes nicht mehr hemmen, fühlt der Sprössling sich frei für den fatalen Einstieg in Nietzsches Kreislauf der »ewigen Wiederkehr des Gleichen.« Ob Nietzsche, Ernst Jünger, Heidegger, Carl Schmitt oder auf der Gegenseite der verdiente Mörder des Volkes, Stalin, die Übermenschen brauchen und produzieren den Untermenschen. Es gibt fortan keinen Ausweg aus der Mussolini-Kurve: Links unten der revoluzzernde Anfang, am Ende rechts oben irgendein Duce mit seinen gehorsamen intellektuellen Hoheitsträgern, egal ob rechts- oder linkshändig.
Es gibt keinen Ausweg? Es gibt ihn nur nicht, solange die Energie fehlt, die alte vorgebahnte Spur zu verlassen. Was bleibt vom Vatermord und was nutzen die langen Märsche nach Canosssa, wenn am Ende nur die alten behelmten Holzköpfe durch neue ersetzt werden, in denen sogar die alten per Inzucht entstandenen Holzwürmer den Takt klopfen. Erst kommt das Fressen, dann die Revolution? Sie kommt gar nicht, statt ihrer der Krieg. Die Antwort auf diese Fragen steht bei Kafka. In der Erzählung Strafkolonie lobt ein Offizier den Kommandanten, weil der eine perfekte Foltermaschine erfunden habe. »Bis jetzt war noch Händearbeit nötig, von jetzt an aber arbeitet der Apparat ganz allein«, rühmt der Offizier die mörderische Automatik. Der automatische Apparat - den bedienen die Herren, an denen von Hannah Arendt bis Littell und Theweleit alle herumrätseln. Der Maschine gewordene Mensch verrichtet die Liquidation per Knopfdruck. Das funktioniert wie im Schlachthof. Zartere Naturen mit ihren Gefühlen und Gedanken mögen das Schweineleid und Rinderblöken beim letzten Gang missbilligen, bei Tische stört die Erinnerung nur. Man muss schließlich essen.
Apropos Kafka fällt mir ein, in Sklavensprache und Revolte gibt's ab Seite 419 Paraphrasen über Kafkas Parabel Vor dem Gesetz. Der Türsteher warnt den »Mann vom Lande« vor dem Öffnen der Tür, denn danach folgen immer neue Türen in Räume, die unerträglich seien. Wie aber, wenn jede nächste Tür in immer kleinere Räume führt? An deren Ende steht dann jene Nürnberger Eiserne Jungfrau, in die ein Mensch knapp hineinpasst. Schließt man die Öffnung, durchbohren das Opfer die an der Tür-Innenseite angebrachten tödlichen Dolche.
Von Kafka und der Nürnberger Eisenjungfrau zurück zu uns. Von den Blechtrommel-
Die Zeitschrift stern erkundigte sich am 5 6.08 bei Joachim Gauck, womit er beschäftigt sei, nachdem er in seiner Behörde von Frau Birthler abgelöst wurde. Der Abgelöste bedauerte seine Amtslosigkeit. Als tv-Talker an der Quote gescheitert, als Politiker ungefragt, dämmert er als ehrenamtlicher Vorsitzender des Vereins Gegen das Vergessen … dahin, nutzte aber das stern-Interview, um Gregor Gysi aufs Korn zu nehmen, was mich an den 18.11.1996 erinnert. Damals gab ich als parteiloser PDS-
»Am Freitag, dem 15.11.1996, eröffneten im Bundestags-Foyer die Präsidentin des Deutschen Bundestages und der Bundesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen die Ausstellung: Staatssicherheit
Um 12.30 Uhr ergab sich dabei folgender kurzer Dialog:
Zwerenz: Guten Tag, Herr Gauck, mein Name ist Zwerenz. Gauck: Ich weiß. Ich kenne Sie doch, Herr Zwerenz. Zwerenz: Von allen heute hier Anwesenden habe ich wohl die längste Stasi-Akte. Sie reicht von 1956 bis 1989. Gauck: Aber das weiß ich doch, Herr Zwerenz. Zwerenz: Und ich weiß, dass Sie das wissen, Herr Gauck. Gauck: Deshalb verwundern mich doch manche Ihrer Äußerungen. Zwerenz: Darüber sollten wir mal sprechen, Herr Gauck. Gauck: Ja, darüber sollten wir wirklich mal sprechen, Herr Zwerenz. Ich erkläre hiermit erneut meinen Wunsch nach einem Gespräch mit Herrn Gauck, intern, wenn es sein muss, lieber aber öffentlich, am Iiebsten in Bonn als nachdenkliche Begleitung der Ausstellung.
Mögliches Thema: Vom Sinn und Wahnsinn der Stasi-Aktenberge oder Haben wir noch die freie Wahl zwischen Rache und Versöhnung?
Zugleich schlage ich vor, der Staatssicherheitsausstellung am gleichen Ort im Bundestag die Wanderausstellung ›Vernichtungskrieg. Verbrechen der Wehrmacht 1941-1944‹ des Hamburger Instituts für Sozialforschung folgen zu lassen. Das ist notwendig, weil der Kalte Krieg aus dem 2. Weltkrieg resultierte, die Verbrechen der Wehrmacht heute noch von Politikern und Militärs relativiert werden und die Hamburger Ausstellung diskreditiert wird. Weil schließlich neuentdeckte Dokumente zeigen, dass die Wehrmacht noch schuldhafter am rassistischen Vernichtungskrieg beteiligt war, als es selbst die Hamburger Ausstellung zeigen konnte.
Der Umstand, dass der Bundeskanzler die Hamburger Ausstellung nicht mag, sollte die Parlamentarier nicht an der Horizonterweiterung hindern, die so möglich würde.
Überdies würde ich mit Herrn Gauck auch gern über die Wehrmachts-
Diese meine Bonner Aufforderung aus dem Jahr 1996 blieb von Joachim Gauck bis heute ohne Antwort. Dabei hat er doch inzwischen Zeit genug. Der Vorsitzende des Vereins Gegen das Vergessen … wird doch nicht die Ursachen der deutschen Geschichte im 20. Jahrhundert vergessen haben? Da er und seine Nachfolgerin in der Behörde so gern von den »zwei deutschen Diktaturen« sprechen, bitte ich sie als leidgeprüfter Kenner beider Diktaturen höflich um eine öffentliche Diskussion über diese Fragen. Mit Frau Birthler hatte ich schon mal einen interessanten Dialog in Leipzig über den 17. Juni 1953. Ich schlage einen Trialog vor mit dem Titel: Parallele und Differenz zwischen Auschwitz und Bautzen… Es ist ein deutsches Thema wie kein anderes.
Am Montag, den 30. Juni 2008, erscheint das nächste Kapitel.
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Gerhard Zwerenz
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