Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten Die Wortangel, im lyrischen Ozean ausgeworfen, zieht exakt den Satz an den Haken, der zu seinem Erfinder will. Duett und Duell als Wortfischer. Jede Generation fängt mit empfindsamen Seelen an und endet unkenntlich allgemein im vorgezogenen Hades der anstehenden Rentenkürzung. Soviel zum ersten Teil Gedichte in poet nr. 6. Wer die Angel im Teil Geschichten auswirft, findet zum Dreigestirn, denn die Klassiker Friedrich Nietzsche, Richard Wagner und Karl May bilden eine sächsische Dreierbande, die unsere 99 Fragmente von Anfang an strukturbildend zusammenhalten. Keinem ist ganz zu trauen, jeder ist genial, also verrückt und zugenäht, alle drei gehören der Welt, mit soviel Pleißenwasser getauft, dass sie lebenslang Wein brauchten, den Durst zu löschen. Nachdem der junge Goethe zum ersten Mal in der Pleiße gebadet hatte, eilte er in Auerbachs Keller und schrieb das schönste Faust-Kapitel, in dem alle so besoffen sind, dass sie unentwegt singen: Politisch Lied – ein garstig Lied. Soweit die Prophetie des Dichters, der in Leipzig Frankfurt überwand, um für Weimar strukturbildend zu werden. Ich aber probe die Wiedergeburt Sachsens und kehre zu poet nr. 6 Abteilung Geschichten zurück: Sie stammen aus Bochum (Jana Scheerer) Hamburg (Nils Mohl) Leipzig (Jayne-Ann Igel) Bern (Christian de Simoni) Steyr (Christina Maria Landerl) Jowa (Ann Cotten) ohne Geburtsort (Jasmin Herold: Weiterlaufen … die Pauke gibt den Takt an …)
Leipzig ist Startplatz wohin? Ich singe die verdrehte, unterschlagene, vielverschwiegene Geschichte der Sachsen, die unter dem DDR-Schutt, der erst danach aufgehäuft wird, das Abenteuer, die gebotene Chance, das gelebte Leben suchen. Die DDR war ein Großsachsen. Der Versuch, die geschlagenen Preußen zu rekonstruieren. Es waren zu viele Zwerge dabei. Und ringsum die kannibalischen schwarzen Zyklopen. Das poetenladen-Gedicht reicht von einer Leipziger Buchmesse zur nächsten. Dazwischen Herbstbuchmesse in Frankfurt, wo am Main die Kalten Kriegsgewinnler den Lohn einstreichen. Leipzig – das Lesefest der 1000 DichterInnen, in Frankfurt Verträge, Vorschüsse, Honorare, Nachschüsse, nur Unselds Witwe begeht Suhrkamps Fahnenflucht vom eingeschwärzten Kochriesen ins rötlich-rote Berlin und ein Genossenrest, der die Ränge der Arena füllt, grinst zum letzten Gefecht der Gladiatoren. Letzte Ausfahrt Bockenheim Richtung Friedrichstraße? Was ist Berlin ohne seine 5. Besatzungsmacht? Warum die Flucht von Frankfurt nach Berlin statt nach Leipzig? Was wurde aus den Tausenden junger Köpfe, die einst bei Hans Mayer im Hörsaal 40 der Karl-Marx-Universität Literatur tankten, bis es ihnen aus den Ohren überlief. Zur Messe liest Leipzig sich was vor. Pilotprojekt LESESTART – Leselust statt Lesefrust – wie steht's um die Jugend und unsere lieben Kinder? Mehr Frust als Lust? Zum Beispiel Waltraud Seidel, Germanistin und Literaturpädagogin aus dem sächsisch-thüringischen Umland, von der Leipziger Uni-Schule geprägt, was waren das für Zeiten, hält auf der Messe ihr Kinderbuchquartett vor die Kamera: Jungen und Mädchen erfassen spielend die Einheit von Buch und Autor. War ihnen Das fliegende Klassenzimmer oder Das doppelte Lottchen bisher nur als Film aus dem Fernsehen bekannt, zeigt das Quartettspiel mit Autorenfoto und Buchcover die Adaptionsvorlage. Die Umkehrung des Weges, nun vom Film zum Buch ist nicht schwer. Entscheidend ist, dass Interesse für das Buch geweckt wird. Die Titel werden beim Spiel immer wieder erfragt. lch möchte von Erich Kästner Pünktchen und Anton. Titel und Verfasser prägen sich ein. Der Gedanke, das Gedruckte könnte auch lesenswert sein, programmiert den Weg vom Spiel zum Buch.
Dabei gibt es Kinderlexika in Hülle und Fülle. Alles ist zu finden für kleine Techniker, für Fahrzeug- und Flugzeugbegeisterte. Mehr noch für Naturwissenschaftler in spe, aber auch für junge Historiker oder Archäologen u.v.m. Bisher hat sich noch kein deutscher Kinderbuchverlag mit einem Nachschlagewerk seiner doch ureigensten Thematik, der Kinderliteratur angenommen. Zudem ist die Zahl der kleinen Leseratten und Bücherwürmer, vielleicht sogar Geschichtenschreiber sicher nicht gering. Also bietet Waltraud Seidel ein handliches Lexikon mit dem Titel GESCHICHTENERZÄHLER VON A – Z an. Die Leseratten im Grundschulalter erhalten Einblick in Leben und Schaffen vorrangig deutschsprachiger Erzähler, angefangen von den Märchensammlern und Märchenschreibern des 18. und 19. Jahrhunderts. Schwerpunkt bilden die deutschen Gegenwartsautoren, aber an den bei unseren Kindern so beliebten Schweden Astrid Lindgren und Sven Nordquist oder gar an J.K. Rowling führt kein Weg vorbei. Die Auswahl der vorgestellten Kinderbuchautoren stützt sich auf Lesebuchanalysen. Das ermöglicht literarisch interessierten Schülern, ihr Wissen selbstständig zu ergänzen. Schließlich ist in den Grundschul-Lehrplänen auch die Arbeit mit Nachschlagewerken als Ziel formuliert. Pädagogen, denen die literarische Bildung und Erziehung ihrer Schüler am Herzen liegt, werden im Unterricht gern darauf zurückgreifen.
Ein Projekt wie das Kinderbuchlexikon der einstigen KMU-Studentin Walttraud Seidel skizziert die Basis der Leipziger Schule, deren Bildende Kunst in alle Welt ging, während der verbale Überbau, geschaffen durch Philosophie und Literatur, nach 1945 erst gefördert, bald beschädigt worden ist. Stattdessen war Parteipolitikkultur gefordert als wäre sie nicht ein von dumpfer Erhabenheit strotzender Widerspruch in sich. Das führte zum jubilierend-traurigen Ende von 1989. Danach begann die noch dümmere Erhabenheit der Politiker, die den Sachsen beizubringen suchen, dass sie keine oder falls doch nur üble Vergangenheiten aufzuweisen hätten. Da lacht höhnisch der Nietzsche, Karl May taucht im Silbersee nach Gold und Richard Wagner reißt das Bayreuther Festspielhaus mit Pauken und Trompeten ein. Goethe aber lässt sich zum zweiten Male mit Pleißenwasser taufen und unsere tüchtige Literaturpädagogin wird schwerlich einen Verlag für ihr Kinderbuch-Lexikon finden, solange sie nur humanistische Autoren präsentiert, die für kommende Kriege erziehenden Literaten aber, die heute wieder verlangt werden, konsequent aussperrt.
Poet nr. 6, das Magazin des poetenladens enthält auch Edelsteine aus der Ferne. Iain Chrichton Smith mit – Wenn ich die Literatur meines Volkes lese denk ich wir haben keinen Homer – Kunst wird von denen bestimmt, die nicht schöpferisch sind, Religion wird von denen bestimmt, die nicht lieben … Der Poet stammt aus Glasgow, Tod im Jahr 1998. Smith lebt für den Leser pleißenwärts weiter wie Helmut Seidel, der sich energiegeladen telefonisch aus Leipzig bei mir meldete, als ich gerade einen flinken Herzinfarkt zu überwinden suchte, von dem der Onkel Doktor meinte, es sei schon mein zweiter. Geheilt oder nicht, unheilige Wochen später wieder daheim rufe ich in Leipzig an. Helmut Seidel soeben verstorben. Brief vom 10. 8. 2007 aus dem Taunus an die Witwe nach Sachsen: „Liebe Frau Jutta Seidel, als Helmut letztes Mal anrief, laborierte ich an einem Herzinfarkt. Es sah so aus, als werde er hier bald kondolieren. Jetzt sagen wir Ihnen unser Beileid. Was bleibt, stiften die Philosophen.
Gerhard Zwerenz, Ingrid Zwerenz“
Karlen Vesper über den Verstorbenen: „Der am 21. Juni 1929 in Schlesien geborene Sohn eines Zimmermanns, über 30 Jahre Dozent an der Leipziger Karl-
poet nr. 6 ist ein neues Zeichen kultureller Strukturbildung. Leipzig zentrifugal oder/und zentripetal. Zieht an, stößt ab. Weiß nicht. Die Mischung macht's? Etwa alt und jung. Buselmeier geb. 1938 lebte und stilisierte schon zu Heidelberger APO-Zeiten als wären Georg Lukács und Ernst Bloch noch bei Max Weber am Neckar präsent. Mayröcker (1924) ist Wiener Blut ohne Kaiserwalzer, Dagmar Nick (1926) kommt aus Breslau vorbei, das ist Geschichte, heißt Wrozlaw und wird mit Einsteins Segen so zeitlos wie der Raum raumlos. Nur Erika Steinbach steht als ewiger Raum-und-Zeit-
Das sind lauter Profs und Doktores sowie drei Unbetitelte zumeist aus Sachsen, Schlesien, Berlin, Sudetenland und was sich alles an der KMU zum neuen Anfang traf. Fehlte nur die Poetik der Politbüroklasse.
Helmut Seidel: „Eine Niederlage muss nicht mit einer moralischen Krise verbunden sein. Die unsrige ist es. Ja mir scheint, dass die moralische Krise die schmerzhafteste unter allen anderen ist. Arbeitslosigkeit – ich bin dabei, diese Erfahrung zu machen – ist ein übel Ding. Aber mit gefestigter Moral kann man ihr widerstehen. Ist aber die Moral im Eimer, ist alles im Eimer …
Die Gründe für die moralische Krise Iiegen auf der Hand; Besudelung unserer Ideale, Verballhornungen der Theorie und eine Praxis, die mit verbrecherischen Praktiken durchzogen war. Die Reinigung unserer Ideale, die Befreiung der marxistischen Theorie von allen Dogmen und ihre Überprüfung anhand gemachter Erfahrungen und die Gestaltung einer Praxis, die auf humanistischen und demokratischen Werten gründet, das scheinen mir die Aufgaben, vor die wir gestellt sind.“
Zur Leipziger Buchmesse 1955 las Ludwig Renn aus seinem Buch Krieg. Mit Siegfried Pfaff, dem späteren DDR-Hörspiel-Experten, saß ich so an- wie aufgeregt im Publikum und erlebte einen zurückhaltend-
Das anderthalb Dutzend akademischer Damen und Herren am Grab ihres Kollegen und Lehrers Seidel ergibt eine Auswahl jener DDR-Intelligenz, die das Land noch heute kennzeichnet – lauter Ostdeutsche. Der westlichen Intelligentsia war der östliche Teil sowieso immer schnuppe. Politisch Lied – ein garstig Lied!
Und noch mal aus poet nr.6: Michael Buselmeier: Laß uns wieder von der Folter Gebrauch machen, Bischof – Schandrad und glühende Stiefel. André Schinkel: Die Bäume im Rosental träufen, der Regen verzieht sich nur langsam und gibt unsern Schutz preis. Wo ist Schutz? - meinem Pseudonym Gert Gablenz geht die Trauer etwas zu weit. Stell dir ein Dutzend Wessi-Philosophen am Grab eines ihrer Professoren vor, sagt Gablenz. Und ich: Zu viele waren auf ihre Weise am Untergang des versuchten Sozialismus beteiligt. Beide Gruppen erleben verblüfft die Weltkrise des totalitären Kriegskapitalismus.
Darauf der ewige Glosseur: Auf zum Dritten Weg …
Anmerkung für Zahlenmystiker: Diese Folge fußt auf 22 Texten aus poet nr.6 und 23 Stücken aus IN MEMORIAM Helmut Seidel. Die Differenz auszugleichen füge ich mich hinzu, auf dass keiner vergessen werde, der den Innenraum trotz Zyklopenherrschaft bewohnbar zu machen versucht.
Menschliche Kultur
Kultur ist: Armeen aufstellen zur Verteidigung. Fremde Ländereien erobern. Die Männer umbringen. Die Frauen vergewaltigen. Die Kinder abstechen. Frieden schließen. Siegreich heimkehren. In den Museen verzückt die Bilder der alten Meister bewundern. Und nun das Ganze nochmal von vorn. (Venusharfe 1985) Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 30.03.2009.
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