Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Von Karl May, der als Wiedergeborener zwischen Himmel und irdischer Hölle wechselt, wie in dieser Serie schon erläutert wurde, traf eine Botschaft ein, die uns sehr zu denken gibt. Er schrieb: Gestern kam Sankt Peter hier vorbei. Der unkündbare Himmelshauswart. Ich blickte gerade von meiner Wolke auf die Erde. Aus der Ferne sah es dort unten aus wie ein Marionettentheater. Ganz deutlich erkannte man die Fäden, an denen die Politiker hingen und ihre Hintermänner, die daran zogen. Ich fürchte, sagte ich zum Heiligen Peter, die Erde dort unten ist in Wirklichkeit die wahre Hölle. Nein, erwiderte er, nicht die Hölle, es ist der Ort des Fegefeuers. Manche absolvieren bereits den tausendsten Durchgang. Ich war verblüfft. Heißt das, heiliger Peter, es läuft nach der heidnischen Wiedergeburtslehre? Das ist nur gerecht, bestätigte er, je weiter einer die Karriereleiter hochsteigt, desto satanischer wird sein Charakter. Entfremdung nannte das der junge Marx. So ungläubig wie erstaunt blickte ich Petrus an – er las Marx? Den Himmelspförtner ergriff der Eifer des Missionars. Weshalb, um Gottes willen, möchte einer dort unten Minister werden oder General? rief er aus. Weil er damit die Lizenz zum Töten erlangt, und das bedeutet laut Luther-Bibel zum Morden. Wer das drunten aber so offen zu kritisieren riskiert, dessen Seele ist schon verloren –
Das weiß ich doch, Genosse Peter ...
Er weiter in seinem Furor: Wen brachte Stalin als erstes um? Seine frühesten Mitstreiter, dann ließ er Leo Trotzki den Schädel einschlagen. Wen ließ Hitler als erstes erschießen? Seine alten Kämpfer und Kameraden.
Das sind die Diktatoren, unterbrach ich Petrus, wir Demokraten jedoch ...
Er ließ sich nicht stoppen: Gehlen, Hitlers Geheimdienstgeneral für Fremde Heere Ost, wurde in der Bonner Republik Adenauers oberster Geheimdienstchef und ließ nach der Wiedervereinigung noch der letzten Stasi-Küchenhilfe die Rente kürzen. Gehlen war da schon längst gestorben, warf ich ein, oder mischt er vom Himmel her wieder mit?
Petrus: Der General befindet sich im tausendsten Durchlauf. ..
Ach – Ihr schickt die Kerle zurück auf die Erde? Und als was schickt ihr sie zurück?
Als Kakerlake, Filzlaus, Stinktier, Ratte, manchmal auch als runderneuerten Geheimdienstler mit Mordlizenz...
In diesem spannenden Moment klingelte Peters Handy. Sein Chef rief ihn zu sich. Ich sah ihm in der mir eigenen soften Ungläubigkeit nach, wie er auf Dienstwolken davonschwebte. Die Ursache für seine Beflissenheit ist mir nicht unbekannt.
Dreimal verleugnete er im Jahre 33 des Herrn seinen Jesus und ließ sich später in Rom reuevoll mit dem Kopf nach unten kreuzigen. Seitdem ist für die römischen Schwarzen der Kopf das unterste Körperteil.
Derlei Weisheiten spreche ich hier im schwarzen Himmel nicht laut aus, denn die Doppelagenten von Gehlen und Mielke arbeiten weiter für die hiesige Regierung, welche Partei sie auch stellen möge. Immerhin notiere ich meine diversen Erkenntnisse im Gebetbuch verschlüsselt an den Rändern und halte den Schatz stets gut verschlossen, man weiß ja nie.
Beim Ausblick in die irdischen Tiefen schwebe ich über dem Erdball dahin, ein engelartiger Kosmonaut des höchsten Herrn. Weit unter mir zeichnet sich das vertraute Urstromtal der Pleiße ab, das Land Sachsen steht auf dem Kopf als ein umgekehrtes Sizilien und ein fremdes Gefühl durchweht meine ungläubige sächsische Seele – wenn es Melancholie sein sollte, Leute, krieg' ich den nächsten Hustenanfall... Die Pleiße läßt ein glucksendes Lachen hören.
Das war der Augenblick, in dem sich mir unser sächsischer Ur-Charakter entschlüsselte. Es ist das Zwillingsbild von Don Quichote und Sancho Pansa. Der erste kämpft offen mit eingelegter Lanze, der zweite macht sich seinen eigenen Vers drauf. Nr. 1 ist Idealist, Nr. 2 lacht sich ins Fäustchen. Sachsen ist die Quintessenz der weiland DDR, die besser war als ihr schlechter Nachruf. Das seit Bismarck rote Sachsen gibt sich mit vorgetäuschter Harmlosigkeit als schwarzes Sachsen. Das Kapital spielt nur unlustig mit. Die Sachsen sollen ausgespart und dezimiert werden zur Strafe für ihre vergangenen Erfolge. Muß der Freistaat jetzt versteppen und verwüsten?
Tags darauf hockte ich vorn am Tor bei St. Peter. Werter Genosse, hebe ich an, wie bringst du's nur fertig, zweitausend Jahre lang ohne Prostatabeschwerden zu überleben?
Das ist einfach, antwortete er, ich sauf mich gesund. Oder denkst du, ich wäre sonst fähig, den Dauerdienst hier am Portal zu überstehen?
Ich wage eine Frage, die mir schon lange auf der Seele brennt: Erklärst du mir, weshalb das Volk deinen Christus ans Kreuz nageln ließ?
Seine Antwort ist kurz und knapp: Um ihn in Ewigkeit anbeten zu können.
In diesem Moment verstehe ich das irdische Fernsehen. Bei MTV läuft eine Cartoon-Serie mit dem Titel Popetown. Die Werbung für diese Papst-Satire wird unterstützt durch eine inzwischen von vielen Jugendlichen eifrig aus dem Netz abgerufene Anzeige. Zu erkennen ist darauf eine Jesusfigur, die amüsiert vor dem tv-Gerät sitzt, im Hintergrund steht ein leeres Kreuz, unten der Slogan: »Lachen statt rumhängen.«
Ich kehre zur Erde zurück und nehme mir vor, künftig lustig-luftig an jedem 1. Mai den Karfreitag, den Volkstrauertag, Karneval und Aschermittwoch in einem Aufwasch zu feiern, da finde ich eine Mail von Petrus vor: »Lieber Karl May, ich bin vom Himmelstor desertiert … In der FAZ vom 25. April 07 wurde zum tausendsten Mal Hitlers Fliegergeneral Mölders empfohlen, seit Ewigkeit nichts als höllischer Schwachsinn dort unten, und dann marschieren die Kerle hier an und wollen in den Himmel.«
Kurzum, 2000 Jahre Wächteramt seien genug, mailte Petrus. Zwar habe Nietzsche unrecht, Gott sei keineswegs tot, aber seit der Entdeckung unendlich vieler Weltsysteme schlichtweg überfordert und abgelenkt, abgesehen von seiner Umgebung, diesen Himmelshofschranzen und falschen Fuffzigern. Alles in allem habe er das Türstehen dicke und lebe jetzt als Praktikant in Sachsen mit Schwerpunkt Chemnitz, Erzgebirge, Vogtland, Zwickau, Plauen und die Pleiße und Mulde entlang bis Leipzig und mit der Elster zur Elbe. Sein Wohnsitz sei Schlema, früher Oberschlema, das stärkste Radiumbad der irdischen Welt, das die Russen abgruben, als sie Sowjets hießen und mit den Atombomben den USA geichzuziehen versuchten. Seitdem das misslang, sind die radonhaltigen Wasser aus den Bergen wieder friedlich nutzbar, der Ort entsteht erneut, und unser Peter trinkt, badet und inhaliert tüchtig und verspüre sein biblisches Alter immer weniger. Manchmal besuche er Bad Elster, Bad Brambach und all die Städtchen, wo es sich prächtig aufleben, gesunden und neuen Mut fassen lässt. Die Heilquellen speisen sich aus dem Gebirgsgestein, die Bäche und Flüsse sind voller Radium-Emanationen der Pechblende. Ein Bad in Mulde und Pleiße kräftige wie eine Kur in Baden-Baden, auch Goethe und Faust erholten sich in Sachsen, nur Marx fuhr weiter ins böhmische Bäderdreieck Franzensbad, Karlsbad, Marienbad, weil er in Sachsen die Stasi fürchtete und als Trierer Volksfreund einen guten Wein dem Bier vorziehe, das jedoch, aus sächsischen Radium-Radon-Quellen gespeist, eine sensationelle Vitalität vermittelt, und alles reine Natur. Überhaupt, so der desertierte St. Peter, lebe er als ehemaliger Himmelspförtner in Sachsen wie Gott in Frankreich. Es gebe jeden Tag einen Sonderexpress von und nach Berlin, Abfahrt Berlin 10 Uhr 17, Ankunft im Radiumbad Schlema 14 Uhr 37, ein Triebwagen fährt von Leipzig mit Halt in den berühmten Weltstädten Altenburg, Crimmmitschau, Werdau, Zwickau bis Niederschlema und brauche dazu kaum zwei Stunden. Zu den berüchtigten Pleißenmetropolen Werdau und Crimmitschau ist es von Schlema aus sowieso nur ein Katzensprung. Nach Schneeberg, Aue, Rodewisch und Zwickau verkehren stündlich schnelle Busse, schon 1928 gab es täglich 234 Ankunfts- und Abfahrtstermine.
Unser guter alter Peter entwickelt sich also zu einem Sachsen-Fan wie er im Buche steht, und das ist nicht die Bibel, rührt aber her vom Reizklima der Bade-Orte im Quellgebiet von Pleiße, Mulde, Chemnitz, Zschopau und von den Alphastrahlen des zerfallenden Urangesteins, das in der Bombe den Menschen verbrennt, in Gesundheitsstollen, Bädern und Trinkwasser aber so wohltuend und positiv wirkt, dass Old Nietzsche hier mit Recht vom Übermenschen spräche ... Sachsen jedenfalls ist als Pekinger Sonderwirtschaftszone und St. Peters Wohnsitz eine kosmische Attraktion geworden. Warum auch nicht. Spartakus desertierte aus der Sklavenqual, Jesus aus der irdischen Marterhölle in den Himmel, Marx vom Bürgertum in die revolutionäre Phantasie. Petrus aber hat nach zweitausend Jahren die überirdischen Faxen satt und regeneriert sich in Sachsens Wunderbädern als Jünger des wahren und unverfälschten Jesu, der durch den Mund von Karl Marx und Karl May die ursächsische Weisheit verkündet: An allem ist zu zweifeln.
Der wiedergeborene Karl May und sein Himmelsfreund Petrus reden beide von einem märchenhaften Sachsen, wie es sein könnte, wäre es so wie wir es schüfen, steckte der Teufel, dieser Konterrevolutionär, nicht im Detail. Bevor wir das Land zu rosig malen und mit Goldrand versehen, sei es auf Distanz betrachtet. Die Sachsen haben's schwer. Standen noch in der Leipziger Völkerschlacht auf Napoleons Seite. Wählten im guten alten Kaiserreich engstirnig Sozialdemokraten. Machten 1848 und 1918 in Dresden Revolution und wurden zu Weimars Zeiten 1923 illegitim von Reichswehr und Freikorps besetzt, was sie noch linker werden ließ, bis sie ab 1933 begriffen, dass ihre Zukunft in Stalingrad lag. Ab 1945 erinnerten sie sich schnell ihrer revolutionären Vergangenheit und brachten es in Berlin zur 5. Besatzungsmacht. Während der Leipziger Walter Ulbricht den 1. Mann der DDR spielte, schaffte es der Dresdner Günther Nollau zum Bonner Verfassungsschutzpräsidenten und Helmut Schön trainierte die Fußball-Nationalmannschaft (West). Ab 1989 wählten die Leipziger in Montagsdemos die Freiheit des Westens verbunden mit der Befreiung von sicheren Arbeitsplätzen. Von jetzt an ging es gegen Antifaschisten, die das Land seit 1945 zusammen mit den Russen besetzt hielten.
Als gebürtiger Sachse frage ich mich nur, wie frei der Freistaat von aller Vernunft sein müsse. Als 1996 die Rehabilitierung von Wehrmachts-Deserteuren im Bundesrat anstand, stimmten die Freistaaten Sachsen und Bayern dagegen. Dem Justizminister Heitmann waren die Opfer der Verfolgung nach 1945 wichtiger als die Opfer der Nazis. Füglich erklärte das Stalin-Opfer Hans Corbat, wenn ein Deserteur wie mein Freund Ludwig Baumann nicht an Gedenkfeiern teilnehmen könne, bei denen NS-Militärjuristen, die Todesurteile fällten, geehrt werden, vermöge er nicht der Deserteure zu gedenken, die »wegen Feigheit vor dem Feind belangt wurden.« Der kleine Unterschied zwischen Juristen, die per Urteil Blut vergießen {lassen), und Deserteuren, die das Blutvergießen verweigern, ist in Sachsens Regierung offenbar unbekannt. Wie kommt es, dass die exekutierten Wehrmachtssoldaten von Torgau – es sind mehr als elfhundert – so schäbig behandelt, sogar indirekt ihren Hinrichtern gleichgestellt werden? Weil die Todeslinien dieses Jahrhunderts ungescheut von 1914 bis heute durchgezogen sind. Die Katharsis soll verhindert werden. Der Mensch ein ewiger Krieger bleiben. Ausgerechnet aus einem nach Hannah Arendt benannten sächsischen Institut vernahm man die Kunde, dass Georg Elsers Attentat auf Hitler moralisch verwerflich und daher abzulehnen sei. Sowas hat keine Ahnung von Hannah Arendt und Rosa Luxemburg
Die Geringschätzung von Widerständlern und Antifaschisten hat Methode. Kein Wunder, die Herren Politiker und wenigen Damen in dem Job wollen davon nichts wissen. Den sächsischen Gedenkstättenbeirat verließen unter Protest der Vertreter des Zentralrats der Juden, die Vertreter der Sinti und Roma sowie die des VVN und der Deserteure, weil sie kein Gedenkstättengesetz akzeptieren wollen, durch das Täter und Opfer auf Augenhöhe des Schusskanals kommen. Statt den Stalinismus-Opfern eine gerechte Rente zu zahlen, werden sie gegen die Opfer des Faschismus benutzt. Das scheint den Regierenden leicht zu fallen, denn auf den Karriereleitern der Negativauslese gelangte kaum ein Verfolgter zu höheren Ministerweihen.
Die politischen Zustände in Sachsen sind der blamable Überbau zum wirtschaftlichen Jammertal. In Dresden z.B. begann VW vor aller Augen den exquisiten Phädon zu fertigen. Schön sieht er aus, nur will ihn kaum einer kaufen. Aber die Chip-Industrie boomt und boomt. Schon warnen Wirtschaftsgurus vor Überhitzung dieser Konjunktur. Tag für Tag werden Arbeitslose produziert, die können ja mit den in Zwickau-Mosel gebauten Golfs zu den Jobs nach Bayern brettern – und gibt es da keine Arbeit mehr, reicht es noch zur Heimfahrt, falls die Scheichs und der Staat nicht den Sprit zum Luxusgut verteuern. In Leipzig stellt man fleißig BMW und Porsche her, die Pleiße wird ausgebaut zur olympischen Regattastrecke. Wer kein Auto hat, darf dort rudern. Bald werden sie das Völkerschlacht-Denkmal zum Mahnmal gegen Linke, Antifaschisten und Deserteure umwidmen. Unterdessen schließen Betriebe und Schulen um die Wette, verharren Mütter im Gebärstreik, gehen Krankenhäuser pleite und Ärzte in Rente, dass mehr und mehr Praxen leerstehen wie die Million unnütz hingeklotzter Wohnungen. Stellungslose Jugendliche, hochqualifizierte Techniker und Wissenschaftler finden entweder gar keinen Job oder verdingen sich rund um den Globus als Gastarbeiter. So läuft die traditionelle Industrieregion leer, ein Albtraumland, geschaffen von einer hilflos quengelnden Obrigkeit, deren ideeller Horizont an Adenauers beschränkte Weltsicht anschließt. Der war immerhin mit allen Wassern gewaschen, während die Dresdner Postbiederköpfe ihr Grenzland verwalteten, als befände man sich im Vasallenstatus einer römischen Provinz. Wo bleiben jetzt die in der DDR agilen Schriftsteller, die zu Wendezeiten ihren Widerstand reklamierten und seither in kommunikativer Vereinsamung dahindämmern? Wo sind die einst ach so quicken Bürgerrechtler? Wo die bekanntlich vigilanten Geister von Pleiße, Mulde und Elbe? Welch ein Niedergang nach Jahrzehnten fleißigen Aufbaus. Weil nichts mehr rundläuft, versucht Sachsen ersatzweise das längst nicht mehr ganz so tiefschwarze Bayern rechts zu überholen. Als F.J. Strauß der DDR seinerzeit einen Milliardenkredit verschaffte, verlängerte er deren Lebenszeit um Jahre. Seit der Einheit von 1990 flossen über tausend Milliarden in die angeschlossenen Länder? Selbst das geschwächte, ineffektive Honecker-Regime hätte mit soviel Kohle blühende DDR-Landschaften und einen friedensreichen Sozialismus zum Verlieben schaffen können. Die jetzt regierende politische Klasse präsentiert einen Kapitalismus zum Abgewöhnen. Folglich macht im Jahr 2007 eine sächsische Korruptionsaffäre Schlagzeilen, wie sie ein Satiriker nie hätte erfinden dürfen, ohne dafür als Absurdist abgetan und beschimpft zu werden. Wir erkennen Sachsen nicht wieder. Man raubt ihm Lebenskraft und Urteilsvermögen. Unser Sachsen ist anders. Im Leipziger Rathaus und nebenan suchten sie solange nach Stasi-IMs, bis es sie selbst anödete. Da orderten sie bezahlte Mädchen aus Tschechien und spielten den starken August, als wäre die Pleiße eine Elbe im Sonderangebot. Wird die jüngste sächsische Geschichte so zur Sache der Gerichte? Dabei war August der Starke auch nur ein Schwein mit Krone.
Von Karl May, Petrus und August dem Starken gelangen wir direkt zu Hans Magnus Enzensberger und seinem neuesten Werk Hammerstein oder der Eigensinn, das Suhrkamp eben per FAZ-Vorabdruck auf den Jahrmarkt der Verleger pustet. Was nur ist mit dem Autor geschehen? Wir vermuteten ihn seit längerer Zeit als US-Army-Panzer-Kommandanten am Hindukusch beim Krieg gegen die Hitler der Dritten Welt, und da legt er ein Buch vor und auch noch ein gutes. Das wirft uns fast um. Der Titel freilich ist zur Hälfte Mist – der treffende Teil ist Hammerstein. Zu diesem General äußerte ich mich schon vor Jahren, weil er für die meisten deutschen Historienschreiber nicht existent war oder grundfalsch interpretiert wurde. Nun zur schlechten Hälfte des Buchtitels – Eigensinn – den besaß auch der Führer Adolf im Übermaß und mit ihm die Volksmehrheit von der Arbeitsfront bis zur Wehrmacht samt SS. Eigensinnig betrieben sie ihren Krieg gegen die Welt. Damals als eigensinnige Nazis, heute gelenkt von eigensinnigen Demokraten. Haut das nicht hin sind andere Eigensinnige schuld.
Ich kenne bisher nur die vorabgedruckten Folgen vom Buch des Hammerstein-Forschers. Er präsentiert eine Fülle von Fakten und Personen. Eine kaum mehr zu erwartende Fleiß-Arbeit des temporären Schaumschlägers Enzensberger, der, bevor er im Opportunistensumpf unterzugehen drohte, schon mal wusste, »wie wenig man in Deutschland vom politischen Widerstand versteht« und: »Der Krieg in Vietnam ist die Probe aufs Exempel: Das Regime der reichen über die armen Völker … steht dort auf dem Spiel.« Dann vergaß er diese Erkenntnis und spielte auf Seiten der Reichen gegen die Armen über Jahre hin mit. Jetzt sucht einer aus dem Sumpf zu steigen, wo Moorleichen landen, die dem Pathologen bei der Sektion von vergangenen Kulturen künden.
Es gibt im Fall Hammerstein einen Dollpunkt, um den schleicht auch der renovierte Enzensberger ängstlich herum, soweit das aus dem bis jetzt Vorabgedruckten zu entnehmen ist. Wir melden uns wieder, liegt erst das gesamte Meisterwerk vor. Wer wird nicht seinen Magnus loben, und der Segen kommt von oben.
Am 9.9.07 las ich wieder eine bewegende Ossi-Klage aus Chemnitz. Ein ehemaliger Bürgermeister von Hohenstein-Ernsthal, dem Karl-May-Geburtsort ist »sehr traurig und nachdenklich«, weil die Ostdeutschen abgelehnt und gekränkt werden. Ach du liebe beleidigte Leberwurst. Belgien und Sachsen waren einst führend bei der industriellen Entwicklung Kontinentaleuropas – heute nicht mehr. Wer sich den Schneid abkaufen lässt, wundere sich nicht, wenn man ihn schneidet.
Da fällt mir mein alter Freund Walter Janka ein, der 1990 moserte: »Und jetzt kommt etwas, und dafür schäme ich mich mit, weil ich ja selbst aus der Arbeiterbewegung hervorgegangen bin: Das eine ist ja das, was unsere Bonzen verbrochen haben und verantworten müssen, von HONECKER bis MITTAG und wie sie alle heißen. Aber das andere ist, und das ist beinahe mit genauso beschämend, was sich die Arbeiter in Zwickau, immerhin mindestens 20.000 Arbeiter, wenn man sie alle zusammenzählt, geleistet haben, sie haben sich 20 Jahre lang zwingen lassen, das schlechteste Auto zu bauen, dort wo mal früher, als ich ein junger Mann war, die besten Autos der Welt gebaut wurden. In Eisenach sind in Deutschland die ersten BMWs gebaut worden, das waren die besten Autos. In Zwickau sind die Horch-Autos gebaut worden, die besten Autos Deutschlands. Wir haben unsere Arbeiter genötigt, und die haben es sich gefallen lassen. Stellt Euch doch mal vor, was wäre das für ein Klassenbewußtsein, wenn die Arbeiter gesagt hätten: Hört mal zu, wenn ihr diese Scheiße gebaut haben wollt, dann bauen wir sie für euch, wenn ihr sie fahrt, als Minister und als Parteibonzen, für euch bauen wir sie, aber für uns nicht. Das ist nämlich die Kehrseite der Medaille, daß wir als Partei und als Bewegung ... die Arbeiterbewegung von jedem Selbstbewußtsein befreit haben.«
Das Zitat entstammt dem ingeniösen Buch Aufrechter Gang im DDR-Sozialismus – Walter Janka und der Aufbau-Verlag von Judith Marschall, das ich 1993 als Manuskript erhielt. Der Band erschien 1994 und ist vergriffen wie Jankas Bücher Schwierigkeiten mit der Wahrheit, Spuren eines Lebens, Bis zur Verhaftung, sowie Der Prozeß gegen Walter Janka und andere.
Vergriffene Bücher sind gleichzusetzen mit mangelndem kollektiven Gedächtnis.
Hier noch dieses Wort von Janka: »Um neu zu beginnen, muß man das Alte überwinden.« Stattdessen strebt die Berliner Republik verblendet ins Uralte zurück, als stünde Richard Wagners Götterdämmerung auf dem Programm, das wir Grundgesetz nennen.
Am Montag, den 28. Januar 2008, erscheint das nächste Kapitel.