»Das Regimeopfer Zwerenz schrieb im Neuen Deutschland. Jetzt kandidiert er sogar für die Nachfolgepartei. Das ist politisch nicht mehr zu erklären; nicht mit dem unerschütterlichen Willen zur Opposition und nicht mit unerschütterlichen linken Grundüberzeugungen. Vielmehr erinnert es an ein psychologisches Motiv; das sich bei Dostojewski findet. Es ist die ziemlich sinistre Beobachtung einer Vertauschung von Schuld und Entschuldigung zwischen Täter und Opfer. Mitunter nämlich ist es das Opfer, das sich darum bemüht, Verzeihung vom Täter zu erlangen. So ungefähr nähert sich Zwerenz seinen Feinden von einst in der irrwitzigen Hoffnung, dass sie ihn, wenn er diesmal lieb ist, endlich in Gnaden aufnehmen, umarmen und wegküssen werden von ihm alle Wunden, die sie ihm schlugen.«
Soviel Mühe im römisch-katholischen Kapital-
Während die FAZ ihre Kapital-Apologie von der Gründung an betrieb, verlor Neues Deutschland 1989/90 seine gegenteilige Funktion. Da ich nicht nachtragend bin, ließ ich mich auf eine gewisse Nähe ein. Drei Jahrzehnte früher hatte Karl Gerold mich um Mitarbeit bei der Frankfurter Rundschau gebeten. Diese Nähe endete mit der Wiedervereinigung. Freie Autoren sind wetterabhängig? Es steht mehr auf dem Spiel. Reich-Ranicki stieß bei seiner Rückkehr aus Polen in Zeit, Welt, FAZ auf real oder psychisch überlebende Ritterkreuzträger, die ihm wenig behagten. Joachim Fest führte den Widerstrebenden gar in die Arme des adolfinischen Blutsbruders Albert Speer, wie Marcel hinterher anzumerken wusste. Weshalb sollte ich dann meine Ansichten nicht im ND vertreten, wo ich ja nicht auf Meinungsritter wie Fest, Speer, Sieburg treffen würde? Mein neuer Platz zwischen lange gemiedenen und entbehrten roten Genossen erfreute und belebte meine solidaritätsbedürftige sächsische Seele.
Nach einem Dutzend Jahren erlahmte meine freie Mitarbeiterschaft bis auf gelegentliche Gastkommentare. 2007 schlug der neue ND-Chefredakteur Jürgen Reents ein Frage- und Antwort-
Wir finden, unser Buch kann sich sehen lassen, auch wenn der Titel Weder Kain noch Abel nicht gerade dem gewohnten marxistischen Vokabular zuzurechnen sein mag. Abgesehen davon, ich hatte über die beiden biblischen Brüder schon von der Kanzel gepredigt, in kirchlichen Akademien gelesen, auf Kirchentagen die braven Gläubigen so provoziert wie gestreichelt, dass mir der Titel ans Herz wuchs und zudem eine frohe Botschaft enthält: Der weiterentwickelte Marx führt zur materialisierten Dreieinigkeit von Christentum, Judentum und Islam. Ein den Mord verweigernder Kain und der die Opferrolle sabotierende Abel sagen dem Krieg den Kampf an. (Ernst Bloch:»Kampf, nicht Krieg«) Unterscheiden die Christen zwischen Hölle und Erlösung, die Marxisten zwischen Kapitalismus und Kommunismus, so bieten Blochianer ein drittes duales System: Auf die erste Phase der humoristischen Revolte folgt die zweite Phase der pazifistischen Revolution. Mit weniger geben wir uns gar nicht mehr ab. Da sind wir Pazifisten militant und totalitär.
Auf eine Jürgen-Reents-Frage nach meiner Erzählung Der Maulwurf steht im Buch als Antwort: »Ich schrieb sie 1955 noch in der DDR, konnte sie aber erst 1964 als Hardcover in einem Schweizer Verlag veröffentlichen. Zuvor hatte ich eine Menge verlegener Absagen westdeutscher Verlage erhalten; 1968 fand sich mit dtv ein Taschenbuchverlag in der Bundesrepublik, der sie nachdruckte. Damals trug ich bei meinen Lesungen oft daraus vor, gab es aber bald auf, weil es mir als kriegerische Vergangenheit zu sehr an die Nieren ging. Es ist die Geschichte eines Soldaten, der ein sicherer Scharfschütze und ein noch besserer Verteidiger war. Er grub sich sein Schützenloch am schnellsten und am tiefsten, entwickelte eine bizarre Technik, die ihn vor Granaten schützte. Zum Schluss gräbt er sich unter ein Massengrab, das bricht zusammen und er verreckt trotz seiner guten Verteidigung. Als ich in Italien an der Front war, habe ich mir das so vorgestellt: Du musst um dein Leben kämpfen, das ist der Scharfschütze, und du musst dich in der Mutter Erde verkriechen, das ist der Graber, um davonzukommen. Aber du kommst nicht davon, und andere kommen nicht davon. Es ist eine Geschichte über das Soldatsein, ich selbst halte sie für meine ausdrucksstärkste. Sie ist zugleich konkret und existenziell und lässt nur eine Schlussfolgerung zu: Wir brauchen keine Kriegshelden, wir brauchen Pazifisten.«
In der DDR hatte die Erzählung 1957 bei einem Berliner Verlag erscheinen sollen, mit dem es bereits einen Vertrag gab, obwohl uns klar war, das Buch würde es seines Pazifismus wegen schwer haben. Das entfiel, weil ich das Land verlassen musste. Die anschließenden Schwierigkeiten im Westen ähnelten denen im Osten. Eine Geschichte, die den Krieg eines einzelnen Soldaten so auf die Spitze treibt, dass die totale Kriegsmethapher entsteht und der Pazifismus daraus zwingend hervorgeht, übersteigt jede Toleranzschwelle. So ähnlich steht es in den vierzehn hochachtend ablehnenden Lektorats-Schreiben, die mir das Dilemma mitteilten. Da die Story in Weder Kain noch Abel nachzulesen ist, muss ich nicht näher erläutern, weshalb es wohl erst eines weiteren Weltkrieges bedarf, bis sich meine Antikriegsgeschichte wirklich auf einer Bühne spielen lässt. Eine Westfassung des Manuskripts, die neu von mir für Theater/Film gekürzt wurde, steigerte offenbar noch das Gift der Geschichte, wie ich bei Lesungen selbst bemerkte. Die Übelkeit, sich von Mal zu Mal steigernd, ließ mich bald einhalten. Tatsächlich verdrängte ich die Erinnerung, weil mir meine Soldatenzeit im Nachhinein immer unheimlicher, unfassbarer und fremdartiger erschien. Um mich aufzumuntern, schrieb ich die Geschichte vom alltäglichen kriegerischen Mord und Selbstmord noch einmal, jetzt aber als ironisch-satirische Shortstory. Sie hält sich unter dem Titel Nicht alles gefallen lassen seit vier Jahrzehnten als Schulbuchbestseller und schmückt jedes Jahr an die fünfzig verschiedene Schulbuch-Ausgaben für Deutsch und Religion.
Zurück zur FAZ, die wir gar nicht verlassen konnten. Anno 1983 starb Arthur Koestler, der Klassiker des zum Antikommunisten gewandelten Kommunisten. Das Koestler-Foto in der FAZ ließ mich stutzen. Im Haus-Archiv suchte ich Bilder heraus, die Koestler und mich 1966 im Münchner Hotel Bayerischer Hof zeigten. In der Tat, sie hatten die alte Koestler-Aufnahme von vor zwanzig Jahren gedruckt und mich eliminiert. Neuere Fotos des weltberühmten Autors besaßen die Dumpfmichel nicht. Doch die Freude der Redakteure, mich wegzuschneiden, lässt sich gut nachvollziehen. Die Frankfurter Rundschau hatte am 23.6.1966 das Doppelbild aus einer Stefan-Moses-Serie veröffentlicht. Am 5.3.
Wolf begegnete ich dreimal öffentlich, einmal privat. Offiziell waren wir über Jahrzehnte hin die üblichen Feinde im Kalten Krieg. Inoffiziell lernte ich Wolfsche Agenten, Kundschafter genannt, kennen und suchte meinerseits seine Tricks auszukundschaften, wodurch ich sein kompliziertes Spiel begriff, das mit der neuen Ostpolitik der sechziger Jahre auch Teil meiner Arbeit als Autor wurde. 1975 erschien im Frankfurter S.Fischer-Verlag mein ironischer Schlüsselroman-Krimi Die Quadriga des Mischa Wo/f, auf der Bonner Pressekonferenz durch Ernst Dieter Lueg vorgestellt, später sowohl von Markus wie dem Filmemacher-Bruder Konrad Wolf verblüfft und erheitert kommentiert.
Zum ND-Pressefest im Juni 2006 saßen Wolf und ich zum letzten Mal auf dem Podium nebeneinander, er ging auf meinen damaligen Roman ein, während ich über Foto-Porst plauderte, den ich gut kannte und der einer seiner frühen Kundschafter wie für mich ein Zeuge der ingeniösen Fähigkeiten Wolfs gewesen ist. Im ND waren dann Wolfs Worte nachzulesen: »Ich hab damals nur gedacht: wo hat denn der Zwerenz das alles her?« Wie ich mich erinnere und es aus den Akten hervorgeht – als Guillaume aus der DDR in die BRD geschickt wurde, versuchte man auch mich anzuwerben, was ich sabotierte. So bin ich denn kein deutscher Agent geworden, was mich freut, denn es gab und gibt bessere Jobs, ganz ohne Führungsoffiziere und Geführte. Gleich nach der irrwitzigen Wende veröffentlichte ich eine Szene, in der Gehlen, Globke und Markus Wolf miteinander auftreten und Wolf provozierend bemerkt: »›Das vereinte Deutschland wird mich gewiss zum Chef des BND ernennen. Ich werde Ihr Nachfolger in Pullach sein. ..‹ Darauf Gehlen: ›Bei allem Respekt, Herr Generaloberst, unsere beiden Fälle sind unvergleichlich. Uns trennen Welten.‹ Darauf Wolf: ›Ich stimme Ihnen zu. Es ist Ihr Sieg.‹« Das ist so treffend wie fatal. Man lese die Memoiren jener westdeutschen Generäle und Geheimschleicher, die von Hitlers Generalstabstischen direkt an Adenauers Seite der Remilitarisierung eilen durften. Man lese dagegen Wolfs Letzte Gespräche. Soviel exemplarisch zum bleibenden Unterschied zwischen rechts und links. Für die Linke aber ist in der Lektüre ein Genosse kennenzulernen, der Hitlers Judenmord entkam, Stalins Verbrechen mit Schmerzen zur Kenntnis nahm, Lehren daraus zog und sich endlich zum intellektuellen Vertreter jenes pluralen Dritten Weges entwickelte, der heute von China und Vietnam bis hin zu Lateinamerika versucht wird. Wolf hatte es verstanden, den eigenen Glauben seinen Kundschafter-Agenten im Ausland zu vermitteln. Wenn der Sozialismus im Maße seiner Sowjetisierung die Anziehungskraft der früheren Jahre verlor, blieben doch viele von Wolfs Leuten dem Idealismus eines Richard Sorge oder Klaus Fuchs verpflichtet und so personifizierte der Abwehrgeneral die DDR, wie sie gedacht gewesen war, ehe der Staat den Bach runterging. Gegen die entfesselten Gewalten sowie die Spätfolgen der Hitler, Stalin und Alliierten, die sich in beiden deutschen Staaten manifestierten, war auf Dauer mit Vernunft und List nicht anzukommen.
Die Lebensweisheiten des vormaligen DDR-Auslandaufklärers enthalten das Exposé eines kritisch reflektierten Sozialismus. Zugrunde liegt der schicksalhafte Antifaschismus des stets bedrohten jüdisch-deutsch-
Auf Seite 194 nennt Hans-Dieter Schütt den Begriff »Sklavensprache«, wohingegen Wolf schon in seinem frühen Buch Die Troika die »deutliche Sprache« hervorhebt. In der Differenz steckt der ganze Salat, denn die Geheimdienstarbeit besteht aus lauter verdeckten, also partiell geheimen Sprachen. Wolf arbeitete sich lebenslang und oft zu spät zur Klarsprache durch. Die verschiedenen Stufen jedoch erhöhen den Drang zur Entschlüsselung. Man liest und staunt: Berija hat er nie gesehen, dem kleingewachsenen Stalin mal »von oben auf seine Tonsur« geschaut. Mit dem Mielke-Hasser und -Opfer Walter Janka verstand er sich, Mielkes wegen wollte er schon 1974 fast »alles hinwerfen«. Der Pazifist in mir freut sich, ironisiert Wolf seine strahlendweiße Uniform, ich seh ihn im tv-Film noch vor mir als ordensgeschmückten Generaloberst mit hängendem Ehrendolch über der Hosentasche – das war bitter. Hans Mayers Bemerkung, die Sowjets hätten Wolf, Modrow und Ardenne am Ende zur Ablösung der »zweifellos etwas dummköpfigen Führung der SED« vorgesehen, wird als bloße Annahme interpretiert. Kontakte über Falin-Portugalow gab es, auch Mielke pflegte seine Verbindungen, der Absturz damals war nicht zu stoppen. Die Machtapparate kreisten in sich. Die letzten Intellektuellen ebenfalls. Ihre geborgte Macht zerfiel als erstes. Was von Wolf und seiner Gruppe bleibt, ist mehr und ganz anderes als seine Feinde erinnern wollen. Seine Leute brauchen nicht zu Kreuze zu kriechen, tätiger Antifaschismus besteht fort als Überlebensaufgabe. Wolfs Buch über unsere Zeit und ihre Kämpfe wie über den Sozialismus ist keineswegs das letzte Gespräch. Von den zahlreichen Einsprüchen gegen Markus Wolf ist mir lediglich Wolfgang Leonhards trotzkistische Kritik nachvollziehbar, der die Gemeinsamkeiten 1949 mit seiner Flucht aus der DDR nach Jugoslawien dementierte. Das Ende dieser Staatssozialismen setzte für beide den fatalen Schlusspunkt.
In einem früheren Film, der gerade im Fernsehen wiederholt wurde, tönte der nachgeahmte Bombenleger Stauffenberg wiedermal: Es lebe das heilige Teutschland! Oder war es sein laut Schirrmacher tapfrer Darsteller von der US-Konkurrenzkirche. Was, zum Teufel, dachte ich, als die werten Rotarmisten mich schnell mal erschießen wollten, damals, an jenem schönen Tag im August 1944? Dachte ich an Deutschland? Oder dachte ich mit Heinrich von Kleist: »Schießt mich, ich bitt' euch in den Arsch, damit das Fell kein Loch bekommt.«? Nein, das dachte ich erst, als ich dies hier notierte. Denn die besten Sätze fallen einem meist post festum ein.
Jürgen Reents fragt beim Gespräch für das Buch Weder Kain noch Abel: »Sie sind ein bekennender Sachse?« Auf meine Antwort hin konstatiert er:»Im poetenladen, einem Internet-Portal aus Leipzig, erscheint gerade Ihr erster Online-Roman: Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte«. Folgt auf vier Seiten ein Panorama dieser poetenladen-Serie, in der ich den Sachsen gegen alle wohlfeile Schimpfe ihr verlorengegangenes ICH zurückzuholen suche. Die DDR war ein schicksalhaft erweitertes Sachsen. Wäre die Sowjetunion so mächtig gewesen wie die USA, hätte aus dem DDR-Sozialismus noch etwas werden können. Jetzt hört endlich auf mit Entschuldigungen, Heulen und Zähneklappern, dass die Gebissindustrie mit der Prothesen-Produktion nicht nachkommt und der Handel gar nicht genug Papiertaschentücher heranschaffen kann. Wir hatten, verdammt noch mal, die richtigen Ideen, aber die falschen Freunde. Der Georgier Stalin holte das sächsische Uran hinter den Ural für den Ritt auf der Bombe. Der Freistaat Sachsen bedarf, das walte Karl May, der Autonomie wie einst die Stämme der Indianer. Noch ein Wort zu Jürgen Reents, der 1983 als Bundestagsabgeordneter der Grünen nach Bonn kam. Im stern vom 27.3.08 ist dazu vermerkt: »Als er in einer Rede Kanzler Kohl scharf angreift, lässt ihn Bundestagsvicepräsident Richard Stücklen (CSU) aus dem Saal werfen. Joschka Fischer springt seinem Kollegen bei mit dem historischen Spruch: ›Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!‹
So locker solidarisch konnte Joschka reagieren, bevor er zum ministeriellen Kriegsfürsten aufstieg.
Der Lektor Walter Püschel, der sich 1956/57 dafür stark gemacht hatte, meine Maulwurf-Geschichte in der DDR zu veröffentlichen, beeindruckte mich damals mit seiner verwegenen Energie in Erwartung der Vorwürfe, ein pazifistisches Buch verantworten zu müssen. Erst heute lese ich im Internet, Püschel hatte der SED seine kurze Zeit als Siebzehnjähriger bei der Waffen-SS verschwiegen und war zur IM-Tätigkeit (von 1964 bis 1983) erpresst worden. Am 26. Dezember 2005 ist er verstorben. Dem Genossen habe ich nichts zu verübeln, denn er ist Teil der tragischen Geschichte meiner verdammten Generation Ost. Jetzt erst begreife ich den tieferen Grund, der ihn 1957 veranlasste, sich für meinen Antikriegs-Text so tapfer ins Zeug zu legen. Er war ein Wiedergutmacher, obwohl es dafür gerade bei ihm gar keine zureichende Ursache gab. Ein strahlend weißer Friedensengel über sein Grab.
Am Montag, den 29. September 2008, folgt das nächste Kapitel.
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Gerhard Zwerenz
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