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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Folge 49

Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

49

Contra und pro Genossen

Gerhard Zwerenz | LVZ
LVZ vom 24.5.1991
Thema: Kain und Abel
Gerhard Zwerenz
Weder Kain noch Abel
Gespräch mit Jürgen Reents Das Neue Berlin 2008
Am 19. Mai 1994 sorgte sich ein bekannter Frankfurter Feuilletonist um meine Zukunft. Es bewegte mich so, dass hier ein Stück daraus zitiert sei:
»Das Regimeopfer Zwerenz schrieb im Neuen Deutschland. Jetzt kandidiert er sogar für die Nachfolgepartei. Das ist politisch nicht mehr zu erklären; nicht mit dem unerschütterlichen Willen zur Opposition und nicht mit unerschütterlichen linken Grund­über­zeugun­gen. Vielmehr erinnert es an ein psycho­logisches Motiv; das sich bei Dostojewski findet. Es ist die ziemlich sinistre Beobachtung einer Vertauschung von Schuld und Ent­schuldigung zwischen Täter und Opfer. Mitunter nämlich ist es das Opfer, das sich darum bemüht, Verzeihung vom Täter zu erlangen. So ungefähr nähert sich Zwerenz seinen Feinden von einst in der irrwitzigen Hoffnung, dass sie ihn, wenn er diesmal lieb ist, endlich in Gnaden aufnehmen, umarmen und wegküssen werden von ihm alle Wunden, die sie ihm schlugen.«
Soviel Mühe im römisch-katholischen Kapital-Organ an den Ufern des Main greift einem ans Herz. Da werfe ich einen kritischen Blick zurück auf mein Leben, obgleich das ja laut FAZ-Meinung gar nicht zu erklären ist, es sei denn, man schaut bei Freud und Dostojewski nach und verkürzt das Ganze auf die Leitartikel-Einfalt, für die es eben nur Täter und Opfer gibt und Täter sind immer die anderen. Ein Halbjahrhundert lang stilisierte man die eigenen Täter zu Opfern. Plötzlich bricht der Jüngste Tag an.
Während die FAZ ihre Kapital-Apologie von der Gründung an betrieb, verlor Neues Deutschland 1989/90 seine gegenteilige Funktion. Da ich nicht nachtragend bin, ließ ich mich auf eine gewisse Nähe ein. Drei Jahrzehnte früher hatte Karl Gerold mich um Mitarbeit bei der Frankfurter Rundschau gebeten. Diese Nähe endete mit der Wiedervereinigung. Freie Autoren sind wetterabhängig? Es steht mehr auf dem Spiel. Reich-Ranicki stieß bei seiner Rückkehr aus Polen in Zeit, Welt, FAZ auf real oder psychisch überlebende Ritterkreuzträger, die ihm wenig behagten. Joachim Fest führte den Widerstrebenden gar in die Arme des adolfinischen Blutsbruders Albert Speer, wie Marcel hinterher anzumerken wusste. Weshalb sollte ich dann meine Ansichten nicht im ND vertreten, wo ich ja nicht auf Meinungsritter wie Fest, Speer, Sieburg treffen würde? Mein neuer Platz zwischen lange gemiedenen und entbehrten roten Genossen erfreute und belebte meine solidaritätsbedürftige sächsische Seele.
Nach einem Dutzend Jahren erlahmte meine freie Mitarbeiterschaft bis auf gelegentliche Gast­kommentare. 2007 schlug der neue ND-Chef­redakteur Jürgen Reents ein Frage- und Antwort-Buch vor, wie es schon mit Markus Wolf und Hermann Kant zustande gekommen war. Kurz nach unserem ersten Gespräch gab es eine Unterbrechung. In der Klinik klärte man mich auf über zwei zurückliegende Herzinfarkte. Bevor der dritte kommt, machst du Schluss, überlegte ich und erfuhr von Gregor Gysi, er hatte eine komplizierte Kopf-Operation und drei Herzinfarkte hinter sich gebracht. Das spornte mich trotz meines höheren Alters an und ich beschloss, weiter den Methusalem zu spielen. Also stand ich auf und Jürgen Reents wieder Rede und Antwort.
Wir finden, unser Buch kann sich sehen lassen, auch wenn der Titel Weder Kain noch Abel nicht gerade dem gewohnten marxistischen Vokabular zuzurechnen sein mag. Abgesehen davon, ich hatte über die beiden biblischen Brüder schon von der Kanzel gepredigt, in kirchlichen Akademien gelesen, auf Kirchentagen die braven Gläubigen so provoziert wie gestreichelt, dass mir der Titel ans Herz wuchs und zudem eine frohe Botschaft enthält: Der weiterentwickelte Marx führt zur materialisierten Dreieinigkeit von Christentum, Judentum und Islam. Ein den Mord verweigernder Kain und der die Opferrolle sabotierende Abel sagen dem Krieg den Kampf an. (Ernst Bloch:»Kampf, nicht Krieg«) Unterscheiden die Christen zwischen Hölle und Erlösung, die Marxisten zwischen Kapitalismus und Kommunismus, so bieten Blochianer ein drittes duales System: Auf die erste Phase der humoristischen Revolte folgt die zweite Phase der pazifistischen Revolution. Mit weniger geben wir uns gar nicht mehr ab. Da sind wir Pazifisten militant und totalitär.
Auf eine Jürgen-Reents-Frage nach meiner Erzählung Der Maulwurf steht im Buch als Antwort: »Ich schrieb sie 1955 noch in der DDR, konnte sie aber erst 1964 als Hardcover in einem Schweizer Verlag veröffentlichen. Zuvor hatte ich eine Menge verlegener Absagen westdeutscher Verlage erhalten; 1968 fand sich mit dtv ein Taschenbuchverlag in der Bundesrepublik, der sie nachdruckte. Damals trug ich bei meinen Lesungen oft daraus vor, gab es aber bald auf, weil es mir als kriegerische Vergangenheit zu sehr an die Nieren ging. Es ist die Geschichte eines Soldaten, der ein sicherer Scharfschütze und ein noch besserer Verteidiger war. Er grub sich sein Schützenloch am schnellsten und am tiefsten, entwickelte eine bizarre Technik, die ihn vor Granaten schützte. Zum Schluss gräbt er sich unter ein Massengrab, das bricht zusammen und er verreckt trotz seiner guten Verteidigung. Als ich in Italien an der Front war, habe ich mir das so vorgestellt: Du musst um dein Leben kämpfen, das ist der Scharfschütze, und du musst dich in der Mutter Erde verkriechen, das ist der Graber, um davonzukommen. Aber du kommst nicht davon, und andere kommen nicht davon. Es ist eine Geschichte über das Soldatsein, ich selbst halte sie für meine ausdrucksstärkste. Sie ist zugleich konkret und existenziell und lässt nur eine Schlussfolgerung zu: Wir brauchen keine Kriegshelden, wir brauchen Pazifisten.«
In der DDR hatte die Erzählung 1957 bei einem Berliner Verlag erscheinen sollen, mit dem es bereits einen Vertrag gab, obwohl uns klar war, das Buch würde es seines Pazifismus wegen schwer haben. Das entfiel, weil ich das Land verlassen musste. Die anschließenden Schwierigkeiten im Westen ähnelten denen im Osten. Eine Geschichte, die den Krieg eines einzelnen Soldaten so auf die Spitze treibt, dass die totale Kriegsmethapher entsteht und der Pazifismus daraus zwingend hervorgeht, übersteigt jede Toleranz­schwelle. So ähnlich steht es in den vierzehn hochachtend ablehnenden Lektorats-Schreiben, die mir das Dilemma mitteilten. Da die Story in Weder Kain noch Abel nachzulesen ist, muss ich nicht näher erläutern, weshalb es wohl erst eines weiteren Weltkrieges bedarf, bis sich meine Antikriegs­geschichte wirklich auf einer Bühne spielen lässt. Eine Westfassung des Manuskripts, die neu von mir für Theater/Film gekürzt wurde, steigerte offenbar noch das Gift der Geschichte, wie ich bei Lesungen selbst bemerkte. Die Übelkeit, sich von Mal zu Mal steigernd, ließ mich bald einhalten. Tatsächlich verdrängte ich die Erinnerung, weil mir meine Soldatenzeit im Nachhinein immer unheimlicher, unfassbarer und fremdartiger erschien. Um mich aufzumuntern, schrieb ich die Geschichte vom alltäglichen kriegerischen Mord und Selbstmord noch einmal, jetzt aber als ironisch-satirische Shortstory. Sie hält sich unter dem Titel Nicht alles gefallen lassen seit vier Jahrzehnten als Schulbuchbestseller und schmückt jedes Jahr an die fünfzig verschiedene Schulbuch-Ausgaben für Deutsch und Religion.
Zurück zur FAZ, die wir gar nicht verlassen konnten. Anno 1983 starb Arthur Koestler, der Klassiker des zum Antikommunisten gewandelten Kommunisten. Das Koestler-Foto in der FAZ ließ mich stutzen. Im Haus-Archiv suchte ich Bilder heraus, die Koestler und mich 1966 im Münchner Hotel Bayerischer Hof zeigten. In der Tat, sie hatten die alte Koestler-Aufnahme von vor zwanzig Jahren gedruckt und mich eliminiert. Neuere Fotos des weltberühmten Autors besaßen die Dumpfmichel nicht. Doch die Freude der Redakteure, mich wegzuschneiden, lässt sich gut nachvollziehen. Die Frankfurter Rundschau hatte am 23.6.1966 das Doppelbild aus einer Stefan-Moses-Serie veröffentlicht. Am 5.3.1983 tilgte mich die FAZ und ersetzte den Namen Stefan Moses durch die Angabe »Archiv«. Denn Zwerenz durfte in der Frankfurter Allgemeinen so wenig erscheinen wie vormals im Neuen Deutschland. Es sei denn als Feindbild. Ich fühlte mich hoch geehrt. Stalin hatte seinen Genossen Trotzki auch wegretuschieren lassen. Zwar bestand zwischen dem Blatt am Main und mir nie ein genossenschaftliches Verhältnis, doch in der Abneigung ist auf die Herren Verlass, wie ich in Die Rückkehr des toten Juden nach Deutschland, Kapitel »Blinde Feindschaften« unwidersprochen nachweise. Da wir uns nun einmal unter den Feindbildern artig angepasster deutscher Zeitungen tummeln, hier gleich noch ein Plädoyer für Markus (Mischa) Wolf: Ohne die Vertreibung des jüdisch-kommunistischen Arztes und Dramatikers Friedrich Wolf aus Nazideutschland 1933 und seine Zuflucht in der Sowjetunion hätte es nach 1945 keinen DDR-Geheimdienstgeneral und nach dessen Abgang ins Private keinen Autor Markus Wolf gegeben. Der Sohn folgte dem Schriftsteller-Vater auf Umwegen. Im Verlag Das Neue Berlin erschienen Wolfs Letzte Gespräche, die Antworten kenntnisreich herausgefragt von Hans-Dieter Schütt, wobei Wolfs Tod am 9. November 2006 den vorzeitigen Endpunkt setzte. Für den 15.11. war das sechste Treffen geplant gewesen. So entstand ein Torso. Der aber hat es in sich.
Wolf begegnete ich dreimal öffentlich, einmal privat. Offiziell waren wir über Jahrzehnte hin die üblichen Feinde im Kalten Krieg. Inoffiziell lernte ich Wolfsche Agenten, Kundschafter genannt, kennen und suchte meinerseits seine Tricks auszukundschaften, wodurch ich sein kompliziertes Spiel begriff, das mit der neuen Ostpolitik der sechziger Jahre auch Teil meiner Arbeit als Autor wurde. 1975 erschien im Frankfurter S.Fischer-Verlag mein ironischer Schlüsselroman-Krimi Die Quadriga des Mischa Wo/f, auf der Bonner Pressekonferenz durch Ernst Dieter Lueg vorgestellt, später sowohl von Markus wie dem Filmemacher-Bruder Konrad Wolf verblüfft und erheitert kommentiert.
Zum ND-Pressefest im Juni 2006 saßen Wolf und ich zum letzten Mal auf dem Podium nebeneinander, er ging auf meinen damaligen Roman ein, während ich über Foto-Porst plauderte, den ich gut kannte und der einer seiner frühen Kundschafter wie für mich ein Zeuge der ingeniösen Fähigkeiten Wolfs gewesen ist. Im ND waren dann Wolfs Worte nachzulesen: »Ich hab damals nur gedacht: wo hat denn der Zwerenz das alles her?« Wie ich mich erinnere und es aus den Akten hervorgeht – als Guillaume aus der DDR in die BRD geschickt wurde, versuchte man auch mich anzuwerben, was ich sabotierte. So bin ich denn kein deutscher Agent geworden, was mich freut, denn es gab und gibt bessere Jobs, ganz ohne Führungsoffiziere und Geführte. Gleich nach der irrwitzigen Wende veröffentlichte ich eine Szene, in der Gehlen, Globke und Markus Wolf miteinander auftreten und Wolf provozierend bemerkt: »›Das vereinte Deutschland wird mich gewiss zum Chef des BND ernennen. Ich werde Ihr Nachfolger in Pullach sein. ..‹ Darauf Gehlen: ›Bei allem Respekt, Herr Generaloberst, unsere beiden Fälle sind unvergleichlich. Uns trennen Welten.‹ Darauf Wolf: ›Ich stimme Ihnen zu. Es ist Ihr Sieg.‹« Das ist so treffend wie fatal. Man lese die Memoiren jener westdeutschen Generäle und Geheimschleicher, die von Hitlers General­stabs­tischen direkt an Adenauers Seite der Remilitarisierung eilen durften. Man lese dagegen Wolfs Letzte Gespräche. Soviel exemplarisch zum bleibenden Unterschied zwischen rechts und links. Für die Linke aber ist in der Lektüre ein Genosse kennenzulernen, der Hitlers Judenmord entkam, Stalins Verbrechen mit Schmerzen zur Kenntnis nahm, Lehren daraus zog und sich endlich zum intellektuellen Vertreter jenes pluralen Dritten Weges entwickelte, der heute von China und Vietnam bis hin zu Lateinamerika versucht wird. Wolf hatte es verstanden, den eigenen Glauben seinen Kundschafter-Agenten im Ausland zu vermitteln. Wenn der Sozialismus im Maße seiner Sowjetisierung die Anziehungskraft der früheren Jahre verlor, blieben doch viele von Wolfs Leuten dem Idealismus eines Richard Sorge oder Klaus Fuchs verpflichtet und so personifizierte der Abwehrgeneral die DDR, wie sie gedacht gewesen war, ehe der Staat den Bach runterging. Gegen die entfesselten Gewalten sowie die Spätfolgen der Hitler, Stalin und Alliierten, die sich in beiden deutschen Staaten manifestierten, war auf Dauer mit Vernunft und List nicht anzukommen.
Die Lebensweisheiten des vormaligen DDR-Auslandaufklärers enthalten das Exposé eines kritisch reflektierten Sozialismus. Zugrunde liegt der schicksalhafte Antifaschismus des stets bedrohten jüdisch-deutsch-russischen Links­intellektuellen. Woraus folgt: Der Entwurzelung des revolutionären Marxismus kann widerstanden werden, wird das unendliche Palaver durch aufrechten Gang und geopluralistische Phantasie ersetzt.
Auf Seite 194 nennt Hans-Dieter Schütt den Begriff »Sklavensprache«, wohingegen Wolf schon in seinem frühen Buch Die Troika die »deutliche Sprache« hervorhebt. In der Differenz steckt der ganze Salat, denn die Geheimdienstarbeit besteht aus lauter verdeckten, also partiell geheimen Sprachen. Wolf arbeitete sich lebenslang und oft zu spät zur Klarsprache durch. Die verschiedenen Stufen jedoch erhöhen den Drang zur Entschlüsselung. Man liest und staunt: Berija hat er nie gesehen, dem kleingewachsenen Stalin mal »von oben auf seine Tonsur« geschaut. Mit dem Mielke-Hasser und -Opfer Walter Janka verstand er sich, Mielkes wegen wollte er schon 1974 fast »alles hinwerfen«. Der Pazifist in mir freut sich, ironisiert Wolf seine strahlendweiße Uniform, ich seh ihn im tv-Film noch vor mir als ordensgeschmückten Generaloberst mit hängendem Ehrendolch über der Hosentasche – das war bitter. Hans Mayers Bemerkung, die Sowjets hätten Wolf, Modrow und Ardenne am Ende zur Ablösung der »zweifellos etwas dummköpfigen Führung der SED« vorgesehen, wird als bloße Annahme interpretiert. Kontakte über Falin-Portugalow gab es, auch Mielke pflegte seine Verbindungen, der Absturz damals war nicht zu stoppen. Die Machtapparate kreisten in sich. Die letzten Intellektuellen ebenfalls. Ihre geborgte Macht zerfiel als erstes. Was von Wolf und seiner Gruppe bleibt, ist mehr und ganz anderes als seine Feinde erinnern wollen. Seine Leute brauchen nicht zu Kreuze zu kriechen, tätiger Antifaschismus besteht fort als Überlebensaufgabe. Wolfs Buch über unsere Zeit und ihre Kämpfe wie über den Sozialismus ist keineswegs das letzte Gespräch. Von den zahlreichen Einsprüchen gegen Markus Wolf ist mir lediglich Wolfgang Leonhards trotzkistische Kritik nachvollziehbar, der die Gemeinsamkeiten 1949 mit seiner Flucht aus der DDR nach Jugoslawien dementierte. Das Ende dieser Staats­sozialismen setzte für beide den fatalen Schlusspunkt.
In einem früheren Film, der gerade im Fernsehen wiederholt wurde, tönte der nachgeahmte Bombenleger Stauffenberg wiedermal: Es lebe das heilige Teutschland! Oder war es sein laut Schirrmacher tapfrer Darsteller von der US-Konkurrenzkirche. Was, zum Teufel, dachte ich, als die werten Rotarmisten mich schnell mal erschießen wollten, damals, an jenem schönen Tag im August 1944? Dachte ich an Deutschland? Oder dachte ich mit Heinrich von Kleist: »Schießt mich, ich bitt' euch in den Arsch, damit das Fell kein Loch bekommt.«? Nein, das dachte ich erst, als ich dies hier notierte. Denn die besten Sätze fallen einem meist post festum ein.
Jürgen Reents fragt beim Gespräch für das Buch Weder Kain noch Abel: »Sie sind ein bekennender Sachse?« Auf meine Antwort hin konstatiert er:»Im poetenladen, einem Internet-Portal aus Leipzig, erscheint gerade Ihr erster Online-Roman: Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte«. Folgt auf vier Seiten ein Panorama dieser poetenladen-Serie, in der ich den Sachsen gegen alle wohlfeile Schimpfe ihr verlorengegangenes ICH zurückzuholen suche. Die DDR war ein schicksalhaft erweitertes Sachsen. Wäre die Sowjetunion so mächtig gewesen wie die USA, hätte aus dem DDR-Sozialismus noch etwas werden können. Jetzt hört endlich auf mit Entschuldigungen, Heulen und Zähneklappern, dass die Gebissindustrie mit der Prothesen-Produktion nicht nachkommt und der Handel gar nicht genug Papiertaschentücher heranschaffen kann. Wir hatten, verdammt noch mal, die richtigen Ideen, aber die falschen Freunde. Der Georgier Stalin holte das sächsische Uran hinter den Ural für den Ritt auf der Bombe. Der Freistaat Sachsen bedarf, das walte Karl May, der Autonomie wie einst die Stämme der Indianer. Noch ein Wort zu Jürgen Reents, der 1983 als Bundestags­abgeordneter der Grünen nach Bonn kam. Im stern vom 27.3.08 ist dazu vermerkt: »Als er in einer Rede Kanzler Kohl scharf angreift, lässt ihn Bundestagsvicepräsident Richard Stücklen (CSU) aus dem Saal werfen. Joschka Fischer springt seinem Kollegen bei mit dem historischen Spruch: ›Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!‹
So locker solidarisch konnte Joschka reagieren, bevor er zum ministeriellen Kriegsfürsten aufstieg.
Der Lektor Walter Püschel, der sich 1956/57 dafür stark gemacht hatte, meine Maulwurf-Geschichte in der DDR zu veröffentlichen, beeindruckte mich damals mit seiner verwegenen Energie in Erwartung der Vorwürfe, ein pazifistisches Buch verantworten zu müssen. Erst heute lese ich im Internet, Püschel hatte der SED seine kurze Zeit als Siebzehnjähriger bei der Waffen-SS verschwiegen und war zur IM-Tätigkeit (von 1964 bis 1983) erpresst worden. Am 26. Dezember 2005 ist er verstorben. Dem Genossen habe ich nichts zu verübeln, denn er ist Teil der tragischen Geschichte meiner verdammten Generation Ost. Jetzt erst begreife ich den tieferen Grund, der ihn 1957 veranlasste, sich für meinen Antikriegs-Text so tapfer ins Zeug zu legen. Er war ein Wiedergutmacher, obwohl es dafür gerade bei ihm gar keine zureichende Ursache gab. Ein strahlend weißer Friedensengel über sein Grab.

Am Montag, den 29. September 2008, folgt das nächste Kapitel.

Gerhard Zwerenz   22.09.2008   
Gerhard Zwerenz
Serie
  1. Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
  2. Wird Sachsen bald chinesisch?
  3. Blick zurück und nach vorn
  4. Die große Sachsen-Koalition
  5. Von Milbradt zu Ernst Jünger
  6. Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
  7. Reise nach dem verlorenen Ich
  8. Mit Rasputin auf das Fest der Sinne
  9. Van der Lubbe und die Folgen
  10. Unser Schulfreund Karl May
  11. Hannah Arendt und die Obersturmbannführer
  12. Die Westflucht ostwärts
  13. Der Sänger, der nicht mehr singt
  14. Ich kenne nur
    Karl May und Hegel
  15. Mein Leben als Prophet
  16. Frühe Liebe mit Trauerflor
  17. Der Schatten Leo Bauers
  18. Von Unselds Gegner zu Holtzbrincks Bodyguard
  19. Karl May Petrus Enzensberger Walter Janka
  20. Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen
  21. Tanz in die zweifache Existenz
  22. General Hammersteins Schweigen
  23. Die Pleiße war mein Mississippi
  24. Im Osten verzwergt und verhunzt?
  25. Uwe Johnson geheimdienstlich
  26. Was fürchtete Uwe Johnson
  27. Frühling Zoo Buchmesse
  28. Die goldenen Leipziger Jahre
  29. Das Poeten-Projekt
  30. Der Sachsenschlag und die Folgen
  31. Blick zurück auf Wohlgesinnte
  32. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (I)
  33. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (II)
  34. Brief mit Vorspann an Erich Loest
  35. Briefwechsel mit der Welt der Literatur
  36. Die offene Wunde der Welt der Literatur
  37. Leipzig – wir kommen
  38. Terror im Systemvergleich
  39. Rachegesang und Kafkas Prophetismus
  40. Die Nostalgie der 70er Jahre
  41. Pauliner Kirche und letzte Helden
  42. Das Kickers-Abenteuer
  43. Unser Feind, die Druckwelle
  44. Samisdat in postkulturellen Zeiten
  45. So trat ich meinen Liebesdienst an …
  46. Mein Ausstieg in den Himmel
  47. Schraubenzieher im Feuchtgebiet
  48. Der Fall Filip Müller
  49. Contra und pro Genossen
  50. Wie ich dem Politbüro die Todesstrafe verdarb
  51. Frankfurter Polzei-buchmesse 1968
  52. Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
  53. Als Atheist in Fulda
  54. Parade der Wiedergänger
  55. Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
  56. Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
  57. Fragen an einen Totalitarismusforscher
  58. Meine fünf Lektionen
  59. Playmobilmachung von Harald Schmidt
  60. Freundliche Auskunft an Hauptpastor Goetze
  61. Denkfabrik am Pleißenstrand
  62. Rendezvous beim Kriegsjuristen
  63. Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
  64. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
  65. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
  66. Der Bunker ...
  67. Helmut auf allen Kanälen
  68. Leipzig anno 1956 und Berlin 2008
  69. Mit Konterrevolutionären und Trotzkisten auf dem Dritten Weg
  70. Die Sächsischen Freiheiten
  71. Zwischen Genossen und Werwölfen
  72. Zur Geschichte meiner Gedichte
  73. Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten
  74. Der Dritte Weg als Ausweg
  75. Unendliche Wende
  76. Drei Liebesgrüße für Marcel
  77. Wir lagen vor Monte Cassino
  78. Die zweifache Lust
  79. Hacks Haffner Ulbricht Tillich
  80. Mein Leben als Doppelagent
  81. Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein
  82. Vom Langen Marsch zum 3. Weg
  83. Die Differenz zwischen links und rechts
  84. Wo liegt Bad Gablenz?
  85. Quartier zwischen Helmut Schmidt und Walter Ulbricht
  86. Der 3. Weg eines Auslandssachsen
  87. Kriegsverrat, Friedensverrat und Friedenslethargie
  88. Am Anfang war das Gedicht
  89. Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
  90. Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
  91. Im Hotel Folterhochschule
  92. Brief an Ernst Bloch im Himmel
  93. Kurze Erinnerung ans Bonner Glashaus
  94. Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
  95. 94/95 Doppelserie
  96. FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller
  97. Rainer Werner Fassbinder ...
  98. Zähne zusammen­beißen ...
  99. Das Unvergessene im Blick
    1. Nachwort
Nachworte
  1. Nachwort
    siehe Folge 99
  2. Auf den Spuren des
    Günter Wallraff
  3. Online-Abenteuer mit Buch und Netz
  4. Rückschau und Vorschau aufs linke Leipzig
  5. Die Leipziger Denkschule
  6. Idylle mit Wutanfall
  7. Die digitalisierte Freiheit der Elite
  8. Der Krieg als Badekur?
  9. Wolfgang Neuss über Kurt Tucholsky
  10. Alter Sack antwortet jungem Sack
  11. Vor uns diverse Endkämpfe
  12. Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren
  13. Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
  14. Kampf der Deserteure
  15. Fritz Bauers unerwartete Rückkehr
  16. Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
  17. Als Fassbinder in die Oper gehen wollte
  18. Was zum Teufel sind Blochianer?
  19. Affentanz um die 11. Feuerbach-These
  20. Geschichten vom Geist als Stimmvieh
  21. Von Frankfurt übern Taunus ins Erzgebirge
  22. Trotz – Trotzalledem – Trotzki
  23. Der 3. Weg ist kein Mittelweg
  24. Matroschka –
    Die Mama in der Mama
  25. Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
  26. Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller
  27. Jan Robert Bloch –
    der Sohn, der aus der Kälte kam
  28. Das Buch, der Tod und der Widerspruch
  29. Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad
  30. Bloch und Nietzsche werden gegauckt ...
  31. Hölle angebohrt. Teufel raus?
  32. Zwischen Heym + Gauck
  33. Von Marx über Bloch zu Prof. Dr. Holz
  34. Kafkas Welttheater in Auerbachs Keller
  35. Die Philosophenschlacht von Leipzig
  36. Dekonstruktion oder Das Ende der Ver­spä­tung ist das Ende
  37. Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
  38. Meine Weltbühne im poetenladen
  39. Von Blochs Trotz zu Sartres Ekel
  40. Die Internationale der Postmarxisten
  41. Dies hier war Deutschland
  42. Kopfsprünge von Land zu Land und Stadt zu Stadt
  43. Einiges Land oder wem die Rache gehört
  44. Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen
  45. Macht ist ein Kriegszustand
  46. Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
  47. Damals, als ich als Boccaccio ging …
  48. Ein Traum von Aufklärung und Masturbation
  49. Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
  50. Leipzig am Meer 2013
  51. Scheintote, Untote und Überlebende
  52. Die DDR musste nicht untergehen (1)
  53. Die DDR musste nicht untergehen (2)
  54. Ein Orden fürs Morden
  55. Welche Revolution darfs denn sein?
  56. Deutschland zwischen Apartheid und Nostalgie
  57. Nietzsche dekonstruierte Gott, Bloch den Genossen Stalin
  58. Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter
  59. Von Renegaten, Trotzkisten und anderen Klassikern
  60. Die heimatlose Linke (I)
    Bloch-Oper für zwei u. mehr Stimmen
  61. Die heimatlose Linke (II)
    Ein Zwischenruf
  62. Die heimatlose Linke (III)
    Wer ist Opfer, wer Täter ...
  63. Die heimatlose Linke (IV)
    In der permanenten Revolte
  64. Wir gründen den Club der
    heimatlosen Linken
  65. Pekings große gegen Berlins kleine Mauer
  66. Links im Land der SS-Ober­sturm­bann­führer
  67. Zweifel an Horns Ende – SOKO Leipzig übernimmt?
  68. Leipzig. Kopfbahnhof
  69. Ordentlicher Dialog im Chaos
  70. Büchner und Nietzsche und wir
  71. Mit Brecht in Karthago ...
  72. Endspiel mit Luther & Biermann & Margot
  73. Die Suche nach dem anderen Marx
  74. Wer ermordete Luxemburg und Liebknecht und wer Trotzki?
  75. Vom Krieg unserer (eurer) Väter
  76. Wohin mit den späten Wellen der Nazi-Wahrheit?
  77. Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen
  78. Die Heldensöhne der Urkatastrophe
  79. Die Autobiographie zwischen
    Schein und Sein
  80. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
  81. Atlantis sendet online
  82. Zur Philosophie des Krieges
  83. Deutsche, wollt ihr ewig sterben?
  84. Der Prominentenstadl in der Krise
  85. Der Blick von unten nach oben
  86. Auf der Suche nach einer moralischen Existenz
  87. Vom Krieg gegen die Pazifisten
  88. Keine Lust aufs Rentnerdasein
  89. Von der Beschneidung bis zur
    begeh­baren Prostata
  90. Friede den Landesverrätern
    Augstein und Harich
  91. Klarstellung 1 – Der Konflikt um
    Marx und Bloch
  92. Bloch & die 56er-Opposition zwischen Philo­sophie und Verbrechen
  93. Der Kampf ums Buch
  94. Und trotzdem: Ex oriente lux
  95. Der Soldat: Held – Mörder – Heiliger – Deserteur?
  96. Der liebe Tod – Was können wir wissen?
  97. Lacht euren Herren ins Gesicht ...
  98. Die Blochianer kommen in Tanzschritten
  99. Von den Geheimlehren der Blochianer
Aufsatz