Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
Lemmers Truppe empfing mich zur Sendung mit Gebrüll. Meine These Es gibt schon wieder zu viele Nazis in Deutschland provozierte sie aufs äußerste. Der Moderator Olaf Kracht zitierte aus dem Liederschatz von Störkraft: „Blut und Ehre rettet unsre Rasse“. Der Sänger Jörg Petritsch sollte das erläutern und stammelte erbärmlich. Auf diesen groben Klotz gehörte ein grober Keil: „Jemand, der mit Sprache umgeht“, sagte ich, „und dann noch stolz darauf ist, Deutscher zu sein, sollte wenigstens eine entfernte Ahnung von deutscher Sprache und Literatur haben und nicht einen solchen Scheißdreck schreiben, das ist doch ranziger Nazismus. Ihr braucht gar keinen Hitler, ihr seid ja selber kleine Hitler.“ Band-Manager Lemmer bemühte sich, seinem Sänger beizuspringen und formulierte immerhin einige zusammenhängende Sätze. In seinen autobiographischen Aufzeichnungen schildert er die Szene in Kurzform, besonders beeindruckt durch das von mir verwendete Wort Scheißdreck. Nach meinem Wutausbruch bot ich noch während der laufenden Sendung bei nächster Gelegenheit ein Gespräch mit ihm und den um ihn versammelten Neonazis an, „Ja“, sagte er, „machen wir doch.“ Er hockte da inmitten seiner Glatzen, die auf meine Attacke hin randalierten, herumfuchtelten und fortwährend Zeter und Mordio schrien mit dem Erfolg, dass Hellmuth Karasek, der meine These von den zu vielen Nazis in Deutschland als übertrieben eingeschätzt hatte, mir nun zustimmte. Als vormaliger Napola-Schüler war er ein gebranntes Kind.
Am Ende der hektisch und hochtourig verlaufenden Diskussion rückten mir aufgeregte Neonazis bedrohlich nahe, Lemmer war nicht darunter. Wochen darauf besuchte ich ihn im Düsseldorfer Rathaus. Als ich mich beim Pförtner nach dem Weg zum Büro der rechten Fraktion erkundigte, erntete ich Erstaunen und Unmut. Lemmer wollte es gar nicht glauben, als da einer wie versprochen vor ihm auftauchte. Ich überstand als Infanterist die Schlachten von Monte Cassino, weshalb sollte ich vor Leuten wie Ihnen Angst haben? So ungefähr erläuterte ich, wie mir zumute war. Außerdem erinnerte ich mich, dass mein Freund Erich Fried es über sich gebracht hatte, den im Gefängnis einsitzenden Neonazi Michael Kühnen – eine seiner Parolen lautete: (Herbert Wehner, Willy Brandt, Volksverräter an die Wand!) – in der Zelle aufzusuchen. Zwischen dem Mordhetzer Kühnen und Lemmer gab es nun doch Unterschiede.
Weil ich in die DDR bis zu deren Ende nicht einreisen durfte, fuhr ich jetzt oft ostwärts und beobachtete die Erfolge der Jungnazis mit Grausen. In Lemmer hatte ich nun einen vor mir, der in Ost wie West zu ihren Führern zählte. Wo lagen die Ursachen dafür?
Lemmer kommt aus einem keineswegs auffälligen Milieu, der Vater Meister und Betriebsleiter, die Mutter Friseurin und Hausfrau. Der ältere Bruder schämt sich des rechten jüngeren, ändert sogar seinen Namen in Lämmer, um nicht in Verbindung mit dem braunen Schaf der Familie genannt zu werden. Zwischen Torsten Lemmers Bekenntnis „Ich hatte eine wunderschöne Kindheit“ und dem Satz 17 Zeilen weiter „Regelrecht verschlungen habe ich die Landser-Hefte“ klafft eine psychologische und logische Lücke. Oder es reicht aus, wenn erklärt wird, die Vorliebe für Kriegsschwarten und Ritterkreuzträger erbrachte die Aufmerksamkeit, nach der er gierte. Weiter: „Schon früh entwickelte ich einen Hang zur Rebellion.“ Mag sein, im rheinischen sozial-
Die Autobiographie des Aussteigers, unter welcher Flagge er segeln will, ist knapp gehalten, nicht ohne Witz und geprägt von fataler Schuldlosigkeit, die stellenweise sogar nachvollziehbar wirkt. Als der kleine Torsten lesen lernt, lernt er auch aufzufallen. Um diese Zeit waren linke Provokationen verbraucht, wer aber ein Hakenkreuz an die Wand malte, erregte die Welt. Ich unterlag einem ähnlichen Mechanismus. Als der Sänger von Störkraft in der RTL-
Wie die Faust aufs Auge passt zur deutschen Vereinigung Lemmers Satz: „Die Stimmung im Land war für uns.“ Die Medien im Land präsentierten gern originäre Nazis. Notfalls halfen Inszenierungen nach. Die Bonner Republik war selbst rechts genug inszeniert. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Herbert Czaja interessierte sich für Lemmer, der in die Gemeinschaft Junges Ostpreußen eintrat und den Vorträgen der Politprominenz von Dorothee Wilms bis Otto von Habsburg lauschte. Beim Deutschlandlied sangen Lemmer und Kumpane begeistert alle drei Strophen. So kam er zu den Republikanern und von dort zu eigenen Vereinen und immer ging's gegen Linke, die Antifa und Ausländer, Zigeuner, Schwule, Juden, Asylbewerber: „Denn der rechte Flächenbrand breitete sich schier unaufhaltsam aus ...“ das sagt der rechte Aufsteiger, als er bereits Bedenken spürt und den Weg zum Aussteiger einschlägt. Doch wie ernst ist das zu nehmen? Vor dem Versuch einer Antwort darauf müssen wir jenen Typus näher kennenlernen, den wir hier vor uns haben und der sich abhebt von der Masse klischierter Glatzen, blöder Bomberjackenträger und bestiefelter Skins. Nach dem Treffen mit Lemmer 1992 in Düsseldorf entwarf ich in einer kleinen Schrift die Szenerie des im deutschen Vereinigungsprozess auflebenden jugendlichen Nazismus, wobei einige Wesenszüge Lemmers als Grundlage für das Porträt nachwachsender Rechtsintellektueller dienten. Unter der Überschrift: „Rettungsversuche“ schrieb ich:
Der junge Mann: Er ist zwanzig, ordentlich gekleidet, mit Vorliebe für Schwarz, die Frisur kurz gehalten, doch weniger Skin als eher Mamas Liebling, das Gesicht weich, mit Ansätzen zu Charakter, der Blick gesenkt, fast schuldbewusst, dazwischen zuckt es auf, ein Anflug von Widerspruch, Versuch von Empörung, nur spurenhaft, fast als habe eine Respektsperson auf den Jungen eingewirkt, daran denkt er, bevor er aufbegehrt, so zivilisiert er sich wieder, wird brav, gibt auf höfliches Anfragen Bescheid, ja, er habe bei den jungen Nationaldemokraten mitgemacht, sich getrennt, für Deutschland sei er trotzdem und noch immer, aber beileibe kein Nazi.
So gibt er Antwort, nett, leise, beherrscht, ein lieber Nationaler, der sich Leben und Karriere nicht versauen will und nur sein Land liebt. Der zehn Jahre ältere Bruder ist ein Grüner, die Familie sozialdemokratisch-bürgerlich; er fühlt, denkt, lebt rechts und anständig, sagt er mit leiser Stimme, als wär's ein Geständnis. Der Beobachter ist ratlos, weiß nicht, sitzt die zivile Ausgabe des Skinheads vor ihm, die Tarnfigur des neuen SA-
Aber sieht der geschichtsbewusste Beobachter nicht seine aus Erfahrung und Leid stammenden Ängste in den arglosen Nachwuchs hinein? Wird der neuen deutschen Rechten ein Unrecht zugefügt, weil die alte deutsche Rechte, als Keule benutzt, dazu dient, die rechten Jungen zu prügeln?
„Warum sind Sie rechts in einem Land, das von der Rechten ins Unglück geführt wurde?“ fragt der Beobachter den Jungen. Die Antwort ist dürftig, kommt stockend, bleibt im vagen Ausdruck von Gefühlen stecken.
Der junge Mann leidet ganz ehrlich an Deutschland. Fühlt sich „als Deutscher“ benachteiligt. Rechtlos im eigenen Vaterland. Sein „Stolz auf Deutschland“ resultiert aus Unsicherheit und einem bänglichen Unterlegenheitsgefühl. Eine Atmosphäre lang andauernder Einsamkeit deutet sich an. Ein Vereinzelter sitzt da auf dem Stuhl, einer, dem niemand half, keine Schule, Familie, Partei, Kirche. So fand er die vermisste Geborgenheit in rechten Gruppen unter Kameraden, wo sie gemeinsam von großer Vergangenheit und ihren Helden schwärmen können. Was offiziell verpönt ist, ihnen verdichtet sich's zur Walhalla ihrer Idole.
Das kriminelle Reich der Vergangenheit gemeindet sie gemächlich, doch unaufhaltsam als Rächer der verlorenen Ehre des Deutschen Reiches ein. Die Demokratie erleben sie so lustlos-abstoßend wie ihre Großväter Weimar erlebt haben. Den Bundestag in Bonn verachten sie, wie der junge Adolf H. das Wiener Parlament bewertete – als Schwatzbude. So wiederholt sich der nationale Ekel als nationalistische Hybris.
Nicht die randalierenden Radaubrüder sind die wirkliche Gefahr, die aus den Köpfen der romantischen Idealisten mit ihren offenbar ewigen vaterländischen Schmalztöpfen stammt. Soweit sie überhaupt noch Argumenten geneigt, für die Vernunft erreichbar sind, dürfen sie nicht aufgegeben, muss mit ihnen gesprochen, um sie geworben und gekämpft werden, als ginge es um die Errettung einer armen Seele.
Sollte alles vergeblich sein, hilft als letztes Mittel nur eine streng begrenzte Erziehungsdiktatur.
Das also war 1993 von mir so skizziert worden. Die Frage bleibt: Sind Neonazis resozialisierbar? Hilft Repression? Wie ist ihren Anführern zu begegnen? Wie dem Typus des nachwachsenden Rechtsintellektuellen? Wer sich diesen Fragen mit dem Hochmut arroganter Besserwisserei zuwendet, hat schon verloren. Wer sie bagatellisiert, unterschätzt die stets aktuelle Wiederholungsanfälligkeit und die niedrige Abwehrschwelle des rechtsgeneigten Rechtsstaates. Am 8.11.2000 beschloss das Bundeskabinett, beim Bundesverfassungsgericht einen Antrag einzubringen, der die NPD für verfassungswidrig erklärte. Statt des Parteiverbots erwuchs daraus die Legitimierung der Partei:„ Die staatliche Exekutive selbst hatte sich über längere Zeit verfassungsfeindlich verhalten.“ (Richard Albrecht) Mit anderen Worten, das Gericht vermochte die zu verbietende Partei und die darin befindlichen geheimdienstlichen Staats-Agenten nicht zu unterscheiden. Seither schweigen die tapferen Innenminister zum Komplex ihrer Niederlage.
Scheiterten Schröder und Schily am Verbot der NPD, ist das politische Engagement des Einzelnen, der individuelle Ausstieg aus der rechtsextremen Szene gefragt.
Die Beschreibung dieses Vorgangs, der laut Lemmer für ihn bereits stattfand, liest sich in seinem Buch Rechts raus cool und flüssig. Der Mann weiß als Autor zu formulieren. Die Szenen sind dramaturgisch aufs Ende hin mit Steigerungen versehen und so knapp wie einsehbar begründet. Es beginnt mit den Bedenken bei einem Störkraft-Auftritt in Zwickau, wo anderthalbtausend herbeigeströmte Skins in nazistischer Tobsucht ausrasteten. Lemmer reagiert darauf mit Abwehr-Zynismus und registriert zugleich den Zustand der neuen Bundesländer: „Die jungen Leute rebellierten gegen alles, was ihren Eltern heilig war.“ Für diese Einsicht brauchten beamtete Akademiker Jahre. Im Kapitel Rechts-Bruch verstärkt sich die Skepsis des Autors. Kameradschaftsabende mit Filmvorführungen Jud Süß und Der ewige Jude werden bereits als „Gehirnwäsche“ empfunden. Dazu fließen jeweils Ströme von Alkohol. Besoffenheit als rechter Normalzustand. Wer's wenigstens wahrnimmt, beginnt langsam auszuheilen. Lemmer: „Was ich auf keinen Fall wollte, war selbst Opfer der Propaganda-Filme zu werden. Darum stellte ich viele Dinge, über die der aufrechte Nazi gar nicht lange nachdenkt, in Frage. Zum Beispiel alles, was mit Fremdenfeindlichkeit zu tun hat.“
Da begegnet ihm als Fee eine märchenhaft attraktive islamische Marokkanerin, die sich durch das Zusammenleben mit ihm Anfeindungen ihrer Familie einhandelt wie er von seinen früheren Kumpanen. Von jetzt ab wird er bedroht. Wir kennen diese Situation von den konsequenten Aussteigern Ingo Hasselbach und Jörg Fischer. Beide können sich nicht ungeschützt in die Öffentlichkeit wagen. Wie das bei Lemmer ist, weiß ich nicht. Das Leben eines erklärten Ex-Neonazis ist nicht einfach in der bürgerlich-sozialdemokratischen Berliner Republik, die in ihrer Unfähigkeit zur Abwehr rechtsradikaler Umtriebe immer deutlichere Züge von Weimar annimmt.
Einen Großteil dieser Folge schrieb ich 2004 im Vorwort zu Lemmers Buch Rechts raus. Ein weiterer Text wird sich anschließen. Für die Situation heute, Anfang 2009, ist zu überlegen, was sich seither verändert hat. Das politische neue Jahr beginnt am 18. Januar mit den Landtagswahlen in Hessen. Das Datum erinnert an die Bismarcksche Reichsgründung von 1871 im Spiegelsaal zu Versailles. Die Umstände sind fatal, fast analog. Es geht mit der NATO gegen die Russen und national gegen Die Linke, wie Hessens CDU-Koch lauthals verkündet. Der Sumpf treibt trübe Blasen hervor. Einer Abgeordneten wird ihre „Rosa-Luxemburg-Frisur“ verübelt und die hessische Linke als kommunistisch unterwandert definiert, als stünde Stalins Rote Armee vor der Tür. Einem Links-Politiker wird vorgeworfen, er habe „über den kommunistischen Philosophen Ernst Bloch“ promoviert. Das soll 2009 in Deutschland wieder als verderblich denunziert werden. Als Bloch 1967 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels bekam, bat man mich um den Würdigungsartikel im Börsenblatt und Prof. Maihofer hielt die Laudatio. Maihofer wurde später Bonner Innenminister. Über „Ernst Bloch – Friedenspreisträger 1967“ berichte ich in Sklavensprache und Revolte ab Seite 402. Wenn das alles im 21. Jahrhundert wieder wie zu Hitlers und Adenauers Zeiten als kommunistisch und feindlich gilt, haben die Alt- wie Neu-Nazis insofern gesiegt, als sie McCarthys Wiedergeburt in Deutschland verkörpern. Wozu unsere Mühe, einen jungen Menschen aus der rechtsextremen Asozialität zu holen, wenn provinzielle Wahlkämpfer die alten rechten Töne spucken? Die Vorfahren machten das Land judenfrei, die Nachfahren wollen es linkenfrei haben. Das hatten wir schon mal. Die SED holte Ernst Bloch an die Leipziger Karl-Marx-Universität und warf ihn wieder raus. Kochs Wahlkämpfer äffen das ein halbes Jahrhundert später ungescheut nach. Ganz wie in Sachsen, wo Bloch an der Universität vergessen bleibt, und in Chemnitz munter der Bloch-Fresser Prof. Jesse amtiert. Das vereinigte Deutschland im rasanten Rückwärtsgang?
Kopfsteinpflaster
und über deutschland leise brach herein die nacht zurück von kriegerischer reise sind wir die schlafende wacht gepflastert sind unsre straßen mit lustigen köpfen hohl man fährt drauf einigermaßen und fühlt sich wohl und lebte heine heute er spuckte in die luft wir treuen teutschen leute sind die matratzengruft (Gesänge auf dem Markt 1962) (II. Teil folgt) Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 19. Januar 2009.
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Gerhard Zwerenz
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