Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
Goethe saß darauf, als er am Ort die Szene Auerbachs Keller in Leipzig konzipierte: Zeche lustiger Gesellen. Will keiner trinken, keiner lachen? Ich will euch lehren Gesichtermachen. Der tüchtige Wirt kerbte den Stuhl und reservierte ihn für hohe Gäste zum Gesichtermachen. Nietzsche trieb vorbei. Wollte Faust 3 und 4 schreiben. Setzte sich auf den Goethe-Stuhl. Sprang euphorisiert auf und in die Stadt, wo er sich die für ihn bestimmte Lues holte. Kehrte masochistisch erleuchtet auf den berühmten Sitz zurück, entwarf den Zarathustra. Walter Ulbricht, flotter Pleißenjunge, kam, von General Mielke, der alle und jeden liebt, begleitet, zum Wirt: Den Stuhl – Genosse! Der Wirt holt das historische Künstlermöbel aus dem Séparée. Walter Ulbricht sitzt auf. Der Geist Goethes und Nietzsches erfüllt den Kellerraum. Was tun? fragte Lenin, erinnert Ulbricht sich. Mielke lässt sich ein Zarathustra-Exemplar bringen, schlägt das Buch auf und findet den Satz „… wir wissen, dass alle Dinge ewig wiederkehren und wir selbst mit, und dass wir schon einige Male dagewesen sind, und alle Dinge mit uns.“ Eine ewige Wiederkehr des Gleichen? schimpft Ulbricht, das klingt nach CIA. Sie beraten sich mit einem gewissen Schalck-Golodkowski, der verscheuert den fabulösen Stuhl über geheime Kanäle an einen amerikanischen Milliardär, der, heißt es, das hochpreisige Stück seither im atombombensicheren Bunker für die Zeit nach dem Weltuntergang aufbewahrt. So teuer kann ein Holz von der Pleiße sein. Mein Pseudonym Nr. 1 Gert Gablenz hockt in unserer alten Studentenbude im Mendelssohn-Bartholdy-Haus und schreibt seine alternative DDR-Geschichte weiter, die er in Folge 12 skizziert hatte. Jetzt strickt er einen modernen Roman daraus und der sieht so aus: Erst schaffte Prag den Visumzwang für Bundesdeutsche ab, dann schloss Warschau sich an. Die Wessis drangen, wir wissen es, übers Erzgebirge in die DDR ein, durchschwammen Oder und Neiße, landeten mit Schiffen in Rostock und Stralsund, um die Segnungen des Sozialismus genießen zu können. Die DDR rief die UNO um Hilfe, der Weltsicherheitsrat trat zusammen, Moskau protestierte in Bonn, weil die DDR nicht alle 60 Millionen Bundesbürger aufnehmen könne. Bonn müsse endlich Reformen wagen, Washington mit dem harten Dollar die weiche D-Mark stützen. Da nichts geschah. stiegen die Westdeutschen zu Hunderttausenden über die Mauer, schon gab es nur noch 30 Millionen Bundesbürger und stattdessen 47 Millionen Menschen in der DDR. Dem Chaos zu begegnen, bot Bonn die Übergabe an. Lothar de Maiziere als DDR-Ministerpräsident schloss mit sich selbst als Bonner Minister ohne Geschäftsbereich einen Deutschlandvertrag. Die ungesungene Becherhymne wurde zum Deutschlandlied, am Bundeskanzleramt wehte die Flagge mit Hammer und Zirkel, die Währungsreform gestattete den Umtausch von 10 D-Mark in 1 Ostmark, die Volksarmee schluckte die Bundeswehr und Mielke ließ alle seine U-Boote in BND, Verfassungsschutz und MAD auftauchen, so dass nur sieben unangeheuerte Westgeheimdienstler übrigblieben, und das waren Doppelagenten für CIA und KGB. Natürlich gab es einige Ungereimtheiten. Helmut Kohl musste wegen hohen Blutdrucks in ein US-Army-Lazarett. Willy Brandt fuhr zu Schiff nach Schweden und nur Lafontaine blieb im Amt, denn, so Bundespräsident Honecker: Kein Saarländer krümmt dem andern eine Locke auf dem Kahlkopf. Wirtschaftlich gesehen wirkte die Vereinigung als Konjunkturspritze. Jeder Mercedes-Porsche- und BMW- Jetzt ging alles blitzgeschwind. Das ND übernahm den stern, ein gewisser Diethelm Schröder löste wegen früherer Verdienste im Spiegel Altherausgeber Augstein ab, Egon Krenz wurde Chefredakteur von Penthouse und Reich-Ranicki von Playboy. Von einem Tag zum andern malten alle westdeutschen Wilden realsozialistisch. Inzwischen stand auch die neue Regierung mit Schalck-Golodkowski als Wirtschaftsminister, Guillaume als Innenminister, Mielke als Justizminister. Bischof Dyba wurde Botschafter beim Papst, Rita Süßmuth Bürgermeisterin von Bitterfeld, nur Stoiber blieb im Amt, um dem neusozialistischen Freistaat Bayern die gefährlichen PDS-Romantiker vom Leib zu halten. Aus Gründen der Information und Propaganda schloss er sofort ARD, ZDF und das DDR-tv zusammen zum geeinten Schwarzen Kanal. (Leitung Mühlfenzl/Schnitzler) Eine Woche danach stand vor dem Frankfurter Römer ein Marx-Engels-Denkmal. Franz Josef Strauß erhielt postum das Banner eines Helden der Arbeit und Heino durfte sich Verdienter Sänger des Volkes nennen. Um der Menschlichkeit willen verstaatlichte Minister Mittag die bundesdeutsche Industrie, damit die Arbeiter mehr Ruhepausen erhielten. Der Landwirtschaft wurden sämtliche Subventionen gestrichen, was sie automatisch kollektivierte. Umtriebige Vorsitzende der landwirtschaftlichen Genossenschaften von Pleiße und Mulde ersteigerten westdeutsche Höfe fürn Appel und zwei faule Eier. Um den Sieg des Sozialismus perfekt zu machen, löste der Schriftstellerverband der DDR den der BRD auf und nahm die Kollegen Autoren, die schon im Kapitalismus für den Sieg des Sozialismus gekämpft hatten, in den DDR-Verband auf. Wer nicht drei Zeugen für seine Verdienste um die Literatur der Arbeiterklasse vorweisen konnte, musste in den vorzeitigen Ruhestand. Vormalige DDR-Autoren, die geflüchtet oder ausgereist waren, gelangten in den Genuss geistiger Quarantäne. Präsident des gesamtdeutschen Schriftstellerverbandes wurde Goethe, Schiller Stellvertreter. Beim PEN-Klub ebenso, aber umgekehrt. Alle nicht aufgenommenen Schriftsteller bildeten freiwillige Arbeitskolonnen, die jedes westdeutsche Haus neu tapezierten. (Leitung Prof. Kurt Hager) Am Tag, an dem Genosse Harry Tisch den DGB übernahm, um ihn dem wesentlich erfolgreicheren FDGB einzuverleiben, trat der bundesdeutsche Sportbund wie ein Mann dem DDR-Sportbund bei, der sich in Lokomotive Anabolica umbenannte. Fortan wurden alle deutschen Sportler Weltmeister und Olympiasieger. Übrigens flossen vom Tag der Vereinigung an alle deutschen Ströme in umgekehrter Rlchtung, sodass Nord- und Ostsee gesundeten, während Schweiz, Österreich, Tschechoslowakei und Polen gewisse Probleme in den Quellgebieten feststellten. Sie seien aber trotzdem über die deutsche Vereinigung froh, beteuerten die ausländischen Anrainer, und alle Welt wusste, sie lebten längst von üppig gespendeten Ostmark-Krediten. Was aber tat nun die neue freie Regierung des großen Deutschland? Ganz einfach, sie rief umgehend die Monarchie aus und erklärte als einheitliches Kaiserreich Moskau den Krieg, um die Sowjetunion, das große Vaterland aller Werktätigen, endlich von der Perestroika zu befreien. Das besorgte Gorbi im Bund mit Pastor Gauck im Namen der Arbeiterklasse und ihrer unendlich siegreichen Partei. Ein Dutzend westdeutscher Dichter, die im Kollektiv den Kurzen Lehrgang der Geschichte der KPdSU studierten, übergaben der VEB-Presse eine Erklärung, wonach sie sich riesig freuten, dass es so und nicht etwa umgekehrt gekommen sei, denn: Ein Sieg der Imperialisten hätte die ganze Welt in mindestens fünfzig furchtbare Kriege und Bürgerkriege gestürzt. Von der Weltwirtschaftskrise gar nicht zu reden … Soweit die realen Phantasien des Gert Gablenz, der mich damit in Zugzwang bringt. Weil sowieso schon von Goethes Stuhl die Rede ist, fällt mir die Story von drei ehemaligen Freunden ein: Im Jahr 1956 beschlossen in Auerbachs Keller drei Männer, voll auf Chruschtschows Kurs der kommunistischen Erneuerung zu gehen. Der erste, Erich Loest, durfte dafür sieben Jahren in Bautzen brummen, der zweite, Gerhard Zwerenz, entkam in den Westen, wo er mehr als 100 Bücher schrieb und sich schließlich in den Hochtaunus zurückzog. Der dritte, Conrad Reinhold, starb 1974 an dem von ihm und seiner Frau gegründeten Frankfurter Kabarett Die Maininger. Neujahr 1989 beschlossen die drei Freunde, am 18. März im Maininger Keller eine Abschiedsvorstellung zu geben. Erich Loest reist aus Godesberg an, Gerhard Zwerenz fährt vom Feldberg runter in die Stadt. Conrad Reinhold kriegt vom Offenbacher Friedhof Freigang für eine Nacht. Denn das Trio hat beschlossen, der Welt zu geben, was sie sich verdient hat: Einen Schlag in die Fresse. Gesagt – getan. Ab dem nächsten Morgen geht jeder seines Weges. Loest streitet gegen alles, wofür er vorher stritt. Zwerenz schreibt für die permanente Revolte. Reinhold findet sein Grab in Offenbach nicht wieder und begibt sich in der Frankfurter Paulskirche zu Bette, wo schon viele Tote unruhen. Nicht zu vergessen: Jeder der drei Exil-Leipziger hatte früher schon mal auf Goethes Stuhl in Auerbachs Keller gesessen, bevor Walterchen das ruhmreiche Möbel nach Amerika verscheuern ließ. Seitdem halten wir es mit Karl Mays Indianern. Gert Gablenz schickt den 2. Teil seines Romans aus Saxanien: In diesen turbulenten Zeiten setzte es einiges Aufsehen wegen einiger Gerichtsbeschlüsse gegen verdiente Feinde des Volkes:
Doppelter Genitivbeschluss des Komitees des ZK der SED zur Wiederherstellung der Nationalhymne: Das Verbot, den Text zur Nationalhymne des Nationalpreisträgers Johannes R. Becher zu singen und zu sprechen wird mit sofortiger Wirkung aufgehoben. Der Text ist vollständig zu singen. Die Worte DEUTSCHLAND EINIG VATERLAND sind mit doppelter Lautstärke zu singen. Verstummen an dieser Stelle ist als besonders schwerwiegende Boykotthetze mit Zuchthaus nicht unter zehn Jahren zu ahnden. Der Beschluss wurde in der Vereinigten Volkskammer auf Antrag der SED mit den Stimmen von CDU/CSU, FDP, SPD, Bauernpartei. REP, NPD gefasst. Danach wurden alle Parteien in der Nationalen Front unter Absingen der Nationalhymne zusammengeschlossen. Die den Gesang verweigernde PDS wurde wegen Vaterlandsverrat zur ewigen Stummheit verurteilt. Sie heißt jetzt Die Linke und wird von Pastor Gauck definiert. Sonderanordnung Fußball: Die Nationalhymne ist vor und nach jedem Fußballspiel abzusingen. Ausgenommen bei Niederlagen, die nicht mehr vorkommen dürfen. Das Fernsehen hat die singenden Fußballer genau ins Visier zu nehmen. Spieler, die den Text nuscheln oder ein uninteressiertes Gesicht ziehen, sind solange auf die Reservebank zu setzen, bis sie dort perfekt mitsingen. Die Aufsicht darüber wird der Bild-Zeitung anvertraut. Verordnung zur Medien-Neuordnung:
Soweit also Gert Gablenz, dessen Lust an der Satire wir freien Lauf lassen mussten, um den Sancho Pansa nicht zu frustrieren. Fällt mir ein, am 17. November 1954 saß ich selbst in Auerbachs Keller auf Goethes Stuhl und feierte das Erscheinen der Weltbühne Nr IX 46 vom selbigen Tag. Neben einem Artikel von Carl Andrießen, der unter dem Titel In der Kaserne 1939 mit der Wehrmacht abrechnete, stand Der Herr Graf und die Metaphysik, meine Abrechnung mit der Bundeswehr, lange vor ihrer Aus-Geburt. Wer Lust hat, kann das per Klick und Zoom nachlesen. Eine Satire? Nein, empiristische Prophetie. Der gerade erst in Gang kommenden Bonner Armee sagte ich ihre künftigen Welt-Kriege voraus und trug dabei noch ein paar Eisensplitter vom 1945 angeblich vergangenen Krieg in Arm und Bein. Dass diese Weltbühne mir dann bald von einigen Ober-Genossen verschlossen wurde, steht auf einem anderen Blatt der Abrechnung. Bis dahin jedenfalls war die DDR für mich das bessere Deutschland. Und Goethes Stuhl stand auch noch in Auerbachs Keller. Wer darauf Platz nahm, hörte den Herrn Geheimrat flüstern. Collage in Auerbachs Keller – Büchner: Den 20.Jänner ging Lenz durchs Gebirg. Faust: Ein Sumpf zieht am Gebirge hin. Büchner: Es ist ein früher, dämmernder Abend, ein einförmiger roter Streifen am Horizont, halbfinster. Faust: Ein Sumpf zieht am Gebirge hin. Büchner: Am Tisch war Lenz wieder in guter Stimmung: man sprach von Literatur, er war auf seinem Gebiete. Die idealistische Periode fing damals an. Faust: Ein Sumpf zieht am Gebirge hin, Verpestet alles schon Errungene. Biederkopf: Es gibt keinen Sumpf! Ich war König Kurt von Sachsen! Herr Tillich, mein Nachfolger kann's beschwören! Kein Sumpf! Nirgends! Tillich: Bei Gott! Ich war weder FDJ noch Stasi. Faust: Den faulen Pfuhl auch abzuziehn, das wär' die höchste Lust – ich eröffne Freiheitsräume für Millionen, nicht sicher zwar, doch tätig frei zu wohnen. Gert Gablenz: Der will uns klonen! Faust: Grün das Gefilde fruchtbarer Landschaften. Gablenz: Das sind die Kohlschen Bekanntschaften. Büchner: Man spricht von Literatur, das ist mein Gebiet, die idealistische Periode fängt an. Da hilft nur die Flucht ins Ausland, wohl dem, der kann. Faust: Grün das Gefilde, fruchtbar Mensch und Herde und ganz behaglich auf paradiesischer Erde, da rase draußen der Sumpf herum. Biederkopf: Es gibt keinen Sumpf in Sachsen. Faust: Da rase des Sumpfes Flut bis hoch zum Bergesrand, dies ist und bleibt ein paradiesisch Land. Büchner: In der Luft ein gewaltiges Wehen, nirgends eine Spur von Menschen. Gablenz: Das Erzgebirge überm Sumpf läuft leer, ins Vogtland kommt kein Zuzug mehr, die Hochhausbauten auf Hütten verkürzt und blühende Phantasien steil abgestürzt. Faust: Im Vorgefühl von solchem hohen Glück – Genieß' ich jetzt den höchsten Augenblick. Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn. Es darf die Spur von unsern Erdentagen nicht in Krieg und Krisen untergehn. Von Goethes Faust auf unsere futuristische Gegenwart zurückgebracht erfahren wir, der historische Goethe- Ein weiteres Nachwort ist für Montag, den 06.09.2010, geplant.
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Gerhard Zwerenz
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