Unwillkürlich erinnerte ich mich da an Alfred Dregger, der im Bundestag einen Diskutanten aufforderte, lauter zu sprechen, denn er höre schwer, weil im Weltkrieg zu viele Granaten, dicht um ihn explodierend, seine Ohren schädigten. Zugegeben, die Parallele klingt ziemlich bösartig, was aber, wenn so etwas für alle zutrifft, die Bomben und Granaten übererlebten? Was ging da bei uns »durch das Genick bis ins Gehirn«? Mögen ganze Kriegsgenerationen bis ans Ende ihrer Tage geschädigt sein, den Gag, hier auf den Hauptmann a. D. als Sprecher der Stahlhelmfraktion im Bonner Bundestag zu verweisen, kann ich mir nicht verkneifen. Doch die Sache wiegt schwerer. In Die Rückkehr des toten Juden nach Deutschland, München 1986, suchte ich die Fakten zu ergründen:
»Da es uns speziell um die Judenmordfrage geht, untersuchen wir den Fall nur in moralischer Hinsicht, und das heißt, wir versuchen zu begreifen, was intelligente Menschen wie Mende, Strauß, Dregger dazu bringt, ohne innere Konflikte ihre eigene Soldatenehre für unbefleckt halten zu können, während viele Angehörige der nachkommenden Generationen von Deutschen sich als keineswegs schuldlos empfinden.
Dies Paradoxon eben förderte der Fassbinder-Konflikt, neben vielem anderen, zutage: Zwanzig- und dreißigjährige Deutsche fühlen sich schuldig an Hitler, an den Naziverbrechen, am Holocaust. Von den über Sechzigjährigen aber, die doch mitmarschiert sind, hören wir auffallend wenig Schuldeingeständnisse: Die Namen der genannten Politiker stehen für die trutzige Haltung der Verweigerung. Man nimmt natürlich teil an den allgemeinen Verbalritualen der Verdammung des damaligen Führers und Oberbefehlshabers der Wehrmacht, doch indem alle Schuld auf diesen einzigen Hitler abgewälzt wird, bleibt man selbst mit seiner Kriegsteilnahme von den Verbrechen unbetroffen und grenzt die eigene Kriegsteilhaberschaft aus den kriminellen Bereichen der Nazidiktatur aus. Es ist tatsächlich, als wären zwei verschiedene, voneinander getrennte Kriege geführt worden: Krieg Nummer eins – dabei verübte Hitler mit seinen Nazis seine Verbrechen, Krieg Nummer zwei – bei dem seien die Teilnehmer aufrechte, schuldlose, tapfer kämpfende Deutsche geblieben.
Halten wir uns die Dinge so deutlich vor Augen, erscheinen sie in einem Licht, das es in Wirklichkeit nicht gibt. Es wäre auch falsch, die Ursache der Schizophrenie lediglich in charakterlichen Defekten der Betroffenen zu suchen. Vielmehr handelt es sich darum, dass zwei unterschiedliche Haltungen aufeinanderstoßen. Bedingt durch die Weltlage, die die Chance bot, trotz des Drecks am Stecken umzusteigen und erneut Karriere zu machen, waren die entsprechenden Männer nicht prinzipienlos genug, als dass sie sich restlos hätten wenden und verwandeln lassen können. Eben weil sie danach verlangten, als Nichtschuldige und insofern als Unschuldige an Hitlers Verbrechen zu gelten, wiewohl sie daran beteiligt gewesen waren, bedurften sie entlastender Hilfskonstruktionen: Sollten sie jetzt den vordem feindlichen Westen gegen die Sowjets verteidigen, war es nur recht und billig, zu konstatieren, dass ihre Teilnahme an Hitlers Krieg gegen die Sowjetunion richtig gewesen sei.
Indem ihnen dies zugestanden wurde, sprachen sie sich selbst jene Schuldlosigkeit zu, derer sie bedurften, um sich nicht nur zu reaktivieren, sondern dabei auch als geachtete Bündnispartner fühlen zu können.
Die neue Indienstnahme setzte voraus, dass für die vorherige Generalabsolution erteilt wurde, womit die politische Geschichtslüge zur moralischen Lebenslüge einer ganzen Generation avancierte und die Energie ihres Auftretens der aufgewendeten Verdrängung entsprach. Darin allerdings waren sie geübt, denn die Intelligenteren hatten ja während ihrer Offizierszeit in der Wehrmacht schon vieles verdrängen müssen, wie wir hier zu ihren Gunsten annehmen wollen, weil sich andererseits die fürchterliche Frage stellte, weshalb sie nicht in den Widerstand gegangen oder desertiert seien.
Bedenken wir die Sachlage so, wird erklärlich, weshalb die alten Wehrmachtsritter, die nach Kriegsende in die Politik oder erneut zur Fahne gingen, so unbeschädigt, guten Mutes und frohen Sinns beiseite stehen können, wenn die Schuldfrage an Massenmord und Holocaust erörtert wird. Sie haben sich vor langer Zeit schon entschieden und über die Verdrängung einen soliden Zustand völliger Unbetroffenheit erreicht, während ihre im juristischen, politischen und geschichtlichen Aspekt schuldlosen Söhne und Enkel stellvertretend Schuld auf sich nehmen.«
Um sicher zu sein, dass ich verstanden werde, zitierte ich die vorstehende Passage zwei Jahre später erneut in Soldaten sind Mörder. Was nützte es? Was brachte es an Einsicht? Was an Wirkung? Zum Volkstrauertag 1986 hielt Dregger im Bonner Bundestag die offizielle Trauerrede, in der er über die letzten Kriegsmonate sagte: »Wer sich in dieser ausweglosen Situation dafür entschieden hat … dem Kriegsgegner bis zuletzt zu widerstehen, der hat für seine Person eine ehrenvolle Wahl getroffen. Das gilt insbesondere für die Soldaten des deutschen Ostheeres, die in den letzten Monaten des Krieges die Flucht von Millionen Ostdeutschen vor der Roten Armee zu decken hatten.«
Mein Kommentar dazu lautete: Der Redner des Volkstrauertages vom Jahr 1986 schwindelt den Millionen von Toten der Jahre 1944/45 noch eine tragische Notwendigkeit ihres Todes hinterdrein. Sie mussten sterben, damit andere gerettet wurden. Ihr Tod habe einen Sinn gehabt. Jeder Tag des Ausharrens »im Osten« habe zur Rettung von Flüchtenden (vor der Roten Armee) beigetragen.
Das ist die eine Seite der Tapferkeitsmedaille, die Dregger verteilt. Die andere Seite freilich blendet er aus. Sieht nicht die toten Soldaten und Zivilisten, nicht die Opfer in den Lagern, für die jeder Tag der Kriegsverlängerung Leid, Marter, Tod brachte. Vom fortgeführten Bombenkrieg auf deutsche Städte nicht zu reden.
Das alles sieht Dregger auch 1986 nicht – und wenn er es 1945 nicht gesehen hat, so wäre er nur einer von vielen, es lohnte die Worte nicht. Uns aber wird seine Rede als Volkstrauerzeugnis im November 1986 angeboten, und außer der Blindheit, die diese Rede vom individuellen zum kollektiven Fall macht, erschreckt die dumpfe Ehrpusseligkeit: Wer bis zum letzten Tag Krieg führte, »der hat für seine Person eine ehrenhafte Wahl getroffen«.
Und wer nicht, Herr Hauptmann ?
»Wer gewisse Gesetze des Dritten Reiches respektiert hat, machte sich mitschuldig. « (Hermann Kesten)
Soweit mein Kommentar von 1988 in Soldaten sind Mörder.
Während einer der unzähligen Frankfurter Diskussionen zum Thema stand ein Schüler auf und fragte: »Ich bin Deutscher, aber lange nach Kriegsende geboren. Ist jemand hier, der mir erklären kann, worin meine Schuld besteht?«
Ihm war anzumerken, er meinte es vollkommen ernst. Er fühlte sich schuldig, und er wollte tatsächlich erfahren, warum er sich so fühlte. Immerhin verspürte der Junge das Verkehrte der Situation, in die er sich verstrickt sah. »Die Wunde schließt der Speer nur, der sie schlug.« (Richard Wagner, Parsifal)
Am Mittwoch, dem 9. Juli 2008, belehrt mich auf der FAZ- Leserbriefseite eine Professorin mit den Worten: »Der Tod Jesu war und ist notwendig«, was mich, obwohl kein Christ, mit denen etwas mitleiden lässt, denn Todesstrafe sollte nicht notwendig sein. Zur Lage in Pakistan/Afghanistan rät uns per Interview im selben Blatt ein dortiger Publizist: »Die Deutschen sollten sich nicht weigern, zu kämpfen«, was mich dazu bringt, in den Kalender zu schauen. Leben wir im Jahr 2008 oder 1944/45? Nächste Überschrift: »Streit um Gelöbnis-Absage vor dem Reichstag« und »Rot-Rot will Bundeswehr an den Rand drängen«, aha, wir leben doch im Heute, Wowereit mit seinen geheimen Rot-Rot-Panzertruppen gegen die arme Bundeswehr und deren Gründungsväter, diese demokratischen Hitler-Generäle, die sich von Adenauer taufen ließen, nachdem sie in Stalingrad den gottlosen Bolschewismus erleben mussten. Ich lese den Leitartikel: Einsatz und Verantwortung: »Bei dem, was die Streitkräfte in Deutschland dürfen, wirkt noch immer die Geschichte nach.« Das erschreckt mich. Noch immer wirkt unsere Geschichte nach? Mein ungestümes Pseudonym Gert Gablenz flüstert mir ins Ohr: Ab mit der ganzen Bundeswehr Richtung Afghanistan, wo die deutsche Geschichte nicht mehr nachwirken kann.
Wenn so viele christliche Offiziere im Widerstand gegen Hitler ihr Leben verloren hätten wie Antifaschisten, setzte es jeden Tag 3 Gedenkgottesdienste, 4 Staatsreden des Bundespräsidenten und 50 Bundesverdienstkreuze am Bande. Da man aber Hitlers General Gehlen, Judengesetzkommenator Globke, Deserteurshinrichter Filbinger und andere Lichtgestalten wie Francos Spießgesellen von der Legion Condor, jedoch keinen einzigen Kämpfer der Internationalen Brigaden im seelischen Marschgepäck mitführt, hilft man den Türken beim Kurdenjagen, dem indonesischen Militär von daheim bis Osttimor und der US-Army, wo immer es sie Krieg zu führen gelüstet. Wenn aber ein Gerhard Schröder die kriegerische Dummheit im Irak verweigert, lässt er sie mit verdeckten Hilfeleistungen bei der Aggression gleichzeitig zu, was den lieben Putin nicht hindert, den Ex-Bundeskanzler ebenso zu benutzen und zu löhnen. Die SPD aber ist eine Volkspartei.
Zugegeben, man muss sehr alt und beinah weise sein, dieses militante deutsche Christentum nicht als Perversion, sondern als ironische Meisterleistung zu erkennen. Vor den Gefahren, mich totzulachen angesichts der Folgen jener »friedlichen Revolution«, die deutsche Soldaten bis an den Hindukusch führt, flüchte ich in frühere Zeiten an die Pleiße zurück
Was heißt hier überhaupt friedliche Revolution? Was waren denn unsere unfriedlichen Revolutionen? Am schönsten finde ich das Verhalten jener tapferen Pazifisten, die in der DDR ihre friedlichen Revolutionen solange betrieben, bis der arme Staat in die Binsen ging. Von da an stimmen die bürgerrechtlichen Friedensfreunde allen westlichen Kampfhandlungen widerspruchslos zu, als seien sie die Opfer von Druckwellen geworden. Ich frage mich, was denen fehlt – Wissen und Gewissen oder nur Charakter.
Nach einer TV-Diskussion sagte mir ein teilnehmender Bundeswehrgeneral, der es schon unter Hitler zum Stabsoffizier gebracht hatte: »Bitte verübeln Sie mir nicht, dass ich Sie als jemanden einschätze, der aus dem Krieg als seelisch Beschädigter heimkehrte.«
Ich versicherte dem netten älteren Herrn, dass mir seine Gesundheit als das schwerere Leiden erscheine.
Sklavensprache XVIII
Lamettabehangene Obrigkeiten umsorgen ihre Schäfchen mit hinreißender Geduld und Umsicht. Fürsorgliche Schäferhunde umkreisen die schutzbefohlene Herde. Allwissende graue Akademieprofessoren lehren die Schafe alle Wonnen kritischer Theorien. Jedes Lamm baut seinen Doktor. Das Schlachtmesser wird durchreflektiert. Vor einem gekreuzigten Schafbock mit brechendem Blick diskutieren die studierten Lämmer die Frage, ob es sich um Christus oder Spartakus handelt. Zweitausend Jahre hindurch verfassen die gelehrten Lämmer Dissertationen und Habilitationen. Danach beginnt die ganze Chose von vorn. (Gerhard Zwerenz: Vergiß die Träume Deiner Jugend nicht Am Montag, den 28. Juli 2008, erscheint das nächste Kapitel.
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Gerhard Zwerenz
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