Zähne zusammenbeißen, auch wenn's die dritten sind
Endlich hat der Krieg die Welt verlassen. Ich robbe ans Tageslicht. Zerfetzte Bäume und niedergewalztes Gebüsch. Droben über mir und dennoch nahe genug glänzt das rollende Auge des fremden Himmels. In die östliche Richtung pirschend, lege ich lange Strecken zurück, ein einsamer Wandersmann, ein Verrückter.
Die Tränen treibt mir der Hunger in die Augen. Der Magen stülpt sich um. Zwei Stunden lang beobachte ich das starre Dorf. Nichts rührt sich. Ich schleiche zur ersten Kate. Die Tür ist geöffnet. Die Fenster sind zerschlagen. Drei Katen durchsuche ich und finde nicht einen Happen Brot. Dann stehe ich vor dem gedeckten Tisch. Er ist auf einfache Weise gedeckt. Keine Teller, keine Schüsseln. Eine eiserne Pfanne nur in der Mitte und darin, ich traue meinen Augen nicht, ein gebratenes Huhn. Ich habe es verschlungen, ich habe mich an den Tisch gesetzt und das kalte Huhn auf einen Sitz verschlungen. Als ich fertig war, ging die Tür langsam auf, und Radjonnow stakte herein. Er glotzte mich erstaunt an, sah die leere Pfanne, und eine Welle des Zorns rötete sein gutmütiges Gesicht. So wurde ich gefangengenommen. Radjonnow, dem ich mein Leben verdanke, versetzte mir einen Schlag, dass ich über den Stuhl flog. Dann führte er mich über den Hof, wo ein zweiter Soldat gerade dabei war, einer nicht mehr ganz jungen Frau die Zeit zu vertreiben. Ich wunderte mich, wo so viele Menschen plötzlich herkamen. Der Soldat ließ die Röcke der Frau fallen. Ich musste mich an die Wand stellen, die Arme heben.
Was tust du – Towaritsch? fragte Radjonnow. Der zweite Soldat hob die Pistole. Zorn zeichnete sein junges, rundes Gesicht: Umlegen – prosto – einfach, ohne Umstände umlegen – Radjonnow trat vor die Mündung. Er war blass. Du wirst dich besinnen – er ist mein Gefangener. Du hast dich mit der Frau vergnügt, und ich hab' Krieg geführt. Also gehört der Fritz mir. Das Weib beobachtete angespannt die Auseinandersetzung und packte den Soldaten am Ärmel. Das machte ihn wild, er riss sich los und fuchtelte Radjonnow mit der Waffe vor dem Gesicht herum.
Was willst du anfangen mit dem Njemse, he? Willst ihn vielleicht wegbringen – soll ich allein bleiben? Und unseren Befehl vergisst du, was? Mach ein Ende mit ihm, sag' ich dir – prosto!
Radjonnow schüttelte beharrlich den Kopf. Seine großen Ohren röteten sich: Er ist mein Gefangener – und Genosse Stalin hat befohlen, kein Gefangener darf mehr getötet werden – ponimaju?
Der Genosse Stalin – ist er vielleicht hier, was? Hier ist niemand außer uns. – Du willst dich Stalins Befehl widersetzen? Das werde ich nicht zulassen. – Wer soll dich verstehen, Wassili, noch im vorigen Monat hast du nicht danach gefragt, bei Shitomir schickten wir die Njemses in den Himmel, da warst du nicht zaghaft, Wassili. – Damals gab es den Befehl des Genossen Stalin noch nicht, sagte Radjonnow bedächtig und schlug mit kräftiger Hand eine Mücke tot, die sich auf seiner Stirn niedergelassen hatte.
Und Radjonnow führte mich unverdrossen einen ganzen Tag lang durch das sonnendurchglühte Land. Hinter uns, als wir das Dorf verließen, vergnügte sich der zweite Soldat wieder mit der Frau. Wir trotteten den Weg entlang, die nächsten Menschen trafen wir erst am Nachmittag. Es waren drei junge Polen, und ihre von Hunger und Angst ausgehöhlten Gesichter blühten auf und glänzten eifrig, als sie sich auf mich stürzten. Ich sah, dass Radjonnow sich nicht einmischen wollte, und setzte mich zur Wehr. Bald lag ich mit dem Gesicht im Dreck. Jetzt wurde es Radjonnow zu bunt, und er jagte die drei Polen zurück. Sie ballten die Fäuste und beschimpften ihn. Radjonnow fluchte und lachte glücklich. Meine Hände und mein Gesicht bluteten. Radjonnow feuerte jauchzend einen Schuss in den Himmel; so zogen wir weiter, und meine Dankbarkeit für Radjonnow wuchs ins Grenzenlose.
Allmählich füllte sich das Land. Soldaten kamen den Weg entlang. In unordentlichen Trupps marschierten sie, die Köpfe gesenkt, Staub auf den Helmen. Ein junger Soldat mit blondem Haar sang ein Lied:
Schiroka strana moja rodnaja
Als er mich sah, brach die kindliche Stimme ab. Ein Ausdruck tödlichen Schreckens trat in das Gesicht des Vorsängers:
Radjonnow, der Gütige, winkte dem Jungen zu, er sang, zögernd erst, weiter. Mit dumpfen, erstickten Stimmen fielen die anderen wieder in das Lied ein:
Ja drugoi takoi strani nje snaju,
gde tak wolno dyschet schtelowek ...
So führte Radjonnow mich die Straße hin, begleitet von Flüchen und Liedern. Ich bekam Schläge und Tritte, man schenkte mir Brot und Zigaretten, lachte mir zu und beschimpfte mich. Vor den Misshandlungen durch Panzerfahrer bewahrte mich Radjonnow. Als die rasselnden Kolosse auftauchten, verließen wir die Straße und gingen über die Felder. Dann kam das Stabsquartier in Sicht, und Radjonnow bat mich um meine Auszeichnungen. Er fluchte zufrieden und lächelnd, als ich das Blech in seine Hand legte. Er hätte mir die Orden einfach abreißen können, aber er war ein stolzer Mann und bat mich darum. Im Stab wurde ich einer Runde höherer Offiziere vorgeführt. Sie erkundigten sich höflich nach meinem Befinden, gaben mir Wasser zu trinken und fragten, was ich von der Sowjetunion hielte. Ich war glücklich über meine Rettung. Die Herren klopften mir wohlwollend auf die Schulter, eine Ordonnanz brachte Wodka in deutschen Kochgeschirrdeckeln. Jetzt schnippte sich jeder mit dem Zeigefinger gegen die Kehle, und einer der Offiziere rief mit hartem russischem Akzent: A votre santé! So tranken wir auf die deutsch-sowjetische Freundschaft. Hernach kamen zwei junge, freundliche Offiziere mit grünen Mützen. Sie führten mich zu einer Baumgruppe seitab vom Stabsquartier. Ich musste mich ausziehen und wurde fürchterlich verprügelt. Danach begann die Vernehmung. Ich dachte immer an Wassili Radjonnow, der jetzt wieder unterwegs war zur Front und der mich hätte töten können. Die Dankbarkeit ließ mich die Schläge kaum spüren. Was sind schon ein paar Hiebe, wenn dir ein Mensch dein Leben geschenkt hat. Ich sang das Lied der in den Kampf ziehenden russischen Soldaten, die ihr Vaterland priesen :
Ja drugoe takoi strani nje snaju gde tak wolno dyschet schtelowek. .. Ich weiß kein andres Land auf Erden, Wo das Herz so frei dem Menschen schlägt. ..
Als es vorbei war, brachte mir ein Muschik ein Kochgeschirr voll Wasser. Ich spuckte meine Zähne ins Gras, trank das Wasser, blickte in den geröteten Himmel und sprach: Welch ein Glück, ich hab' diesen Krieg überstanden !
Das geschah im August 1944.
Karl Mays Abenteuer-Romane spielen von Amerika bis in die Schluchten des Balkan. Meine Bücher, ebenso sächsisch, spielen in Kopf und Bauch und im Exil. Wenn ich drei davon nennen sollte, verzählte ich mich, weil etwa hundert Stück zur Verfügung stehen. Was also auswählen? Das Großelternkind? Oder Kopf und Bauch – die Geschichte eines Arbeiters, der unter die Intellektuellen gefallen ist? Vielleicht Casanova oder der Kleine Herr in Krieg und Frieden? Die drei Titel sind der Entschlüsselung bedürfende Hieroglyphen. Mir fallen noch einige Geheimbotschaften ein: 1. Sklavensprache und Revolte – Der Bloch-Kreis und seine Feinde in Ost und West von Ingrid Z. und mir. Ein 2. Band sollte folgen und ging über die intellektuelle Hutschnur. Der Verlag bekam kalte Füße. Das bleibt ein Projekt der Hoffnung wie die Jungfrau Maria nach Gottes Besuch. Dann gibt es Gute Witwen weinen nicht über Tucholskys Tod in Schweden. Endlich als luzider Krimi Der Bunker, in dem Kettenraucher Helmut Schmidt nach dem Atomkrieg Deutschland bereist – wir sind untergegangen und leben virtuell weiter, bis der Mann im Mond bemerkt, der Erdball wird von lauter Scheintoten belebt.
Nun ein Original-Taschenbuch: Der Mann der seinen Bruder rächte. Hier leistete, ich gebe es zu, mein Landsmann May Schützenhilfe in den Schluchten von Rhein-Main. Und so schreibt sich einer durchs Leben.
Schlussbemerkung: Im Verlag das Neue Berlin erschien ein Bändchen von Jürgen Reents, der mich über mich befragte. Titel: Weder Kain noch Abel. Wer will hier Kain, wer Abel sein? Inzwischen fielen mir noch ein paar Antworten ein, aktuell abzurufen im www.poetenladen.de. Unter dem Titel: Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte, dies hier ist von 99 Fragmenten das vorletzte.
Im Moment ist die Pleiße bei uns zu Besuch und befragt mich wegen der Leipziger Vergangenheit. Ich werde die Dame nach Chemnitz schicken, sich beim Marx-Nischel zu erkundigen, wie ihm das Völkerschlachtdenkmal gefällt. Dazu spende ich eine Fußnote. Das ist natürlich alles eine fantastische Comic-Serie ohne tiefere Bedeutung. Es geht nicht um drei oder sechs Bände. Meine ca. 100 Bücher sind Lebensprotokolle vom 20. Jahrhundert, im Widerspruch geschrieben für die Überlebenden des 3. Weltkrieges, damit noch das letzte Marsmännchen weiß, wie alles begann und endete und warum nur sieben mit Originalpleißenwasser getaufte Sachsen das Desaster überstanden. An den Ufern unseres sächsischen Mississippi wird der Mensch methusalemisch imprägniert. Bleibt das aparte Geheimnis sächsischer Produktivität zu enthüllen – die Pleiße selbst. Goethe, Napoleon, Karl May, Walter Ulbricht, Friedrich Nietzsche und Richard Wagner badeten darin. Und alle alle entwickelten sich zu den von Karl May erfundenen Indianern. Man muss Spuren lesen lernen. Was ist die Quelle von Lourdes gegen unser Pleißenwasser? Meine bescheidenen 100 Bücher bilden die Bibliothek der Endzeit. Gott ist tot, lehrte der Sachse Nietzsche. So protokollierte ich zumindest seine letzten Spuren im Sand der Urstromtäler. Wenn unser Pastorensohn recht hat, woran kein Zweifel besteht, bieten meine 100 Zwerenziana den Grundstock an Druckwerken für jene humoristische Revolte, die zur pazifistischen Revolution führt. Merke: Erst lachen, dann entwaffnen. So will's die Filosofie vom 3. Weg.
Jedes meiner 100 Bücher enthält einen Satz als Quersumme. Das sage ich als vor Nüchternheit klirrender Sachse. Mit einem Schluck aus der Romantik-Pulle nenne ich es glattweg Buchgeist, das ist sowas wie der erzgebirgische Berggeist, der sich In Kopf und Bauch auf Seite 111 befindet: „Geschichte verstehe ich als Entwicklung zu Tod und Untergang.“ Das ist keine Floskel. Das ist die Kriegserkenntnis des Infanteristen Schütze Arsch im letzten Glied.
Der Satz aus dem Buch von 1971 hätte schon 1956 über meiner Erzählung Der Maulwurf stehen können. Die Wurzel, das Kriegserleben, ist identisch. Als ich Wolfgang Harich bei einem Treffen in Berlin so en passant die Maulwurf-Story entwickelte, verwies er sofort auf Blochs Versuche einer marxistischen Seinslehre, in der Anthropologie und Ontologie aneinanderrückten. In der Tat ist mein Maulwurf Prototyp und Archetyp des Kriegers, ein entjüngerter Jüngerscher Gladiator des bürgerlichen Seins, das in dieser Geschichte zur kriegführenden Totgeburt eskaliert. In Japan wird die Story im Deutschunterricht genutzt. Man versteht dort den Subtext. Das verstand sogar der vormalige DDR-Buchminister, wenn auch zu spät.
In Kopf und Bauch ist dem ersten Satz der Quersumme ein zweiter angefügt: „Fasziniert hat mich deshalb an Blochs Hoffnungsphilosophie, dass ich darin ein Instrumentarium gefunden zu haben glaubte, mit dem sich Untergang und Tod etwas hinauszögern ließen.“
Dieser Hoffnungsschimmer wurde zwar sichtbar, doch glaubte ich nicht an die Realisierbarkeit. So tat ich etwas, das man nicht tut: Ich verfasste eine Gebrauchsanweisung für den Roman und ließ sie vorn auf den Umschlag drucken. Erstaunlicherweise brachte es Kopf und Bauch trotz seiner rotzigen extremen Machart als TB immerhin auf eine Hunderttausender Auflage. Spätere Ausgaben ersetzten den Cover-Text durch avantgardistische Grafiken, die mir adäquat erscheinen und gefallen. Die verbale Botschaft aber fehlt mir zur Verdeutlichung. Kurz zusammengefasst lautet sie: Der Linken nach Lenin und Trotzki droht das vorzeitige Ende in Vereinzelung, ein Tod in Venedig eben, wie im Buch vorgeführt. Eine Welt ohne Linke aber wird eine statisch rechte Welt sein. Endzeit mündet in Ende ohne Zeit, also Zeitende. Menschenende.
Frühe Verluste: Zur Großmutter auf dem Dorf sagte ich Mutter und dachte, sie wäre es. Sie war es für mich. Bevor ich erfuhr, die Kinder kämen aus dem Bauch der Mutter, erzählte man mir, die Kinder brächte ein großer Vogel mit Namen Storch. Das interessierte mich wenig. Ich wollte nicht wissen, woher ich gekommen war. Ich wollte wissen, wo ich mich befand. Ich befand mich die ersten sechs Jahre meines Lebens bei einer Frau, die ich Mutter nannte, obwohl sie meine Großmutter war. Die Tochter der Großmutter nahm mich heimlich beiseite und belehrte mich eindringlichst: Ich bin deine Mutter!
Es war nicht glaubhaft.
Möglicherweise hatte mich der Storch damals zu dieser seltsamen fremden jungen Frau gebracht. So ein Vogel kann sich schließlich irren.
Falls aber die Kinder aus den Bäuchen der Frauen stammen sollten, so wäre es unvorstellbar, dass ich aus dem Bauch dieser Frau gekommen sein sollte, die sich mir als meine Mutter aufredete, obgleich doch jeder Mensch wusste, meine Mutter war wer ganz anderes. Meine Mutter war die gute Frau vom Dorf. Im Haus neben der Kirche lebend, wo ich ebenfalls lebte, seit ich aufgewacht war aus dem großen Schlaf des Anfangs.
Komischerweise begann die fremde Frau, die sich als Mutter bezeichnete, Tränen zu vergießen, wenn ich die Dinge richtigstellte und es ablehnte, sie Mutter zu nennen. Mama – nun ja, den Namen konnte sie haben. Er bedeutete mir ohnehin nichts. Mit Mama konnte ich wenig anfangen. Mama war eine fremde Person, die mich am Sonnabendnachmittag bei der Mutter abholte. Anfangs im Kinderwagen. Die reinste Entführung. Ich wurde gezwungen, das Wochenende in der fremden Wohnung bei Mama und einem Mann namens Papa zu verbringen.
Ich fand die beiden merkwürdig und war heilfroh, am Sonntagabend wieder bei der Mutter abgeliefert zu werden: Die unholden Menschen namens Mama und Papa mussten am Montagmorgen sehr früh aufstehen und zur Arbeit gehen. Eine lächerliche Art zu leben.
Mutter ging morgens nie zur Arbeit. Sie verließ das gemeinsame Bett, um in dem eisernen Etagenofen Feuer zu machen. Kroch danach zurück zu mir unter die Zudecke. Bis wir aufstanden und frühstückten.
Nichts auf der ganzen Welt, die so weit reichte wie mein Blick, kam der Wärme der Mutter auch nur nahe.
Wie hab' ich dumm geguckt, als ich verstehen musste, meine Mutter war meine Großmutter, meine Mutterliebe Großmutterliebe. Lange hab' ich mich geweigert, das zu akzeptieren.
Im Alter von zwei Jahren nahm mich meine Großmutter-Mutter an die Hand und wir gingen ums Haus. Im Vorgarten des Nachbarn umringten Frauen einen an die Sonne geschobenen Kinderwagen mit einem Neugeborenen. Wir näherten uns. Als meine Mutter sich über das Baby beugte, verlor ich ihre Hand. Ein unbeschreiblicher Schmerz explodierte in mir. Allein, verlassen stand ich in der Welt, die Ahnung durchzuckte mich, dass es nie mehr anders werden würde. Eine Nachbarsfrau beugte sich über mich. Was ist? Was hast du? Sie lachte hell auf. Hast Angst? Du hast Angst, ja? Deine Mutter kann sich nicht mehr um dich kümmern, sie hat jetzt ein anderes kleines Kind. Siehst du? Ich sah die Gestalt meiner Mutter, vom kalten Licht umflossen, gebeugt über den Kinderwagen. Die Szene schrieb sich in mein Herz ein. Jedesmal in meinem Leben, wenn ein Verlust drohte, spürte ich den Schmerz an der gleichen Stelle. Bis es gelang, mir die dummen Worte der Nachbarin ins Gedächtnis zu rufen. Sie sprach genau aus, was Ich fühlte. Lieh mir Sprache, die ich selbst noch nicht besaß. So erinnere ich mich als Erwachsener an meinen ersten frühen Eifersuchtsschmerz.
Die hinterlassenen 100 Bücher können vergessen werden als gäbe es die Warnung nicht. Ich schob sie in die Lücke zwischen den Literaturen Ost und West als 3. Literatur für den Fall, dass sich im Zeitalter intellektuellen Analphabetentums doch noch widerstehende Leselustleser finden sollten.
Das Fußende des Bettes, in dem ich geboren wurde, stieß gegen eine Truhe voller Bücher. Als ich sieben Jahre zählte, wurden sie verfolgt und sollten verbrannt werden. Ich vergaß sie nie. Hab sie wieder und wieder heimlich gelesen. Und ein paar dazugeschrieben, so gut ich's eben vermochte.
Drohende Verluste verlebendigen uns. Aus Enttäuschungen und Niederlagen schöpfen wir verborgene Kräfte. Was ich verliere, stärkt mich. So gehe ich nie verloren. Das nennen wir, nebenbei bemerkt, Wiedergeburt, d. h. erneuerte Seelenenergie.
Politik ist, verdammt noch mal, unser Schicksal geworden. Du hast einen Freund. Der wird Minister. Schon ist er dein Feind. Du haderst mit dem Schicksal. Du selbst bist dein Schicksal. Die Kanzlerin sagt, sie sei es für alle Bürger. Die Ministerpräsidenten von Sachsen sagten es nie für alle Sachsen. Mit den Christen regierte einer erst allein, dann ging's mit der SPD, dann mit der FDP. Bleiben die Linken übrig. Warum keine Versuche mit Rot & Schwarz? So heißt ein Roman von Marie-Henri Beyle, der sich Stendhal nannte. Herr Tillich erprobte seine Karriere in der einstigen Nationalen Front. Als einer der ältesten Sachsen, ein Methusalem aus der Schar exilierter Sachsendichter schlage ich statt der früheren Nationalen Front eine Internationale Reformationsfront vor. Meine lieben Genossen im antifaschistischen Geiste werden das Experiment gewiss riskieren. Sie sind in ihrer Selbstanalyse längst so weit vorangekommen wie andere mit ihrer verlegenen Schweigsamkeit, wo nicht Verleugnung sich verweigern. Es ist Zeit für Freundschaften in bisher ungeahnten Ausmaßen. Immer bereit? Seit dem Russischen Oktober 1917 muss jede Revolution, wo und wann auch immer, ein Stücklein Weltrevolution sein oder alles führt zurück zu den alten Todfeindschaften. Die tapfren Russen allein schafften es nicht, ihr siegreicher Oktober versank in der Feindschaft. Wenn auf Dauer nichts daraus wurde, was wird dann, fragen wir uns nachdenklich, aus der großen friedlichen Revolution der DDR von 1989? Der polnische Weltweise und Hirn-Akrobat Stanislaw Jerzy Lec notierte: Endlich bist du mit dem Kopf durch die Wand. Und was fängst du nun an in der Nachbarzelle?
Wenn ich erlebe, wie unsere politische Elite samt Schreibtischgeistern maulheldenhaft dem Rest der Welt Freiheit und Democracy beibringen will als hätte Brecht nicht längst das letzte Wort dazu gesprochen, fällt mir ein, wie schäbig das westliche Deutschland vom Dritten Reich zur Bonner Republik mutierte. Was immer gegen Stalinisten zu sagen ist – ohne Rote Armee liefen die Nachkommen unserer Hitler-Adenauer-Generäle und -Leutnante, die den Wechsel weniger zur Läuterung als zum Karrieresprung zu nutzen wussten, in schnieken SA-, SS-, HJ- und Wehrmachtsklamotten herum. Wer sonst hätte den großdeutschen Helden über vier entsetzlich lange Jahre widerstehen können als der entfesselte russische Zorn, der mit T34 und Stalinorgeln in die aufgezwungene Schlacht zog.
„Und ein Wind aus den Ruinen
Sang die Totenmesse ihnen, Die dereinst gesessen hatten Hier in Häusern. Große Ratten Schlüpften aus gestürzten Gassen, Folgend diesem Zug in Massen. Hoch die Freiheit, piepsten sie, Freiheit und Democracy!“ (Bertolt Brecht Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 26.10.2009.
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Gerhard Zwerenz
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