Im Hotel Folterhochschule Am 1.1.2009 starb Johannes Mario Simmel. Ihm waren seit Jahren die Leser weggeblieben wie seiner SPD die Wähler. Simmels Pessimismus hatte am Schluss tröstliche Züge. Wenn ein Achtzigjähriger die Menschheit trotz aller seiner früheren Mühen schließlich resignierend als Fehlkonstruktion der Natur einschätzt und das baldige Ende der Tierart Mensch erwartet, verliert der einzelne, auch der eigene Tod seinen Schrecken. Die Menschheit in ihrem Drang zur kollektiven Vernichtung wird ja bald nachfolgen. Auf Wiedersehen im Himmel oder in der Hölle. Was allerdings der schrecklichste aller Schrecken sein müsste für einen Mann wie Simmel. Am 4. Januar, vier Tage nach Simmels Ableben stand in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: „Am Ende kommen Touristen – An der ›School of the Americas‹ in Panama lernten lateinamerikanische Militärs das Foltern – heute ist das Gebäude ein Urlaubshotel“. Gute Nacht im Folterhaus? Von der Folterhochschule ins Luxusdaunenbett? Der Fortschritt heißt uns hoffen. Im FAS- Artikel heißt es instruktiv: „Hier im Fort Gullick hat die US-Armee bis 1984 lateinamerikanische Sicherheitskräfte ausgebildet, um sie für den Kampf gegen Kommunisten zu wappnen, der Ort ist besser bekannt als ›School of the Americas‹ und noch heute Synonym für die unfassbare Gewalt, die Lateinamerika, dank der paranoiden Hinterhofpolitik der jeweiligen US-Administrationen während des Kalten Krieges heimgesucht hat. Insgesamt durchliefen mehr als 60.000 Militärs und Polizisten das Training. Über Jahrzehnte wurden hier Folter, Hinrichtungen und Verhörtechniken gelehrt, wie das amerikanische Verteidigungsministerium 1996 eingestand. Die Liste berüchtigter Absolventen ist lang. Diktatoren und Putschisten wie der argentinische Präsident Leopoldo Galtieri, der in den siebziger Jahren viele tausend Menschen verschwinden ließ, Roberto D'Aubuisson, dessen Todesschwadronen in El Salvador Tausende getötet haben, oder Panamas ehemaliger Militärherrscher Manuel Noriega, der sich in den achtziger Jahren von den Vereinigten Staaten distanzierte, 1989 bei der US-Invasion in Panama gefasst wurde und heute wegen Drogenhandels und Geldwäsche in Florida einsitzt. Jetzt also ein Hotel.“
Wie kommt ausgerechnet die FAS dazu, so radikal und despektierlich über die Folter- und Mordhochschule der US-amerikanischen NATO-Bündnisfreunde zu schreiben? Rutschten die Fakten nur mal so im Reiseblatt der Zeitung durch, wo so etwas schon mal passieren kann, wenn die Chefs gerade im Urlaub sind? Oder soll die übliche redaktionelle Sklavensprache dementiert werden? Dafür wäre es allerdings zu spät. Als die Bush-Folter flott praktiziert wurde, schwieg man bündnisfromm dazu. Seit die Herrschaft wechselte, ist leichter darüber zu schreiben. Sklavensprache vorübergehend dispensiert? Das gehört zur Semantik der Postmoderne im Strudel vielfältiger Untergänge.
Nun folterten und mordeten die kommunistischen Feinde ja auch, besonders gern die eigenen Genossen, wie wir aus der ersten Nachkriegszeit in Ungarn (Rajk) und der Tschechoslowakei (Slansky) wissen. Das geschah allerdings in den vierziger/fünfziger Jahren. Die US-Operationen unterwarfen Chile und den südamerikanischen Halbkontinent noch bis zuletzt mit Hilfe blutsäuferischer Diktatoren, mit denen verglichen selbst Ivan der Schreckliche ein Waisenknabe war.
Alle diese Informationen sind nicht neu. Man lese E. A. Rauters Folter in Geschichte und Gegenwart von Nero bis Pinochet , 1988 im Eichborn Verlag, ursprünglich Folter-Lexikon, 1969 Konkret-Verlag, noch ursprünglicher Abdrucke in der Zeitschrift konkret. Damals wollte die Bourgeoisie von Bild bis FAZ davon keinerlei Kenntnis nehmen. Wenn Freunde foltern und morden wie massenmorden, schweigt der Verbündeten Höflichkeit.
Wenn wir damaligen Ex-Kommunisten in den Westen flüchteten und mit unserer Partei abrechneten, waren wir hier gern gesehen. Nannten wir die Untaten der freien Welt beim Namen, stießen wir nicht auf Wohlwollen. Die Herren vom Kapital wagen erst Jahrzehnte später den publizistischen Schleier über ihren Folterbänken und Gräbern zu lüften. Unterdessen ist der Fortschritt soweit fortgeschritten, dass Dürers Ritter, Tod und Teufel empirisch als Krieg, Mord, Folter völlig legalisiert worden sind, wozu es feuilletonistische Randglossen gibt oder versehentliche Eingeständnisse in Reisebeilagen. Die Folterschule als Luxushotel vermittelt prickelnde Schauer wie der Besuch uralter Burgen, wo Streckbänke und Eiserne Jungfrauen zu besichtigen sind, die Kulturgüter der Zeit eben.
Klaus Rainer Röhl, Chefredakteur des damaligen konkret könnte heute stolz auf seine frühen Verdienste um die Freiheit des Wortes verweisen. Er wechselte die Fronten. Aus links wird rechts, das ist deutsche Tradition. Außerdem ist es schön christlich. Im Namen ihres erzpazifistischen Sozialrevolutionärs Jesus Christus häufen seine Gläubigen seit 2000 Jahren Krieg auf Krieg.
Zurück zu Johannes Mario Simmels Gedanken vom baldigen Ende der Menschheit. Offenbar ist die Negativ-Utopie einer Endzeit bekömmlich fürs Seelenheil. Die Vorstellung eines planvollen Weltuntergangs beruhigt die Nerven, die Folgerichtigkeit einer ausgekochten „schwarzen Dramaturgie“ aus der flotten Feder oder dem PC eines Demiurgen bringt theatralische, also künstlerische Elemente ins Spiel, die Verbindung von Theologie und Teleologie stattet das Ganze mit der nötigen wissenschaftlichen Dogmatik aus, was der Seriosität dient. Wer endlich so geschwollen zu sprechen versteht, darf als Elite im Fernsehen auftreten. Wenn nicht nur der einzelne Mensch zur Hölle fährt, sondern ein ganzer besiedelter Erdball, verkehren sich die Fronten und Bewertungen. Vor dem totalen, kollektiven Tod verliert der Einzeltod den Horror und wird zur Erlösung. Das kann der Beginn eines melancholischen Fatalismus oder einer fanatischen Todessehnsucht sein.
Frau Merkel, die brav mit FDJ-Blauhemd in Leipzig studierte, ließ sich 20 Jahre nach der Vereinigung durch die museale Haftanstalt Hohenschönhausen führen, wo ihr von der dort praktizierten chinesischen Wasserfolter und anderen Unmenschlichkeiten erzählt wird, was sie eilfertig an Jugendliche und Erwachsene weitergibt. Warum scherte sie sich nicht zwei Jahrzehnte vor der Vereinigung, etwa als sie ohne anzuecken studieren und ihren Doktor bauen durfte, um Stasi-Häftlinge? Das wäre der Karriere nicht förderlich gewesen? Nehmen wir einen parallelen West-Fall. Jemand wird beamteter Gefängnismuseumsdirektor und verfasst in seiner Freizeit Bücher über zwei Diktaturen, von denen er keine kennt. Dafür verargt er den in dieser Diktatur Lebenden, die davon nichts bemerkten, dass sie nichts bemerkten. Kennt Knabe ein Vernichtungslager des Dritten Reiches? Gern spräche ich mit ihm über die Differenz zwischen Auschwitz und Bautzen oder Hohenschönhausen und Dachau. Wie sich bei Obamas Buchenwald-Besichtigung herausstellte, hatte laut Regierungsauskunft die ihn begleitende Bundeskanzlerin zuvor offiziell keine deutsche Nazi-KZ-Gedenkstätte aufgesucht, dafür agierte Hubertus Knabe als Merkel-Führer durch die rote Unterwelt. „Ich zeigte der Kanzlerin meine Stasi-Hölle“, sagte der Ex-Häftling Gilbert Furian und fügte an: „Hier wurden Gefangene noch bis Mitte der fünfziger Jahre von der Stasi gefoltert und brutal zusammengeschlagen.“ (bild.de Politik 5.6.2009) Diesen Satz würde ich gern öffentlich erörtern. Welcher Ex-Häftling kann ihn noch bezeugen – welcher Stasi-Offizier sagte dazu aus? Hubertus Knabe über Die Linke: „Wir dürfen sie jetzt getrost als Mauermörderpartei bezeichnen.“ Dürfen wir die SPD getrost als Luxemburg-Liebknecht-Mörderpartei und mit den Folgen auch Thälmann-Mörderpartei bezeichnen? Das Klischee ist ein Mörder aus Deutschland.
In einer tv-Diskussion wies Knabe ältere DDR-erfahrene Teilnehmer streng zurecht, weil sie seine Diktatur-Definition für ihren ehemaligen Staat nicht akzeptierten. So stand sein Vorwurf gegen existentielle Erfahrungen anderer. Nun sind mir derlei Argumente nicht fremd. Im Spiegel 2/1983, in dem ich als „unbekümmerter Außenseiter“ und „Phänomen“ bezeichnet werde, heißt es dazu: „Auch ideologisch ist er für den wendigen Literaturbetrieb eine Zumutung gewesen und bis heute geblieben. Als zu Apo-Zeiten westdeutsche Schriftsteller den Kommunismus entdeckten und, wie etwa Enzensberger, hymnisch das kubanische Modell feierten, wiederholte Zwerenz nur, was er aus Erfahrung schon Jahre zuvor gesagt hatte, dass kommunistische Staaten Diktaturen seien und er sich mit Diktaturen nun einmal nicht anfreunden könne.“
Was lehrt uns das? Wenn zwei dasselbe sagen, muss es nicht dasselbe sein. Ich hielt nicht Hymnen, sondern sozialistische Demokratisierung für notwendig, um dem drohenden Untergang zu begegnen. Rosa Luxemburgs Wort Sozialismus oder Barbarei war nicht mit einem barbarisierten Sozialismus zu entkräften. Knabes Tadel 20 Jahre nach DDR-Ende ist nichts als eine ideologisch präformierte Beleidigung von DDR-Bürgern, die ihr vergangenes Leben nicht abwerten lassen wollen.
Angesichts der signifikanten Knabe-Karriere bekenne ich meine Unzulänglichkeiten. Verließ Wehrmacht und Reich freiwillig, verlangte in der DDR solange Reformen, bis mir nur blieb, ein zweites Mal zu desertieren. Hatte in Leipzig Katyn öffentlich problematisiert und in der BRD den Luxemburg-Liebknecht-Mordhauptmann aufgescheucht. Hätte ich den Krieg bis zum Ende tüchtig mitführen, die DDR bis zu ihrem Abgang nutzen, im Westen die kritische Auseinandersetzung mit den Nazi-Verbrechern meiden und das Kapital stattdessen loben sollen? Vielleicht wäre ich gar noch Minister oder General geworden? Oder Gefängnis- Museumsdirektor, der in seiner offensichtlich reichlich bemessenen Freizeit die Freiheit mittels Leser-Folter durch seine Bücher verteidigt.
Mein Pseudonym Gert Gablenz behauptet, ich sei in einem früheren Leben Stammgast in Dostojewskis Roman Der Idiot gewesen. Kann sein, Russisch konnte ich schon. Vor kurzem Auftritt von Frau Birthler in einer RBB Fernseh-Runde. Sie labern unendlich von der 2. deutschen Diktatur, dass bald die letzte Erinnerung an die Nazi-Diktatur ersterben muss. Ohne Hitler-Armee bis kurz vor Moskau und zurück kein Sowjetsoldat in Berlin und keine DDR. Aber ja doch, der Opfer ist zu gedenken. In Plötzensee wurden in der Nacht vom 7. zum 8.September 1943 im Namen des deutschen Volkes vermittels deutscher Richter und Henker 185 Antifaschisten hingerichtet. Ab 1961 bis 1989 verloren an der Berliner Mauer 136 Menschen das Leben: Erschossen, ertrunken, verunglückt. (FAZ, 13.8.09) So etwas und noch mehr erledigte Hitlers Deutschland in einer einzigen Nacht. Das ist die Differenz zwischen der 1. und 2. Diktatur. Von der Verursachung der 2. durch die 1. abgesehen.
Das abendländische Denken befindet sich in einer Legitimationskrise. Entwicklung findet nur noch rüstungstechnisch statt. Neue Ideen sind Mangelware. Revolutionen degenerieren zu Konterrevolutionen. Die letzte Weltmacht lebt von der Restauration alten Unrechts. Unter scheinheiligen Vorspiegelungen von Entwicklungshilfe wird Entwicklung sabotiert. Unwillige Länder diszipliniert man mit Drohungen. Das Kriegsverbrechen gehört zur Taktik, der Staatsterror wird Strategie. Indessen fallen ganze Bevölkerungsteile des Westens in vor-aufklärerische Lebensweisen zurück. Die Kirchen verkommen zu Staatskirchen. Ganze Scharen neuer Götter und Hohepriester treten ans Licht, neue Religionen werden gegründet und alte mit Fundamentalismen gepanzert. Aus dem Missbrauch der Astronomie folgt ein neuer Schub astrologischer Gläubigkeit. Die Freudsche Psychoanalyse zerfällt in eine Unzahl von Schulen, bei denen Wissenschaft als Schamanentum betrieben wird. Im Versuch, dem Zerfall zu begegnen, erwecken die Staaten den totgesagten Nationalismus erneut zum Leben, wobei US-Präsidenten bahnbrechend vorangehen. Als am Himmel 7 Astronauten verglühten, verklärten sie zu neuen Helden des Weltraumzeitalters. Das Menschenopfer als Pionierleistung, der Einzelne ist wieder mal nichts gegenüber Volk, Nation, Rüstung, Global Players.
Dem neuen imperialen Größenwahn zu widerstehen brauchte es die Selbstbestimmung der Bedrohten. Die Deutschen haben den Siegern von 1945 die Ur-Erfahrung der Niederlage voraus. Die Sieger gefallen sich seitdem in neuen Kriegen, denen die Deutschen sich, unklug geworden, anschließen als sei etwas zu gewinnen. Unser Interesse verlangte aber eine Welt ohne Kriege. Lässt sich also ein kriegsverhinderndes Gesellschaftsmodell entwickeln, das nicht vom herrschenden Kapital-Imperium verfolgt und zerstört wird? Der Marxismus hat es versucht. Norbert Blüm dagegen: Marx ist tot, Jesus lebt! Da soll euer Herr Jesus also den unsäglichen heutigen Weltzustand verantworten? Wie wäre es mit: Jesus wurde zu Tode gekreuzigt und Marx zu Tode verleugnet? Der Marxismus ist tot, Marx hat überlebt. Vielleicht sind wir Atheisten die letzten Gläubigen, die den ewigen Tanz ums Goldene Kalb so satt haben, dass sie ihn einfach verweigern. Ein Rat von Ernst Bloch: „Lasst euch nicht bange machen, lacht euren Herren ins Gesicht und wagt den aufrechten Gang.“ Was aber ist hier und heute aufrechter Gang? Von Marx/Engels bleibt das Manifest inklusive nachfolgender Kapital- Analysen. Die Revolutions-Theorie darf mit dem Ende der SU samt DDR als gescheitert gelten. Marx hatte den Wecker zu früh gestellt und bald war es zu spät zum Aufwachen. Ab 1914 dementierte die deutsche Sozialdemokratie den Marxismus. Ihren Noske von 1918 kriegt die SPD nie mehr aus den Kleidern. In Russland siegte 1917 der vom kaiserlichen Deutschland gesponserte Lenin, den ab 1924 Stalin besiegte, aus dessen Schatten die Kommunistischen Parteien kaum je herauskommen. Hitler und Stalin überleben in Ewigkeit, während die USA die Fortsetzung einer Welteroberungspolitik betreiben, deren Auftakt der Völkermord an den Indianern bildete. Seither gilt Rot als Farbe des Feindes. Die Schlussfolgerung ist Gelb. Wer aber nicht bis nach Asien fahren will, darf daheim über Marx/Engels bis Kant, Hegel, Nietzsche reisen. Es gibt eigene Reserven, die gegen die Kriege der besitzenden Macht-Monster helfen. Wenn Revolutionen zu Konterrevolutionen entfremden, ist Zeit für Reformation. Mit Gruß und Kuss von Luther bis Münzer.
Obwohl und gerade weil ich von Hubertus Knabe die optimal objektive Wahrheit einfordere, habe ich bei diesem Thema nichts zu beschönigen. In den Haftzellen von Hohenschönhausen bis Bautzen saßen meine Freunde und Genossen schon ein, als die heutigen Kalten Krieger nichts davon wahrnehmen wollten, so oft ich auch darüber sprach. Reden wir also Tacheles. Die friedliche Revolution entwickelte sich zur unfriedlichen Konterrevolution, als der Satz „Wir sind das Volk“ zur Parole „Wir sind ein Volk“ missriet. Mit dem Spruch „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ gab es Vorgänger. So falsch und verlogen wurden schon Österreich, Sudentenland, Saarland eingemeindet. Derart verwandelte sich „Wollt ihr den totalen Krieg?“ über „Nie wieder Krieg“ in „Nie wieder Krieg ohne uns.“ Du gehst als braver Heimatverteidiger mit dem Grundgesetz unterm Arm zu Bette und wachst als Besatzer am Hindukusch auf.
Aus meiner Leipziger Zeit erinnere ich mich da an drei Vierzeiler:
Du willst nach Eger? Sehe ich manches zu streng? Vielleicht irre ich mich? Ich zählte knapp acht Jahre, als der Berliner Reichstag brannte und die politischen Bücher der Gablenz-Sammlung über Nacht im Wald begraben wurden. Als ich zehn Jahre alt war, beklagten die ersten Arbeitskolleginnen meiner Mutter das Schicksal ihrer Männer, die im KZ verschwanden. Ob unter Hitler oder Stalin, Ulbricht oder Adenauer und Nachfolgern, ich war stets mit Angeklagten und Verteidigern, zu Unrecht Beschuldigten und Verurteilten konfrontiert. Solange die Mauer noch nicht stand, kamen entlassene DDR-Häftlinge zu uns. Heinz Zöger und Günter Zehm lebten monatelang in unserer Wohnung. Westgenossen, die als Kommunisten erst von den Nazis, dann von Adenauers Polizisten und Juristen verfolgt wurden, oft von denselben Herren Beamten, standen wir bei. Wenn ich manches zu streng sehe oder mich irre, will ich mich gern korrigieren. Trotz aller Ankläger von heute, die gestern so tapfer schwiegen oder am großen Haberfeldtreiben teilhatten, bevor sie zur jeweiligen Siegerpartei umschwenkten. Trotz aller Wendehälse, Siegestrompeter und Heldenchöre behaupte ich, wir haben alle Schwein gehabt, ein verdientes Glück, davongekommen zu sein und nicht zu denen zu zählen, die geehrt werden, weil sie unter der Erde liegen und sich nicht wehren können. Um uns herum geht der heilige Affentanz weiter, die Opfer von gestern verfolgen die Täter von vorgestern, die gestrigen Täter stehen heute vor der Anklagebank, auf der diejenigen Platz nehmen, die sich morgen als Täter angeklagt sehen werden. Die großen Täter von heute sind die Untäter von morgen. Übermorgen umgekehrt. Wer das nicht akzeptieren will, zählt als Gutmensch zu den nächsten Angeklagten. Denn die Freiheit wird solange am Hindukusch verteidigt, bis sie dort vor die Hunde gegangen ist. Wäre die Freiheitsverteidigung wirklich so dringlich wie sie dargestellt wird, müsste, den bösen Feind zu besiegen, die gesamte Bundeswehr mit Tross und Panzern nach Asien in den Kampf ziehen. Aber gewiss doch, unsere tapferen Verteidigungsmissionare werden auch das noch bewerkstelligen. Denn wo gefoltert und getötet wird, dürfen Germanen nicht fehlen. Sie gelten sonst als Weicheier. Das ängstigt sie mehr als die Gefahr, wie ihre Vorfahren als Kriegsverbrecher gehenkt zu werden.
Schluss-Dialog – Flüchtlingsgespräche:
„Kalle: Ich fordere Sie auf, sich zu erheben und mit mir anzustoßen auf den Sozialismus – aber in einer solchen Form, dass es hier im Lokal nicht auffällt. Gleichzeitig mache ich Sie darauf aufmerksam, dass für dieses Ziel allerhand nötig sein wird. Nämlich die äußerste Tapferkeit, der tiefste Freiheitsdurst, die größte Selbstlosigkeit und der größte Egoismus. Ziffel: Ich habs geahnt. Und er erhob sich mit seiner Tasse und machte mit ihr eine ungenaue Bewegung, die nicht leicht jemand als einen Versuch zum Anstoßen entlarven konnte.“ Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 07.09.2009.
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Gerhard Zwerenz
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