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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte

Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Folge 91

Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.

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Im Hotel Folterhochschule


Am 1.1.2009 starb Johannes Mario Simmel. Ihm waren seit Jahren die Leser weggeblieben wie seiner SPD die Wähler. Simmels Pessimismus hatte am Schluss tröstliche Züge. Wenn ein Achtzigjähriger die Menschheit trotz aller seiner früheren Mühen schließlich resignierend als Fehl­konstruktion der Natur einschätzt und das baldige Ende der Tierart Mensch erwartet, verliert der einzelne, auch der eigene Tod seinen Schrecken. Die Menschheit in ihrem Drang zur kollek­tiven Vernichtung wird ja bald nachfolgen. Auf Wiedersehen im Himmel oder in der Hölle. Was allerdings der schreck­lichste aller Schre­cken sein müsste für einen Mann wie Simmel.
Am 4. Januar, vier Tage nach Simmels Ableben stand in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung: „Am Ende kommen Touristen – An der ›School of the Americas‹ in Panama lernten lateinamerikanische Militärs das Foltern – heute ist das Gebäude ein Urlaubs­hotel“. Gute Nacht im Folterhaus? Von der Folter­hochschule ins Luxus­daunenbett? Der Fortschritt heißt uns hoffen. Im FAS- Artikel heißt es instruktiv: „Hier im Fort Gullick hat die US-Armee bis 1984 latein­amerikanische Sicher­heitskräfte ausgebildet, um sie für den Kampf gegen Kommunisten zu wappnen, der Ort ist besser bekannt als ›School of the Americas‹ und noch heute Synonym für die unfass­bare Gewalt, die Latein­amerika, dank der paranoiden Hinter­hof­politik der jewei­ligen US-Admi­nistra­tionen während des Kalten Krieges heim­gesucht hat. Insgesamt durch­liefen mehr als 60.000 Militärs und Polizisten das Training. Über Jahr­zehnte wurden hier Folter, Hin­richtungen und Verhör­techniken gelehrt, wie das ameri­kanische Vertei­digungs­ministerium 1996 eingestand. Die Liste berüch­tigter Absolventen ist lang. Diktatoren und Putschisten wie der argen­tinische Präsident Leopoldo Galtieri, der in den siebziger Jahren viele tausend Menschen verschwinden ließ, Roberto D'Aubuisson, dessen Todes­schwa­dronen in El Salvador Tausende getötet haben, oder Panamas ehemaliger Militär­herrscher Manuel Noriega, der sich in den achtziger Jahren von den Vereinigten Staaten distanzierte, 1989 bei der US-Invasion in Panama gefasst wurde und heute wegen Drogen­handels und Geldwäsche in Florida einsitzt. Jetzt also ein Hotel.“
Wie kommt ausgerechnet die FAS dazu, so radikal und despektierlich über die Folter- und Mordhochschule der US-ameri­kani­schen NATO-Bündnis­freunde zu schreiben? Rutschten die Fakten nur mal so im Reise­blatt der Zeitung durch, wo so etwas schon mal passieren kann, wenn die Chefs gerade im Urlaub sind? Oder soll die übliche redaktionelle Sklaven­sprache dementiert werden? Dafür wäre es allerdings zu spät. Als die Bush-Folter flott praktiziert wurde, schwieg man bündnis­fromm dazu. Seit die Herrschaft wechselte, ist leichter darüber zu schreiben. Sklaven­sprache vorübergehend dispensiert? Das gehört zur Semantik der Postmoderne im Strudel vielfältiger Untergänge.
Nun folterten und mordeten die kommunistischen Feinde ja auch, besonders gern die eigenen Genossen, wie wir aus der ersten Nachkriegszeit in Ungarn (Rajk) und der Tschechoslowakei (Slansky) wissen. Das geschah allerdings in den vierziger/fünfziger Jahren. Die US-Operationen unterwarfen Chile und den süd­ameri­kanischen Halb­kontinent noch bis zuletzt mit Hilfe blut­säufe­rischer Diktatoren, mit denen verglichen selbst Ivan der Schreckliche ein Waisen­knabe war.
 

Damals wollte die Bourgeoisie
von Bild bis FAZ davon
keinerlei Kenntnis nehmen.





E. A. Rauter
Folter in Geschichte und Gegenwart
von Nero bis Pinochet
Eichborn Verlag, 1. Auflage 1988

Alle diese Informationen sind nicht neu. Man lese E. A. Rauters Folter in Geschichte und Gegenwart von Nero bis Pinochet , 1988 im Eichborn Verlag, ursprünglich Folter-Lexikon, 1969 Konkret-Verlag, noch ursprüng­licher Ab­drucke in der Zeit­schrift konkret. Damals wollte die Bourgeoisie von Bild bis FAZ davon keinerlei Kenntnis nehmen. Wenn Freunde foltern und morden wie massenmorden, schweigt der Verbündeten Höflichkeit.
Wenn wir damaligen Ex-Kommunisten in den Westen flüchteten und mit unserer Partei abrechneten, waren wir hier gern gesehen. Nannten wir die Untaten der freien Welt beim Namen, stießen wir nicht auf Wohlwollen. Die Herren vom Kapital wagen erst Jahrzehnte später den publizistischen Schleier über ihren Folterbänken und Gräbern zu lüften. Unterdessen ist der Fortschritt soweit fort­geschritten, dass Dürers Ritter, Tod und Teufel empi­risch als Krieg, Mord, Folter völlig legalisiert worden sind, wozu es feuille­tonistische Rand­glossen gibt oder versehent­liche Ein­geständ­nisse in Reisebeilagen. Die Folterschule als Luxushotel vermittelt prickelnde Schauer wie der Besuch uralter Burgen, wo Streckbänke und Eiserne Jungfrauen zu besichtigen sind, die Kulturgüter der Zeit eben.
Klaus Rainer Röhl, Chefredakteur des damaligen konkret könnte heute stolz auf seine frühen Verdienste um die Freiheit des Wortes verweisen. Er wechselte die Fronten. Aus links wird rechts, das ist deutsche Tradition. Außerdem ist es schön christlich. Im Namen ihres erzpazifis­tischen Sozial­revolutionärs Jesus Christus häufen seine Gläubigen seit 2000 Jahren Krieg auf Krieg.
Zurück zu Johannes Mario Simmels Gedanken vom baldigen Ende der Menschheit. Offenbar ist die Negativ-Utopie einer Endzeit bekömmlich fürs Seelenheil. Die Vorstellung eines planvollen Weltuntergangs beruhigt die Nerven, die Folgerichtigkeit einer ausgekochten „schwarzen Dramaturgie“ aus der flotten Feder oder dem PC eines Demiurgen bringt theatralische, also künstlerische Elemente ins Spiel, die Verbindung von Theologie und Teleo­logie stattet das Ganze mit der nötigen wissenschaftlichen Dogmatik aus, was der Seriosität dient. Wer endlich so geschwollen zu sprechen versteht, darf als Elite im Fernsehen auftreten. Wenn nicht nur der einzelne Mensch zur Hölle fährt, sondern ein ganzer besiedelter Erdball, verkehren sich die Fronten und Bewertungen. Vor dem totalen, kollektiven Tod verliert der Einzeltod den Horror und wird zur Erlösung. Das kann der Beginn eines melancholischen Fatalismus oder einer fanatischen Todessehnsucht sein.
Frau Merkel, die brav mit FDJ-Blauhemd in Leipzig studierte, ließ sich 20 Jahre nach der Ver­einigung durch die museale Haft­anstalt Hohen­schön­hausen führen, wo ihr von der dort prakti­zierten chinesischen Wasserfolter und anderen Un­mensch­lichkeiten erzählt wird, was sie eilfertig an Jugendliche und Erwach­sene weitergibt. Warum scherte sie sich nicht zwei Jahr­zehnte vor der Ver­einigung, etwa als sie ohne anzuecken studieren und ihren Doktor bauen durfte, um Stasi-Häft­linge? Das wäre der Karriere nicht förderlich gewesen? Neh­men wir einen paral­lelen West-Fall. Je­mand wird beam­teter Gefäng­nis­museums­direktor und ver­fasst in seiner Freizeit Bücher über zwei Dikta­turen, von denen er keine kennt. Dafür verargt er den in dieser Diktatur Leben­den, die davon nichts bemerk­ten, dass sie nichts bemerkten. Kennt Knabe ein Ver­nichtungs­lager des Dritten Reiches? Gern spräche ich mit ihm über die Dif­ferenz zwischen Auschwitz und Bautzen oder Ho­hen­schönhausen und Dachau. Wie sich bei Obamas Buchen­wald-Besich­tigung heraus­stellte, hatte laut Regie­rungs­auskunft die ihn beglei­tende Bundes­kanzlerin zuvor offiziell keine deutsche Nazi-KZ-Gedenk­stätte auf­gesucht, dafür agierte Hubertus Knabe als Merkel-Führer durch die rote Unterwelt. „Ich zeigte der Kanzlerin meine Stasi-Hölle“, sagte der Ex-Häftling Gilbert Furian und fügte an: „Hier wurden Gefangene noch bis Mitte der fünfziger Jahre von der Stasi gefoltert und brutal zusammen­geschlagen.“ (bild.de Politik 5.6.2009) Diesen Satz würde ich gern öffentlich erörtern. Welcher Ex-Häftling kann ihn noch bezeugen – welcher Stasi-Offizier sagte dazu aus? Hubertus Knabe über Die Linke: „Wir dürfen sie jetzt getrost als Mauer­mörderpartei bezeichnen.“ Dürfen wir die SPD getrost als Luxemburg-Liebknecht-Mörderpartei und mit den Folgen auch Thälmann-Mörderpartei bezeichnen? Das Klischee ist ein Mörder aus Deutschland.
In einer tv-Diskussion wies Knabe ältere DDR-erfahrene Teilnehmer streng zurecht, weil sie seine Diktatur-Definition für ihren ehemaligen Staat nicht akzeptierten. So stand sein Vorwurf gegen existentielle Erfahrungen anderer. Nun sind mir derlei Argumente nicht fremd. Im Spiegel 2/1983, in dem ich als „unbekümmerter Außenseiter“ und „Phänomen“ bezeichnet werde, heißt es dazu: „Auch ideologisch ist er für den wendigen Literatur­betrieb eine Zumutung gewesen und bis heute geblieben. Als zu Apo-Zeiten westdeutsche Schriftsteller den Kommunismus entdeckten und, wie etwa Enzensberger, hymnisch das kubanische Modell feierten, wiederholte Zwerenz nur, was er aus Erfahrung schon Jahre zuvor gesagt hatte, dass kommunis­tische Staaten Dikta­turen seien und er sich mit Diktaturen nun einmal nicht anfreunden könne.“
Was lehrt uns das? Wenn zwei dasselbe sagen, muss es nicht dasselbe sein. Ich hielt nicht Hymnen, sondern sozialistische Demokratisierung für notwendig, um dem drohenden Untergang zu begegnen. Rosa Luxemburgs Wort Sozialismus oder Barbarei war nicht mit einem barbarisierten Sozialismus zu entkräften. Knabes Tadel 20 Jahre nach DDR-Ende ist nichts als eine ideologisch präformierte Beleidigung von DDR-Bürgern, die ihr vergangenes Leben nicht abwerten lassen wollen.
Angesichts der signifi­kanten Knabe-Karriere bekenne ich meine Unzu­läng­lich­keiten. Verließ Wehrmacht und Reich frei­willig, verlangte in der DDR solange Reformen, bis mir nur blieb, ein zweites Mal zu desertieren. Hatte in Leipzig Katyn öffent­lich problematisiert und in der BRD den Luxemburg-Liebknecht-Mord­haupt­mann aufge­scheucht. Hätte ich den Krieg bis zum Ende tüchtig mitführen, die DDR bis zu ihrem Abgang nutzen, im Westen die kritische Aus­einander­setzung mit den Nazi-Verbrechern meiden und das Kapital statt­dessen loben sollen? Vielleicht wäre ich gar noch Minister oder General geworden? Oder Gefängnis- Museums­direktor, der in seiner offen­sichtlich reichlich bemessenen Freizeit die Freiheit mittels Leser-Folter durch seine Bücher verteidigt.
Mein Pseudonym Gert Gablenz behauptet, ich sei in einem früheren Leben Stammgast in Dostojewskis Roman Der Idiot gewesen. Kann sein, Russisch konnte ich schon. Vor kurzem Auftritt von Frau Birthler in einer RBB Fernseh-Runde. Sie labern unendlich von der 2. deutschen Diktatur, dass bald die letzte Erin­nerung an die Nazi-Diktatur ersterben muss. Ohne Hitler-Armee bis kurz vor Moskau und zurück kein Sowjetsoldat in Berlin und keine DDR. Aber ja doch, der Opfer ist zu gedenken. In Plötzensee wurden in der Nacht vom 7. zum 8.September 1943 im Namen des deutschen Volkes vermittels deutscher Richter und Henker 185 Anti­faschisten hingerichtet. Ab 1961 bis 1989 verloren an der Berliner Mauer 136 Menschen das Leben: Erschossen, ertrunken, verunglückt. (FAZ, 13.8.09) So etwas und noch mehr erledigte Hitlers Deutschland in einer einzigen Nacht. Das ist die Differenz zwischen der 1. und 2. Diktatur. Von der Verursachung der 2. durch die 1. abgesehen.
Das abend­ländische Denken befindet sich in einer Legitimations­krise. Ent­wicklung findet nur noch rüstungs­technisch statt. Neue Ideen sind Mangel­ware. Revolu­tionen degenerieren zu Konter­revolu­tionen. Die letzte Weltmacht lebt von der Restau­ration alten Unrechts. Unter schein­heiligen Vor­spiege­lungen von Ent­wicklungs­hilfe wird Entwicklung sabotiert. Unwillige Länder diszipliniert man mit Drohungen. Das Kriegs­ver­brechen gehört zur Taktik, der Staats­terror wird Strategie. Indessen fallen ganze Bevöl­kerungs­teile des Westens in vor-auf­kläre­rische Lebens­weisen zurück. Die Kirchen verkommen zu Staatskirchen. Ganze Scharen neuer Götter und Hohe­priester treten ans Licht, neue Religionen werden gegründet und alte mit Funda­menta­lismen gepanzert. Aus dem Missbrauch der Astronomie folgt ein neuer Schub astrolo­gischer Gläubigkeit. Die Freudsche Psycho­analyse zerfällt in eine Unzahl von Schulen, bei denen Wissenschaft als Schamanentum betrieben wird. Im Versuch, dem Zerfall zu begegnen, erwecken die Staaten den totgesagten Nationa­lismus erneut zum Leben, wobei US-Präsidenten bahn­brechend vorangehen. Als am Himmel 7 Astro­nauten verglühten, verklärten sie zu neuen Helden des Welt­raum­zeitalters. Das Menschenopfer als Pionier­leistung, der Einzelne ist wieder mal nichts gegenüber Volk, Nation, Rüstung, Global Players.
Dem neuen imperialen Größenwahn zu widerstehen brauchte es die Selbst­bestimmung der Bedrohten. Die Deutschen haben den Siegern von 1945 die Ur-Erfahrung der Niederlage voraus. Die Sieger gefallen sich seitdem in neuen Kriegen, denen die Deutschen sich, unklug geworden, anschließen als sei etwas zu gewinnen. Unser Interesse verlangte aber eine Welt ohne Kriege. Lässt sich also ein kriegsverhinderndes Gesellschaftsmodell ent­wickeln, das nicht vom herrschen­den Kapital-Imperium verfolgt und zerstört wird? Der Marxismus hat es versucht. Norbert Blüm dagegen: Marx ist tot, Jesus lebt! Da soll euer Herr Jesus also den unsäglichen heutigen Weltzustand verantworten? Wie wäre es mit: Jesus wurde zu Tode gekreuzigt und Marx zu Tode verleugnet? Der Marxismus ist tot, Marx hat überlebt. Vielleicht sind wir Atheisten die letzten Gläubigen, die den ewigen Tanz ums Goldene Kalb so satt haben, dass sie ihn einfach verweigern. Ein Rat von Ernst Bloch: „Lasst euch nicht bange machen, lacht euren Herren ins Gesicht und wagt den aufrechten Gang.“ Was aber ist hier und heute aufrechter Gang? Von Marx/Engels bleibt das Manifest inklusive nachfolgender Kapital- Analysen. Die Revolutions-Theorie darf mit dem Ende der SU samt DDR als gescheitert gelten. Marx hatte den Wecker zu früh gestellt und bald war es zu spät zum Aufwachen. Ab 1914 dementierte die deutsche Sozialdemokratie den Marxismus. Ihren Noske von 1918 kriegt die SPD nie mehr aus den Kleidern. In Russland siegte 1917 der vom kaiserlichen Deutschland gesponserte Lenin, den ab 1924 Stalin besiegte, aus dessen Schatten die Kommunistischen Parteien kaum je herauskommen. Hitler und Stalin überleben in Ewigkeit, während die USA die Fortsetzung einer Welteroberungspolitik betreiben, deren Auftakt der Völkermord an den Indianern bildete. Seither gilt Rot als Farbe des Feindes. Die Schlussfolgerung ist Gelb. Wer aber nicht bis nach Asien fahren will, darf daheim über Marx/Engels bis Kant, Hegel, Nietzsche reisen. Es gibt eigene Reserven, die gegen die Kriege der besitzenden Macht-Monster helfen. Wenn Revolutionen zu Konterrevolutionen entfremden, ist Zeit für Reformation. Mit Gruß und Kuss von Luther bis Münzer.
Obwohl und gerade weil ich von Hubertus Knabe die optimal objektive Wahrheit einfordere, habe ich bei diesem Thema nichts zu beschönigen. In den Haftzellen von Hohenschönhausen bis Bautzen saßen meine Freunde und Genossen schon ein, als die heutigen Kalten Krieger nichts davon wahrnehmen wollten, so oft ich auch darüber sprach. Reden wir also Tacheles. Die friedliche Revolution entwickelte sich zur unfriedlichen Konterrevolution, als der Satz „Wir sind das Volk“ zur Parole „Wir sind ein Volk“ missriet. Mit dem Spruch „Ein Volk, ein Reich, ein Führer“ gab es Vorgänger. So falsch und verlogen wurden schon Österreich, Sudentenland, Saarland eingemeindet. Derart verwandelte sich „Wollt ihr den totalen Krieg?“ über „Nie wieder Krieg“ in „Nie wieder Krieg ohne uns.“ Du gehst als braver Heimatverteidiger mit dem Grundgesetz unterm Arm zu Bette und wachst als Besatzer am Hindukusch auf.
Eugen Kogon
Der SS-Staat
Heyne 1988 / Komet 2000
 
Wenn ich von einem musealen Stasiknast-Direktor optimale objektive Wahrheit erwarte, heißt das, er sollte entweder polemische Bücher schreiben und die Bild- Zeitung beliefern oder seine Stasi-Gedenk­stätte betreuen, die als Benen­nung sug­geriert, dort würde der Stasi gedacht. Es darf gelacht werden. Am 10.8.09 teilt Knabe via Bild mit, seinem Haus drohe die Pleite, weil es so er­folg­reich sei und von „immer mehr Schul­klassen“ kosten­los besucht werde. Kleine Anfrage: Besuchen die vielen Schul­klassen auch mal Dachau, Buchen­wald, Sachsen­hausen und Auschwitz? Was wissen die Lehrer und Schüler von der 1. Diktatur? Oder sind hier McCarthys neue Mauerbauer am Werk, was auf eine Kom­munis­ten­ver­folgung wie zu Adenauers und vordem Hitlers Zeiten hinausläuft? Wer nur Hubertus Knabe kennt und nicht auch Eugen Kogon, der vermag nicht die Unter­schiede der Systeme und beider Autoren zu erfassen. Mysti­fizierte Opfer entbinden neue Täter. Am 9. August 09 beschuldigt Erika Steinbach in Bild Außen­minister Steinmeier, er lasse es „an der nötigen Anteilnahme“ fehlen, wenn in Polen bisher verscharrte deutsche Kriegsopfer aufgefunden und würdig bestattet würden. Offenbar hält sie Steinmeier für einen Außenminister der Toten wie sie sich als deutsches Besatzungskind für eine Vertriebene aus Polen hält.
Aus meiner Leipziger Zeit erinnere ich mich da an drei Vierzeiler:

Du willst nach Eger?
Nimm den Weg über Lidice.
Du willst nach Karlsbad?
Fahr über Theresienstadt.

Du suchst das verlorene Breslau?
Fahr nach Auschwitz.
Die Straße nach Stettin
führt durchs Warschauer Getto.

Am Tag, da du ankommen wirst
deine Trauer darf sagen:
Dies hier
Dies hier war Deutschland.

Sehe ich manches zu streng? Vielleicht irre ich mich? Ich zählte knapp acht Jahre, als der Berliner Reichstag brannte und die politischen Bücher der Gablenz-Sammlung über Nacht im Wald begraben wurden. Als ich zehn Jahre alt war, beklagten die ersten Arbeitskolleginnen meiner Mutter das Schicksal ihrer Männer, die im KZ verschwanden. Ob unter Hitler oder Stalin, Ulbricht oder Adenauer und Nachfolgern, ich war stets mit Angeklagten und Verteidigern, zu Unrecht Beschul­digten und Ver­urteilten konfron­tiert. Solange die Mauer noch nicht stand, kamen entlassene DDR-Häftlinge zu uns. Heinz Zöger und Günter Zehm lebten monatelang in unserer Wohnung. West­genossen, die als Kommunis­ten erst von den Nazis, dann von Adenauers Polizisten und Juristen verfolgt wurden, oft von denselben Herren Beamten, standen wir bei. Wenn ich manches zu streng sehe oder mich irre, will ich mich gern korrigieren. Trotz aller Ankläger von heute, die gestern so tapfer schwiegen oder am großen Haber­feld­treiben teilhatten, bevor sie zur jeweiligen Sieger­partei umschwenkten. Trotz aller Wende­hälse, Sieges­trompeter und Helden­chöre behaupte ich, wir haben alle Schwein gehabt, ein verdientes Glück, davon­gekommen zu sein und nicht zu denen zu zählen, die geehrt werden, weil sie unter der Erde liegen und sich nicht wehren können. Um uns herum geht der heilige Affentanz weiter, die Opfer von gestern verfolgen die Täter von vorgestern, die gestrigen Täter stehen heute vor der Anklage­bank, auf der diejenigen Platz nehmen, die sich morgen als Täter angeklagt sehen werden. Die großen Täter von heute sind die Untäter von morgen. Über­morgen umgekehrt. Wer das nicht akzeptieren will, zählt als Gutmensch zu den nächsten Angeklagten. Denn die Freiheit wird solange am Hindukusch verteidigt, bis sie dort vor die Hunde gegangen ist. Wäre die Frei­heits­vertei­digung wirklich so dringlich wie sie dargestellt wird, müsste, den bösen Feind zu besiegen, die gesamte Bundeswehr mit Tross und Panzern nach Asien in den Kampf ziehen. Aber gewiss doch, unsere tapferen Ver­tei­digungs­missionare werden auch das noch bewerk­stelligen. Denn wo gefoltert und getötet wird, dürfen Germanen nicht fehlen. Sie gelten sonst als Weicheier. Das ängstigt sie mehr als die Gefahr, wie ihre Vorfahren als Kriegs­verbrecher gehenkt zu werden.
 
Erika Steinbach am 9.8.09 in einem Bild-Gast­kommentar: „Auch deutsche Opfer würdigen.“ Die Ver­trie­benen-Präsi­dentin sollte mal Brechts Flücht­lings­gespräche lesen. Für unsere feinen Theater­bühnen wäre es hoch an der Zeit, das Stück wieder aufzuführen, um der Erinnerung auf die Sprünge zu helfen.
Schluss-Dialog – Flücht­lings­gespräche:
„Kalle: Ich fordere Sie auf, sich zu erheben und mit mir anzu­stoßen auf den Sozialis­mus – aber in einer solchen Form, dass es hier im Lokal nicht auffällt. Gleich­zeitig mache ich Sie darauf auf­merk­sam, dass für dieses Ziel aller­hand nötig sein wird. Nämlich die äußerste Tapfer­keit, der tiefste Frei­heits­durst, die größte Selbst­losig­keit und der größte Egoismus.
Ziffel: Ich habs geahnt.
Und er erhob sich mit seiner Tasse und machte mit ihr eine ungenaue Bewegung, die nicht leicht jemand als einen Versuch zum Anstoßen entlarven konnte.“

Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 07.09.2009.

Gerhard Zwerenz   31.08.2009   
Gerhard Zwerenz
Serie
  1. Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
  2. Wird Sachsen bald chinesisch?
  3. Blick zurück und nach vorn
  4. Die große Sachsen-Koalition
  5. Von Milbradt zu Ernst Jünger
  6. Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
  7. Reise nach dem verlorenen Ich
  8. Mit Rasputin auf das Fest der Sinne
  9. Van der Lubbe und die Folgen
  10. Unser Schulfreund Karl May
  11. Hannah Arendt und die Obersturmbannführer
  12. Die Westflucht ostwärts
  13. Der Sänger, der nicht mehr singt
  14. Ich kenne nur
    Karl May und Hegel
  15. Mein Leben als Prophet
  16. Frühe Liebe mit Trauerflor
  17. Der Schatten Leo Bauers
  18. Von Unselds Gegner zu Holtzbrincks Bodyguard
  19. Karl May Petrus Enzensberger Walter Janka
  20. Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen
  21. Tanz in die zweifache Existenz
  22. General Hammersteins Schweigen
  23. Die Pleiße war mein Mississippi
  24. Im Osten verzwergt und verhunzt?
  25. Uwe Johnson geheimdienstlich
  26. Was fürchtete Uwe Johnson
  27. Frühling Zoo Buchmesse
  28. Die goldenen Leipziger Jahre
  29. Das Poeten-Projekt
  30. Der Sachsenschlag und die Folgen
  31. Blick zurück auf Wohlgesinnte
  32. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (I)
  33. Sächsische Totenfeier für Fassbinder (II)
  34. Brief mit Vorspann an Erich Loest
  35. Briefwechsel mit der Welt der Literatur
  36. Die offene Wunde der Welt der Literatur
  37. Leipzig – wir kommen
  38. Terror im Systemvergleich
  39. Rachegesang und Kafkas Prophetismus
  40. Die Nostalgie der 70er Jahre
  41. Pauliner Kirche und letzte Helden
  42. Das Kickers-Abenteuer
  43. Unser Feind, die Druckwelle
  44. Samisdat in postkulturellen Zeiten
  45. So trat ich meinen Liebesdienst an …
  46. Mein Ausstieg in den Himmel
  47. Schraubenzieher im Feuchtgebiet
  48. Der Fall Filip Müller
  49. Contra und pro Genossen
  50. Wie ich dem Politbüro die Todesstrafe verdarb
  51. Frankfurter Polzei-buchmesse 1968
  52. Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
  53. Als Atheist in Fulda
  54. Parade der Wiedergänger
  55. Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
  56. Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
  57. Fragen an einen Totalitarismusforscher
  58. Meine fünf Lektionen
  59. Playmobilmachung von Harald Schmidt
  60. Freundliche Auskunft an Hauptpastor Goetze
  61. Denkfabrik am Pleißenstrand
  62. Rendezvous beim Kriegsjuristen
  63. Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
  64. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
  65. Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
  66. Der Bunker ...
  67. Helmut auf allen Kanälen
  68. Leipzig anno 1956 und Berlin 2008
  69. Mit Konterrevolutionären und Trotzkisten auf dem Dritten Weg
  70. Die Sächsischen Freiheiten
  71. Zwischen Genossen und Werwölfen
  72. Zur Geschichte meiner Gedichte
  73. Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten
  74. Der Dritte Weg als Ausweg
  75. Unendliche Wende
  76. Drei Liebesgrüße für Marcel
  77. Wir lagen vor Monte Cassino
  78. Die zweifache Lust
  79. Hacks Haffner Ulbricht Tillich
  80. Mein Leben als Doppelagent
  81. Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein
  82. Vom Langen Marsch zum 3. Weg
  83. Die Differenz zwischen links und rechts
  84. Wo liegt Bad Gablenz?
  85. Quartier zwischen Helmut Schmidt und Walter Ulbricht
  86. Der 3. Weg eines Auslandssachsen
  87. Kriegsverrat, Friedensverrat und Friedenslethargie
  88. Am Anfang war das Gedicht
  89. Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
  90. Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
  91. Im Hotel Folterhochschule
  92. Brief an Ernst Bloch im Himmel
  93. Kurze Erinnerung ans Bonner Glashaus
  94. Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
  95. 94/95 Doppelserie
  96. FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller
  97. Rainer Werner Fassbinder ...
  98. Zähne zusammen­beißen ...
  99. Das Unvergessene im Blick
    1. Nachwort
Nachworte
  1. Nachwort
    siehe Folge 99
  2. Auf den Spuren des
    Günter Wallraff
  3. Online-Abenteuer mit Buch und Netz
  4. Rückschau und Vorschau aufs linke Leipzig
  5. Die Leipziger Denkschule
  6. Idylle mit Wutanfall
  7. Die digitalisierte Freiheit der Elite
  8. Der Krieg als Badekur?
  9. Wolfgang Neuss über Kurt Tucholsky
  10. Alter Sack antwortet jungem Sack
  11. Vor uns diverse Endkämpfe
  12. Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren
  13. Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
  14. Kampf der Deserteure
  15. Fritz Bauers unerwartete Rückkehr
  16. Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
  17. Als Fassbinder in die Oper gehen wollte
  18. Was zum Teufel sind Blochianer?
  19. Affentanz um die 11. Feuerbach-These
  20. Geschichten vom Geist als Stimmvieh
  21. Von Frankfurt übern Taunus ins Erzgebirge
  22. Trotz – Trotzalledem – Trotzki
  23. Der 3. Weg ist kein Mittelweg
  24. Matroschka –
    Die Mama in der Mama
  25. Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
  26. Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller
  27. Jan Robert Bloch –
    der Sohn, der aus der Kälte kam
  28. Das Buch, der Tod und der Widerspruch
  29. Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad
  30. Bloch und Nietzsche werden gegauckt ...
  31. Hölle angebohrt. Teufel raus?
  32. Zwischen Heym + Gauck
  33. Von Marx über Bloch zu Prof. Dr. Holz
  34. Kafkas Welttheater in Auerbachs Keller
  35. Die Philosophenschlacht von Leipzig
  36. Dekonstruktion oder Das Ende der Ver­spä­tung ist das Ende
  37. Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
  38. Meine Weltbühne im poetenladen
  39. Von Blochs Trotz zu Sartres Ekel
  40. Die Internationale der Postmarxisten
  41. Dies hier war Deutschland
  42. Kopfsprünge von Land zu Land und Stadt zu Stadt
  43. Einiges Land oder wem die Rache gehört
  44. Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen
  45. Macht ist ein Kriegszustand
  46. Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
  47. Damals, als ich als Boccaccio ging …
  48. Ein Traum von Aufklärung und Masturbation
  49. Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
  50. Leipzig am Meer 2013
  51. Scheintote, Untote und Überlebende
  52. Die DDR musste nicht untergehen (1)
  53. Die DDR musste nicht untergehen (2)
  54. Ein Orden fürs Morden
  55. Welche Revolution darfs denn sein?
  56. Deutschland zwischen Apartheid und Nostalgie
  57. Nietzsche dekonstruierte Gott, Bloch den Genossen Stalin
  58. Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter
  59. Von Renegaten, Trotzkisten und anderen Klassikern
  60. Die heimatlose Linke (I)
    Bloch-Oper für zwei u. mehr Stimmen
  61. Die heimatlose Linke (II)
    Ein Zwischenruf
  62. Die heimatlose Linke (III)
    Wer ist Opfer, wer Täter ...
  63. Die heimatlose Linke (IV)
    In der permanenten Revolte
  64. Wir gründen den Club der
    heimatlosen Linken
  65. Pekings große gegen Berlins kleine Mauer
  66. Links im Land der SS-Ober­sturm­bann­führer
  67. Zweifel an Horns Ende – SOKO Leipzig übernimmt?
  68. Leipzig. Kopfbahnhof
  69. Ordentlicher Dialog im Chaos
  70. Büchner und Nietzsche und wir
  71. Mit Brecht in Karthago ...
  72. Endspiel mit Luther & Biermann & Margot
  73. Die Suche nach dem anderen Marx
  74. Wer ermordete Luxemburg und Liebknecht und wer Trotzki?
  75. Vom Krieg unserer (eurer) Väter
  76. Wohin mit den späten Wellen der Nazi-Wahrheit?
  77. Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen
  78. Die Heldensöhne der Urkatastrophe
  79. Die Autobiographie zwischen
    Schein und Sein
  80. Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
  81. Atlantis sendet online
  82. Zur Philosophie des Krieges
  83. Deutsche, wollt ihr ewig sterben?
  84. Der Prominentenstadl in der Krise
  85. Der Blick von unten nach oben
  86. Auf der Suche nach einer moralischen Existenz
  87. Vom Krieg gegen die Pazifisten
  88. Keine Lust aufs Rentnerdasein
  89. Von der Beschneidung bis zur
    begeh­baren Prostata
  90. Friede den Landesverrätern
    Augstein und Harich
  91. Klarstellung 1 – Der Konflikt um
    Marx und Bloch
  92. Bloch & die 56er-Opposition zwischen Philo­sophie und Verbrechen
  93. Der Kampf ums Buch
  94. Und trotzdem: Ex oriente lux
  95. Der Soldat: Held – Mörder – Heiliger – Deserteur?
  96. Der liebe Tod – Was können wir wissen?
  97. Lacht euren Herren ins Gesicht ...
  98. Die Blochianer kommen in Tanzschritten
  99. Von den Geheimlehren der Blochianer
Aufsatz