Rainer Werner Fassbinder oder die Dekonstruktion einer Zeitung Mitte der sechziger Jahre muckte die westdeutsche Jugend auf. Bald lagen viele am Boden und wurden ausgezählt. Nun hockten sie sauer in ihren Kneipen, machten bürgerliche Karriere, andere versuchten sich als Maoisten oder erwarteten von den Albanern das Glück, diese Fata Morgana. Die sich als Spiegelung offenbarte und verging. Schöne Gründe für traurig-schaurig-schöne Lieder gibts genug. Es gibt eine Schönheit der Skepsis, des Widerstands nach Maßgabe der Kräfteverhältnisse. Stehen bleiben und standhalten oder fortgehen, um standhalten zu können. Ich behaupte, Rainer Werner Fassbinder, der darüber nicht sprach, war aus diesem Holze geschnitzt.
Manche sahen nur den Dompteur in ihm. Ich kenne Schauspieler, die unter ihm arbeiteten und ihn nicht ausstehen konnten. Ich kenne welche, die ihn fürchteten, andere schmeichelten ihm, wieder andere verachteten ihn. Alle diese Reaktionen waren berechtigt und zugleich falsch und ungerecht. Er war ein kleiner junger Mann, der aus dem Gefühl heraus moralisch und gerecht zu sein versuchte. Das schaffte er nie. Aber er gab nicht auf. Er passte vorzüglich in die Maskerade der siebziger Jahre.
Als es ihn noch gar nicht
gab, weil keiner von ihm wusste, da war er schon so schlaflos wie die spätere Berühmtheit, die Tabletten fraß, das ewig wache Aas. Als ich die Mutter dann besuchte, er lag bereits in Bogenhausen, da schleppte sie so hundert Hefte an, wie sie in Schulen nötig sind. Die waren vollgeschrieben. Drehbücher, noch bevor gedreht zu werden Chancen sich ergaben. Er hat die Nächte durch gesumpft. den Kugelschreiber in der Hand. Da war er noch ganz unbekannt. In die Talk-Show ging er, gab halb widerstrebend und halb gelangweilt widerborstig Antwort auf dumme Fragen. Seine Feinde bespuckte er, danach verbündete er sich mit manchen, um sie zu nutzen und sich von ihnen zu befreien. Die Spannungen hielt er nie ganz aus. Da mussten Drogen her. Das verkürzt das Leben. Aber ist das lange Leben in ergebenster Gefügigkeit und Ödnis vielleicht erstrebenswert und besser?
Da war eine Moral, eine Haltung. Die Weigerung, ganz und gar Klischee zu werden: Erwachsener, Kulturmensch, Erfolgsmann. So was spielte er notfalls durch und stieg erneut aus dem Pappkameraden raus und war wieder wer anderes. Zur Moral kam eine genaue, morbide Ästhetik. Seine Filme sind, wo sie gelangen, durch und durch Bild, seine Texte sind Bild, er war der junge Mann der Bild-Kultur, der ernstmachte damit, indem er immer unernst blieb. Seine Stilisierungen, seine Vorlieben für Spiegelungen, seine Kompositionstechniken, alles stand im Dienst der Kultur wilder Bilder. Er zeigte eine politische Courage, von der seine politischen Kritiker, die alles viel besser wussten, keinen blassen Schimmer hatten. Sie waren Ideologen, also Untertanen fremder Ideen, er zeigte Menschen, erzählte Geschichten, brachte aufrührerische Unordnung in den Gleichklang der Ansichten. Das war seine Form von Ästhetik und Widerspruch, wo es glückte: Widerstand.
Sie greinten später, der da hat
gekifft, geschnupft und eingeworfen, hat intrigiert, gesoffen und gefickt. War nur sich selbst der Nächste. Als er noch lebte, warn sie gerne Arsch. Sie reisten an aus allen Hütten, wenn er nur leise rief. Sie kamen an und standen grad und schief und krumm um ihn herum, die Hände auf- gehalten. Erwärmt von seinem Kalten. Sie waren gerne Diener, Zimmerputzer, Hofnarr und Federvieh. Sie gingen vor ihm in die Knie und spielten, was er sich erdachte. Sie weinten, wenn er lachte, erbleichten, wenn er schrie.
Fassbinder und Büchner in eins zu sehen fällt mir leicht. Ein Fall von genialischer Pubertät. Rainers Biographie fiel mit der Nachkriegsgeschichte zusammen: Knallharte kritische Analyse und gefahrdrohende Phantasie vereint wie bei Büchner, Arthur Rimbaud lässt grüßen. Auch der Zwang, jung zu sterben oder als Überlebender sich selbst dementieren zu müssen. Bei Rimbaud wurde Sklavenhandel draus. Verlust eines Beines. Verrat am Werk. Verkrüppelung. Büchner kam vorher davon. Die letzten zwei Lebensjahre Fassbinders sind sein Tribut an die idiotischen Achtziger, sie signalisierten die Gefahren.
Sie waren seine Jünger, am Schoße
festgemacht. Ein jeder seiner Lust als Knabe, ein jeder schwarzer weißer Rabe, davor ein Nichts, danach ein Nichts. Es ist ein Tag des Hochgerichts. Er war, genau, das wüste Vieh, das sie zu sein nicht wagten. Sie sagten, jenseits seiner Ohren, die Mutter hat den Teufel sich geboren. Nur seine Weiber, die er mied, hätten erfreut sich gleich an ihn verloren. Dann war am Sonntagnachmittag Besuch bei Mama aufgeboten. Der Kurt, der wusch sich seinen Hals und bracht' auch Blumen mit, als ging er auf die Balz. Es begann im April 68 mit Katzelmacher, dauerte 20 Minuten und wurde im Jahr darauf ein Film mit 88 Minuten Länge. Vorher gab's Der Stadtstreicher (1965), Das kleine Chaos (1966), Liebe ist kälter als der Tod (1969). Mit Katzelmacher endet die Nachkriegszeit, und unsere Nach-Nachkriegszeit beginnt mit dem Gastarbeiter Jorgos, einem „Griech' aus Griechenland“, den Fassbinder spielt oder lebt. Zusammengeschlagen wird er. Motto: Hau ab, Fremder! Im Filmtext: „Jetzt geht er bestimmt“. Wir Überlebenden wissen, er ging nicht, kam massenhaft, kommt immerzu, Asylantenvolk. Und der Darsteller des verprügelten Griechen kam, blieb bis zum 10. Juni 82: Da ging er endlich.
Fassbinder kannte mich länger als ich ihn. Wir lernten ihn erst 1974 in Frankfurt kennen. Da war er ein schmaler, junger, bescheiden auftretender Mann und hatte noch ganze acht Jahre vor sich. So schnell altert selten einer. So unförmig verwandelt sich selten einer zur lebenden Ruine. Gefragt ist nach den Gründen des frühen Schlusspunktes.
Nur die Caven, die durfte lauter
flöten, die Mama mochte sie; das Biest, sagt Kurtchen, wusste, wie von Mutter und Sohn Ungeheuer es einbringt was in ihre Scheuer. DIe Hochzeit war einmal gewesen, klagt Kurt mit diesem Ingrid-Besen der Rainer war komplett verrückt, der Caven ist das Ding geglückt, nur währte es nicht lange. Ja, sei nur eine Schlange. Und als sie sang, dort zu Paris, da schwankte zwischen Lust und Knies der Zweierbund. Das lief nie rund, das war die Katze mit dem Hund. Das läuft nie rund.
Den ersten beißen die Hunde: Er bat mich 1978, zu seinem Film Die Ehe der Maria Braun den Roman zu schreiben. Das gab es bis dahin nur in den USA, wo sich sogar eine gewerkschaftliche Gruppe von Autoren bildete, die Romane nach Filmdrehbüchern verfassten.
Bei uns sprangen die Kritiker und Feuilletonisten vor Entrüstung in die Luft. Romane werden verfilmt. Der Roman kommt zuerst, dann der Film. Nun wird die heilige Handlung umgekehrt. Das Feuilleton dampfte vor Wut und nährte sein Feuer am trockenen Holz der eigenen Dummheit. Ich zählte bis 44 empörte Zeitungsartikel und hörte dann auf.
Die feinen Herrchen, die sich am heftigsten aufregten, verfertigten hernach hurtig-hurtig Bücher zu hurtigen Filmen. Die Hunde beißen immer nur den ersten. Das Schreiben von Büchern nach den Filmen kam in Mode, die Zeitgeistmodeschöpfer begriffen es spät, aber dann ganz. Ihr Kunsthandmaulwerk bekam zu tun. Es muss nur einer vorangehen.
Tatsächlich wollte Fassbinder den Roman aus werbetechnischen Gründen. Er war 1978 längst ein bekannter, berühmt-berüchtigter Filmemacher. Nicht aber erfolgreich. Er war ein Mann der Filmkunst. Beiträge zur Filmwirtschaft erwartete man nicht von ihm.
Ich schrieb den Roman. Der stern druckte vorab. Nach zwei Dritteln Abdruck wurde der Film uraufgeführt und Fassbinders erster wahrer Erfolg: Kunst und Wirtschaft. Qualität und Zahlen. Als Rainer seinen ersten wirtschaftlichen Erfolg einfuhr, hatte er noch vier Jahre zu leben.
Na schön, dort in Paris, die toffen
Kopfgeburten gaben der Caven Applaus. Das deutsche Fernsehn opferte die Sendezeit dazu. Da hatt' die liebe Seele Ruh. Sie sang noch manchen Abend und so manche Platte voll. Die Freunde fanden's toll. Das Volk, das ging zu Bette. Weil es Gefühle lieber hätte. Statt dieser frechen, steilen, geilen Chansonette, die einst den Rainer hat begurrt. Er hat sie meistens angeknurrt. Das strahlend weiße Unschuldskind. Widerspruch. Lob der Schwäche: Fassbinder verstand sich aufs Taktieren. Seine Verstöße gegen die übliche Moral, sein gequirlter Opportunismus, seine dramaturgisch klug angesetzte Hinterfotzigkeit zählten zu seinen Stärken. Anders wäre er mit den geldhabenden, auftragsverteilenden Medienbeamten nicht klargekommen, denen er imponierte, insofern er anders war, und denen er um den Bart ging, um die Kohle locker zu machen. RWF war ein geniales und zugleich typisches, wenn auch rares Produkt der Mediengesellschaft, ein postmoderner Frühkömmling, dem nichts heilig, nichts ernst, fast nichts unmöglich war. Aber diese Behauptungen sind auch wieder falsch. In seinen letzten beiden Lebensjahren verfeuerte Fassbinder das eigene Leben, als wäre es nichts als die vorgeschriebene Rolle des Selbstmörders. Die letzten Monate zeigten einen aufgequollenen Fettkloß (so oder ähnlich bösartig stand's nach dem Abgang in der taz). Es war der lautgewordene Volksmund. Fassbinders Tod dementierte seine Zugehörigkeit zur Postmoderne, aber nicht zur Medienkultur. Dass die Leiche nach Mitternacht vorm programmlos leerlaufenden Fernsehgerät liegend aufgefunden wurde, setzt der Dramaturgie des RWF die Krone auf. Seine Ästhetik vollendet sich mit dem Weltaustritt, als wär's der junge fette Meister selber gewesen, der Regie führte. Hat er doch auch.
Und wer wünschte sich nicht einen so genehmen, leisen, stilvollen Tod.
Das war das Spiel von Hass und Liebe,
Peer Raben macht Musik dazu. Gage gab's und Streit und Hiebe. Auch viel Erfolg; so manchen Preis und lange Nächte. Ach, wenn Freund Hein den Rainer doch bald wieder brächte. Am Sarge sah man sie vereint im Leid. Die Hanna trug ihr hellstes Kleid. Das hatte ER noch ausgesucht. ER hat die Hanna wohlbetucht. Die FAZ über den lebenden Fassbinder:
„Der Begriff ›Linksfaschismus‹ ist bislang meist im polemischen und jedenfalls ungenauen Sinn verwendet worden. Es liegt ein Fall vor, wo er die Sache, die damit gemeint ist, aufs exakteste deckt. Rainer Werner Fassbinder, ein vielfach preisgekrönter Film- und Theaterregisseur, auch als fortschrittlich geltend, hat in Anlehnung an ein Buch von Gerhard Zwerenz ein Stück geschrieben, das in diesen Tagen vom Suhrkamp Verlag publiziert worden ist. Es heißt Der Müll, die Stadt und der Tod und handelt, wie der Titel andeutet, von der Zerstörung der Städte durch eine rücksichtslose Bauspekulation.
Die Szenerie dieser Moritat bildet zweifellos Frankfurt ... Und gewiss ist inzwischen denkbar, ein Stück mit einer jüdischen Negativfigur zu schreiben. Wie es indessen hier geschieht, bleibt es nicht nur ohne jeden literarischen Wert, sondern ist … nur noch billige, von ordinären Klischees inspirierte Hetze ...“ (FAZ vom 19.3.1976)
Die Irm beweinte ihn als Kind,
wie Kinder eben wirklich sind. Dem Herzen nah, dem Schoß so fern. Sie hatte ihn doch wirklich gern. Vom Spiegel stand der Karasek am Sarg, an seinem langen Eck, ganz wie in guten alten Zeiten stinkbesoffen, von Tod und Leben schwer betroffen. Dem einen eben ist das ganze Leben Film, die Weiber tragen Straps. Die Männer spenden Wärme. Dem andern ist die ganze Welt ein Schnaps. Die FAZ über den toten Fassbinder:
„Mit Rainer Werner Fassbinder haben wir nicht nur den begabtesten Regisseur des neuen deutschen Films verloren, sondern eine unvergleichliche Künstlerpersönlichkeit und vor allem: eine Leitfigur der deutschen Nachkriegskultur. Er ist unvergesslich und unersetzbar.“ (FAZ vom 11.6.1982)
Wir sehen, der lebende Fassbinder war ein mit billigen ordinären Klischees ohne jeden literarischen Wert arbeitender Hetzer. Der tote Fassbinder dagegen ist eine unvergessliche und unersetzbare Nachkriegs-Leitfigur der deutschen Kultur. Was so ein kleiner Tod doch ausmacht.
Die FAZ über den lebenden Fassbinder:
„Natürlich verzichtet das Stück nicht auf ein paar ›progressive‹ Versatzstücke. Pornographische Elemente zählen derzeit dazu, desgleichen der Hass auf die Stadt; und auch der neue Antisemitismus nennt sich fortschrittlich ... In welcher Gestalt der Faschismus von links sich bei uns auch immer offenbart hat, er war von antisemitischen Regungen weitgehend frei. Erst die Politik der Sowjetunion gegen den Staat Israel, die ungerührt antisemitische Affekte mobilisierte, hat auf der linken Szene der Bundesrepublik das Bewusstsein verbreitet, der Antisemitismus sei ein Element der Weltrevolution und habe mit dem Judenhass des Dritten Reiches nichts zu schaffen. Das macht dem linken Antisemitismus das gute Gewissen.“ FAZ vom 19.3.1976) So standen sie am Sarg herum und
blickten traurig ratlos dumm und klug erschreckt, als wären sie erweckt von des Geschickes Mächten. {als ob die jemals das vollbrächten) Der Meister lag im Sarge stumm und lächelte, die Lippen schief, und schlief. Er dachte sich nun gar nichts mehr. Der Sarg war leer. Die Leiche lag im Institut der Anatomen. Die schnitten sich ihr Pfund heraus. Ganz happy, denn das Spiel war aus. Sie kämmten ihm die Haare lang und einer war dabei, der sang das Lied der toten Lale. Die FAZ über den toten Fassbinder:
„Fassbinder praktizierte das Lebensgefühl eines Jugendlichen, er weigerte sich, alt zu werden. Er war von genialischer Produktivität ... begeisterungsfähig, sprunghaft ... Seine Produktivität sollte deshalb nicht verwundern, auch wenn sie erstaunlich anmutet. ...“ (FAZ vom 11.6.1982)
Der tote Fassbinder war genialisch, der lebende machte dem linken Antisemitismus ein gutes Gewissen. Wie das?
Die FAZ über den lebenden Fassbinder:
„Im Übrigen aber scheint der Antisemitismus des Stückes von Fassbinder weniger eine Sache des Ressentiments, als eine der Taktik und des radikalen Schicks. ... Im Hause des Henkers sprechen die Söhne gern schnoddrig vom Strick.“ (FAZ vom 19.3.1976)
Die FAZ über den toten Fassbinder:
„Viel Zeit ließen sich auch die Programm-Verantwortlichen des ersten und des zweiten Programms mit der üblichen Wiederholung eines Films des Verstorbenen ... War den Programm-Verantwortlichen etwa ein populärer Sendetermin am frühen Samstag- oder Sonntagabend der Ausstrahlung eines Fassbinder-Films nicht würdig? Haben sie etwa den Rang des Regisseurs innerhalb der deutschen Film-, ja innerhalb der internationalen Kunstszene nicht einzuschätzen gewusst? ... Sei es mangelnde Sensibilität, sei es ein gewisses Unvermögen oder Desinteresse: die Versäumnisse des Fernsehens sind in diesem Falle besonders zu beklagen ... “ (FAZ vom 14.6.1982)
Wenn hier besondere Versäumnisse des Fernsehens zu beklagen sein sollten, wieviel mehr erst sind die Versäumnisse der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zu beklagen? Ihre Falschmeldungen, ihre wüste Hetze, ihre Verdächtigungen?
Da stieg die Hanna auf den Sarg.
Lily Marleen erklang. Der Deckel brach. Die Menge schrie. Die Hanna hatte Blut am Knie. Die Zeiten sind verschoben. Wer wird denn einen abgetretnen Toten loben. Die Menge lacht, die Erde bebt, die Feinde haben überlebt. Dem WDR, dem tut es leid, dem fehlt der Filmemacher sehr, dem war er doch ein Zeitvertreib. doch nein, der Rainer dreht nicht mehr. Fordert das seriöse Blatt nun eigentlich vom Fernsehen, dass es einen linksfaschistischen Antisemiten extra feiere, oder dementiert es damit seine eigenen früheren Gifte? Wem ist zu glauben, jener Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die den lebenden Fassbinder des linksfaschistischen Antisemitismus bezichtigte und damit mindestens einen Film und ein Theaterstück verhinderte, wobei hinzu kam, dass der gedruckte Text zurückgezogen werden musste – oder der anderen Frankfurter Allgemeinen Zeitung, die den nun toten Fassbinder nicht hinreichend gewürdigt findet? Welche FAZ hat jetzt recht und welche nicht?
Dle FAZ über den lebenden Fassbinder:
„Seit einigen Wochen und Monaten gibt es einen kulturpolitischen Streit, der in der Bundesrepublik als unvorstellbar galt. Gegen einige Kunstwerke ist öffentlich der Vorwurf erhoben worden, sie seien antisemitisch ...
Eröffnet wurde die Reihe dieser Werke schon vor über zwei Jahren durch den Roman Die Erde ist unbewohnbar wie der Mond von Gerhard Zwerenz ... Nach dieser Vorlage hat Rainer Werner Fassbinder ein Filmdrehbuch und ein Theaterstück geschrieben, in beiden sind die negativen, ja abstoßenden Eigenschaften des Juden Abraham im Vergleich zur Romanvorlage eher noch stärker betont. Nicht zu vergessen ist schließlich, dass Hansgünther Heyme vor rund einem halben Jahr in Köln die Dreigroschenoper inszeniert und darin den Wucherer und Bettlerkönig Peachum mit jüdischen Zügen ausgestattet hat ...
Es versteht sich, dass die betreffenden Künstler, soweit sie in dieser Sache das Wort ergriffen, von einer neuen ›Zensur‹ gesprochen haben. Und es versteht sich, dass eine ausgedehnte Lobby diese Begriffsverdrehung in möglichst viele Köpfe hineinzubringen sucht. In Wahrheit handelt es sich nicht um Zensur, sondern um legitime demokratische Kontrollmechanismen, wie sie in einer Demokratie wünschenswert und notwendig sind.“ (FAZ vom 2.4.1976)
Das Publikum, das Unikum, das
alles sieht und kaum versteht, das sitzt herum und glotzt. Wer wird von Bild nun angekotzt? Wer macht den Ärger jetzt mit dunklen Bildern, wo alle Sitten sich verwildern, der Biberkopf, stieg er ins Bett, da rekelte das Weib sich nett. Dann fehlte es am Lichte, wurde Nacht, ist das Kultur, wenn keiner weiß, wie Biberkopf den Akt vollbracht? Die bösen Briefe liefen heiß. Wir begreifen, die Zensur ist keine Zensur, sondern demokratischer Kontrollmechanismus. Nur eine linksfaschistische Lobby will das anders sehen und sucht es in möglichst viele Köpfe so falsch hineinzubringen. Sie brachte es auch in einen FAZ-Kopf hinein, denn über den toten Fassbinder lesen wir da nun am 11.6.1982: „Gestoppt wurde damals auch die Aufführung von Fassbinders Frankfurt-Stück Der Müll, die Stadt und der Tod. Für die nächste Spielzeit plant Adolf Dresen für das Frankfurter Schauspiel eine Inszenierung des damals heftig diskutierten und umstrittenen Stücks, dem antisemitische Tendenzen vorgeworfen wurden. Sollte die Aufführung zustande kommen, wird man sie nun auch anders sehen müssen: als Hommage an den Theaterautor und Bühnenregisseur Fassbinder. ...“
Nur der tote Fassbinder ist ein guter Fassbinder. Seinem Stück „wurden“ damals „antisemitische Tendenzen vorgeworfen“. Von wem? Wer begann den Feldzug? Wer war Meister in Verdächtigungen und falschen Beschuldigungen?
Begonnen hatte es in der FAZ mit dem Artikel „Reicher Jude von links & Zu Fassbinders Stück Der Müll, die Stadt und der Tod“. Sechs Jahre später ist Fassbinder tot, und in der FAZ liest sich's ganz anders.
Wer lügt hier? Hat gelogen? Wird lügen? Wer verdächtigt blind oder gezielt, unterstellt, hetzt, verletzt, kühlt sein ideologisches Mütchen? Wer kann das tun, im Vollbesitz der Medien, die zur Verfügung stehen?
Die Leserbriefe, Seherbriefe waren
Schweiß der vielen, die nicht sahen, was sie gar nicht sehen wollten. Ach, wenn doch endlich Köpfe rollten. Ist das Kultur? Für soviel Geld? Regiert denn nur noch Geld die Welt? Ein jeder möcht' es selber haben was die dem schwulen Filmer gaben. Dafür, dass niemand recht erblickt, wie Biberkopf die Weiber fickt. Dem Döblin eine Gasse? Später ja – rings um die Welt – macht so was Kasse Die genau gezielte Ladung einer Zeitung kann tödlich wirken. Journalisten können gefährlich sein wie Pistoleros, das ist das Risiko einer Freiheit, auf die wir nicht verzichten möchten. Also nehmen wir die Todesschützen in Kauf.
Da es aber auf diesen westlichen Prärien des größten Geldes, wo die Scharfschützen noch abgebrühter sind als die Killer im Westernfilm, keine Gerichte und keine Ankläger gibt, sind die Freunde gezwungen, Solidarität mit den Opfern zu üben, in Selbsthilfe. Wer hierzulande nicht beizeiten lernt, dem Hinterhalt auszuweichen, der muss wenigstens cool aus der Hüfte zurückschießen lernen.
Am 1.10.2009 brachte Roberto Ciulli im Mülheimer Theater an der Ruhr Fassbinders Müll-Stück heraus, das danach auch für andere Bühnen frei ist. Die FAZ palavert am 5. Oktober vom „Weichzeichnungstheater“, einem „szenischen Pamphlet“, das „pathetisch der Wirklichkeit “ entrückt sei. Die Burschen sind sauer, weil sich die Aufführung weder in ihre Todfeindschaft noch Heldenverehrung einpassen lässt.
Unterdessen widmete das furiose Doppel Schröder & Kalender dem Fall in seinen taz- Blogs 1 – 3 (ab 1.10.09) ein paar herzhafte Enthüllungen samt Beweisaufnahme. Wir werden auf Geheimnisse der Mai(n)käfer noch zurückkommen. Jetzt nur soviel: Wer Jonathan Littells SS-Monsterroman Die Wohlgesinnten nicht wegen Antisemitismus verwarf, sondern ihn im Blatt verdienterweise gar teilabdruckte, kann Fassbinder nicht Antisemitismus nachsagen, ohne zu erröten, was freilich im partiell rußschwarzen Feuilleton nicht zu realisieren wäre. Zu Littell äußerten wir uns u.a. in der Folge 31 „Blick zurück auf Wohlgesinnte“.
Weil aber bereits jetzt schon immer wieder Fragen gestellt werden, verweisen wir auf die Bücher: Der langsame Tod des Rainer Werner Fassbinder (Schneekluth, München 1982) und Die Rückkehr des toten Juden nach Deutschland (Verlag Max Hueber, München 1986). Beide Bände sind vergriffen, doch antiquarisch noch aufzufinden.
Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 19.10.2009.
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