Die Jahre von 1967 bis 71 verbrachten wir in München, wo wir am Stadtrand in Waldtrudering ein altes Haus mit fünf winzigen Räumen bewohnten. Im ersten Zimmer starb der Großvater von Tag zu Tag etwas mehr ab, zwischendurch hörte er Mozart-Schallplatten und Lieder aus den Zwanziger Jahren, die reinste Nostalgie, las, sah fern oder schlief ein und schnarchte, dann zog die Großmutter sich in Zimmer zwei zurück. Die oberen drei Räume nutzten Ingrid, unsere Tochter Catharina und ich. Im Münchner Winter bei großer Kälte sank die Temperatur trotz Zentralheizung unter das Limit der Bewohnbarkeit. Halbstundenweise flüchteten wir hustend und niesend in die wärmeren Räume nach unten. Der gemächlich dahinsterbende Vater von Ingrid empfing gern Gäste. Willkommen rief er, die Arme hochhebend. Dann sank er von Erschöpfung überwältigt um und schlief ein. Ich hockte wieder oben im Pelzmantel, die Füße tief im Fellsack vor der Schreibmaschine und versuchte mich an der Bewältigung meiner Gegenwart, ein Stück weiter saß Ingrid in einem winzigen Dachkämmerchen, mit dem Rücken am elektrischen Heizofen, an unserer zweiten Olivetti und tippte meine Versuche ins Reine. Von Zeit zu Zeit stand einer von uns auf, kratzte das Eis vom Fenster und blickte in die Schneelandschaft hinaus. Mächtige hohe Fichten standen ringsum. Wöchentlich einmal nahm ich den Wagen aus der Garage und raste in die Stadt nachsehen, wie weit es war mit der Studentenrevolte und ob sie mit dem übereinstimmte, was man in den Zeitungen darüber las. Ich parkte den Wagen am Wittelsbacher Platz, wo eine freundliche stämmige Frau immer eine Lücke zu schaffen wusste und lief dann langsam die Ludwigstraße Richtung Schwabing und Universität entlang. Man konnte für ganze Tage und Nächte in Schwabing verschwinden.
In den Jahren 68/69 dann einmal monatlich die Autobahn nach Frankfurt. Überraschungen kommen aus den Städten, wo sich das Leben zusammenballt. Reichtum, Armut, Erotik, Laster, Gier, Konkurrenzkampf, Veredelung und Vertierung, die Faszination der plötzlichen Hässlichkeit, derer wir ansichtig werden an einer Straßenkreuzung, und die Faszination einer Liebe, der wir anheimfaIlen, weil wir irgendein Gesicht oder irgendeine Gestalt vor uns sehen, für Sekunden nur, in denen wir der Ewigkeit zugleich guten Tag und auf Nimmerwiedersehen sagen. Ich finde München, Köln, Hamburg und Berlin schöner als Frankfurt, diese Krone des Versäumten, Verpassten, Verpatzten, Verstümmelten. Obwohl die Goethe-Stadt dem Gipfel des Zerfalls zustrebt, liegt sie mir näher als jede andere, selbst wenn ich davor flüchte. Die Vorliebe für schnelle Wagen, der ich nie gänzlich nachgebe und nie gänzlich widerstehe, wurzelt in der beruhigenden Gewissheit, die der starke Motor verleiht, kann man ebenso eilends davonfahren wie zurückkehren. Zunehmende Zerrissenheit heutiger Metropolen, die ihre begüterten Schichten nach draußen entweichen lassen, die Klasse der Bourgeois hält den Taunus besetzt, Erneuerungen innerhalb der Städte finden kaum noch statt, Vitalkräfte versiegen, der Aufstieg vom Krieg heimgekehrter Generationen endet in fatalem Stillstand, wo die Restbestände europäischer Klassenkulturen verkümmern.
Der Besitzbürger glaubt seine Ordnung geregelt und gefestigt und wo nicht, lässt er die Ordnung wiederherstellen von den Söldnern aus den Vorstädten. Die Arbeiter aber, ebenso verunsichert wie teilkorrumpiert, finden zu keiner solidarischen Anstrengung mehr, jeder wirkliche Kampf ist kanalisiert, Entwicklungen gibts einzig auf technischen Gebieten. Vor dem großen Haltesignal Fernsehen verharren Klassen und Rassen in überirdischer Reglosigkeit, bis sie ihren eigenen Göttern ähneln, vorgestellte Mythen -Vergangenheit und darüber die Beton-Katarakte mit unentschlüsselbaren Grabinschriften.
In Frankfurt residierte der gewichtige, umtriebige Horst Bingel in einem neuen Verlagsunternehmen, das er auf die seltsamste und abenteuerlichste Weise zustandegebracht hatte. Dieser Heinrich Heine Verlag, typisches Produkt einer revoluzzernden Einlage, die sich die Bundesrepublik gestattete, erfüllte vorübergehend viele Autoren der Neuen Linken mit großen Hoffnungen. Ungeheure Pläne wurden entworfen, ausgedehnte Diskussionen durchgestanden, gespenstisch diffuse Utopien zur deutlichsten Gegenständlichkeit materialisiert. Das Zeitalter realer Träume brach an. In ständig wechselnden Diensträumen oblag Horst Bingel seinen ausufernden Beschäftigungen, Telefone klingelten, Sekretärinnen kamen um Unterschriften ein, unbekannte Autoren begegneten erblassend dem eigenen zukünftigen Ruhm, bekannte Autoren gierten nach Kollektivarbeit, gemeinsamen Erfahrungen und den umwerfenden Expeditionen ins Reich des offensichtlich ausbrechenden, mindestens unabweislich nahenden Sozialismus. Human sollte er sein, antiautoritär und jugendlich, ganz erotische Vitalität, Verwirklichung genialer Entwürfe.
Der Heine Verlag erlebte eine kurze Blüte und ein schnelles Ende.
Er war als Unternehmen von vornherein so obskur wie unmöglich, eine Treibhauspflanze überhitzter Zeiten. Keiner wusste genau, wer eigentlich was zu sagen hatte, woher die Gelder stammten, alles wurde ad hoc entschieden, man improvisierte, spekulierte, schwadronierte. Gerade diese ingrimmige Leichtigkeit und kunstvolle Luftigkeit, das gänzliche Fehlen jeder Seriosität verstanden wir als gutes Zeichen, denn darin unterschied sich das neue Unternehmen von allen alten Verlagen. Die Revolution sollte mit gänzlich ungewohnten Organisationsmodellen einherschreiten. Wer wollte da engherzig, kleinbürgerlich, beckmesserisch nach Rationalität und Rentabilität fragen? Hatten wir stundenlang debattiert, brach die ganze Verlagsschwadron auf, ein anständiges Mittagessen einzunehmen. Man speiste bei einem hochgerühmten Italiener.
Am Abend brauste ich im BMW 2001 ti wohlgemut gen München, den Kopf noch voller schwirrender Gespräche. Wieder waren neue Entwürfe im Entstehen. Die Edition Voltaire kam geschlossen in den Heine Verlag. Dutschke, Bernward Vesper, Hans Jürgen Krahl, Teufel, Langhans würden dabei sein. Namen waren das, hell und gleißend wie in den Nachthimmel geschossene Feuerwerksraketen. Die Ernüchterung folgte sofort. Dutschke in den Kopf geschossen, Krahl tödlich verunglückt, Vesper im Selbstmord geendet, Teufel eine Parodie seiner selbst, Langhans eingegangen ins Schwabinger Wachsfigurenkabinett. Mir war zumute wie 1957 in der DDR, als die letzten Freunde verschwanden.
Auf der Buchmesse 1969 fragte ein Amerikaner die Mitarbeiter des Verlages, ob er bitte Mr. Henry Haine sprechen könne, ich nahm's als bedenkliches Zeichen. So wenig Heine-Kenntnis in der Neuen Welt, dass man den Mann unter den Lebenden wähnte. Totgesagte leben länger, sagt man. Sind für lebend erklärte Verstorbene nicht desto nachhaltiger tot?
Der emsige unermüdliche Bingel dementierte das nahende Verlagsende immer erbitterter. Später erfuhr ich, der mittellose Mann stürzte sich Kopf über in monströse Schulden, beschaffte Gelder werweißwoher, wütete und wüstete, ein nach Büchern verlangender, tablettenschluckender Berserker, der immer massiger und turbulenter wurde, ständig Grippe hatte, zwischen diversen Pillen antiseptische Bonbons lutschte, sich unablässig die Hände wusch, Antibiotika heranschleppte, für Momente abschaltete, wie nicht vorhanden hinterm Schreibtisch in sich zusammensank, mit einer Explosion neuer Ideen wieder zur Gegenwart vorstieß, in den Augen schon den Vorschein totaler Resignation. Es wird am Ende alles vergeblich gewesen sein. Man darf sich aber nicht geschlagen geben.
Kapitaldecke und Organisationsform des Heinrich Heine Verlages erwiesen sich schnell als unzulänglich. Der Wettlauf mit der Pleite begann bereits am Tag der Verlagsgründung. Der Millionär, der hinter dem Unternehmen stand, mag sich in schöner Arglosigkeit Profite von Blauen oder Roten Blumen erwartet haben, sein Matador, der Lyriker Horst Bingel entwickelte sich zum ausschweifenden Epiker. Hätte Horst seine gutgegliederten Wortströme, die er, den Heine Verlag zu starten und zu erhalten, gesprochen hat, auch niedergeschrieben, er wäre der fruchtbarste deutsche Romancier.
Auch bei den späteren monatlichen Frankfurter Treffen mangelte es nicht an wahnwitzigen Plänen. Je schlechter die Verlagswirklichkeit, desto hochfliegender unsere Zukunftsentwürfe. Modelle wurden entwickelt, deren Faszinationskräfte riesige Energien freistießen. Wäre unseren Köpfen statt Phantasie elektrischer Strom entwichen, hätten wir ganze Städte beleuchten können.
Es kann auf Dauer nicht gut gehen, werden in einer kapitalistischen Umwelt kollektive Arbeitsformen angestrebt. Der Heine Verlag wurde von einem Millionär finanziert, hinter einem Mitbestimmungs- und Mitarbeiterpapier versteckt und von den Wunschträumen des Lyrikers Bingel so begeistert wie fehlkalkuliert vorwärtsgetrieben.
Jede einzelne Niederlage des Verlags endete mit der Bingelschen Versicherung: Jetzt kommen wir ganz groß raus! Darauf folgte eine neue Panne, und Bingel schwor: Das nächste Mal packen wir es! Was kümmern einen die lahmen Finanzen, hat er nur einen herrlichen, unbesiegbaren Traum!
Eines unserer Lieblingskinder war ein Verlag der Schriftsteller. Die Autoren sollten selbst Produktionsmittel in die Hand bekommen. Der besitzhabende, zuständige Millionär nickte anstandslos mit dem Kopf, trugen wir ihm unsere Wahnsinnsprojekte vor. Was hinter seiner Stirn vorging, war klar. Wir ignorierten es und suchten Zuflucht bei den Gewerkschaften. Noch bevor der nachmalige Schriftstellerverband entstand und die, wie ich meinte, falsche gewerkschaftliche Organisation empfahl, eröffneten wir die Gespräche und fuhren nach Düsseldorf zum DGB-Bundesvorstand. Rosenberg, damals an dessen Spitze, empfing uns mit offenen Armen. Bingel redete in Engelszungen, länger als eine Stunde. Die hohen Herren waren angetan. Jeder nickte jedem aufmunternd zu. Wir rannten sämtliche offenen Türen ein. Autorinnen und Autoren, die in die Gewerkschaft kommen wollten, großartig, diese Leute. Wir fanden uns alle gegenseitig ungeheuer sympathisch. Prächtig, prächtig, diese DGB-Bosse.
Heimgekehrt schrieb ich einen langen Artikel, der in den Gewerkschaftlichen Monatsheften erschien. Eine schriftstellerische Organisation schwebte uns vor, in der die Anstöße und Aktivitäten von der Basis ausgehen sollten. Es waren sehr romantische Zeiten damals. Vielleicht werden irgendwann, in grauer Zukunft, ein paar kluge Historiker erkennen, dass die kurzen schnellen Jahre der Studentenrevolte eine kulturelle und intellektuelle Blütezeit gewesen sind, allerdings wurde die Blüte bald verhagelt.
Eines der ersten Bücher im Heine Verlag war mein Band Die Lust am Sozialismus. Das Manuskript von runden dreihundert Seiten kürzten Puttnies und Bingel auf ein Drittel, damit es nicht zu teuer würde. Alle historischen und phänomenologischen Kapitel entfielen.
Nur polemisch zugespitzte Sätze blieben übrig. Das fertige Buch kam mir vor wie ein untergeschobenes Kind. Ich war der Vater und war es nicht. Doch die Kurzfassung ging. Eine erste Auflage von sechstausend Stück war im Handumdrehen weg. Eine zweite Auflage wurde gedruckt und nicht mehr ausgeliefert. Der Verlag meldete Konkurs an.
Ernst Jandl, Witold Wirpsza, Horst Bingel, Gerhard Zwerenz (von links nach rechts).
Bingel moderiert eine Lesung in der Werkshalle beim Frankfurter Proletariat »Merke dir seinen Namen gut, du triffts ihn wieder: es war Kain.« Wer ist das »es«? Wer ist da Kain?
In Bingels Frankfurter Wohnung, Wiesenau 10, fand sich ab 1961 eine kleine Gesprächsgruppe ein. Der »Literaturquirl« knüpfte Kontakte, die ihn bald zum kulturellen Organisator weit über Stadt- und Landesgrenzen hinaus werden ließen. Von den Teilnehmern nenne ich hier Generalstaatsanwalt Fritz Bauer und den Kriminologen Prof. Armand Mergen. In etwas erweiterter Besetzung traf man sich auch in Conni Reinholds Kabarett Die Maininger nach der Vorstellung, wo oft Karl-Hermann Flach hinzukam, FDP-Generalsekretär, der von der Frankfurter Rundschau, in der er arbeitete, herübereilte. An andere erinnere ich mich nicht oder mag mich nicht erinnern. Es gab Infiltrationen. Ich nahm an, Fritz Bauer werde wegen seiner aktiven antifaschistischen Rolle in Vergangenheit und Gegenwart beschützt, der Frankfurter Auschwitz-Prozess ist ohne ihn nicht denkbar, Eichmanns Festnahme war mit seinem Spürsinn verbunden. Bauer jedoch wurde weniger beschützt als beschnüffelt, von wem auch immer. Ich bat Bingel, zwei Herren nicht mehr einzuladen. Im Keller der Maininger erschienen sie weiterhin. Die Mainmetropole war ein Agentenstadl, kein Wunder, dass Guillaume hier seine Bonner Laufbahn perfekt vorbereiten konnte. Wer aber ist Kain? Die damalige diffuse Konstellation wurde mir erst später bewusst, anfangs glaubte ich mich in einer Freundesrunde, in der ungescheut diskutiert wurde und in der ich gelegentlich aus meinen Büchern vorlas, bevor sie im Druck erschienen. Jedenfalls versuchte ich, weder Kain noch Abel zu sein. Meines Freundes Horst Bingel gedenke ich nicht ohne Wehmut.
Mit guten Gründen ernannte ich diesen urtümlichen Hessen zum Ehren-Sachsen. Überhaupt fühlte ich mich von allerhand Ehren- oder Unehren-
Kollegen, Kollegen
(1982) Der Herhaus säuft, oder er säuft nicht Es wird immer ein schöner Roman draus. Der Hans Frick schwang sich auf seine Stewardess und entflog nach Portugal. Der Horst Bingel produzierte schweigend ein zehn Jahre langes Gedicht. Der Peter Härtling reitet auf seinen Bestsellern über die Startbahn West. Die Gabriele Wohmann wird zur kurhessischen Großfürstin von Darmstadt gewählt. Der Herbert Heckmann präsidiert, leitet, sitzt vor oder nach. Der Karl Krolow, seit Jahrtausenden ein Klassiker, lächelt dezent dazu. Der Horst Krüger leitet das Amt für Werbung und Fremdenverkehr von Bad Frankfurt. Na und diese Ingrid Zwerenz dichtet indessen alle meine vielen Bücher. Während die Kollegen vom Schriftstellerverband sich einen Ring durch die Nase ziehen lassen. Am Montag, den 7. Juli 2008, erscheint das nächste Kapitel.
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Gerhard Zwerenz
Serie
Nachworte
Aufsatz
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