Die Internationale der Postmarxisten
Die drei Gefallenen aus Stalingrad kommen zum Abendessen. Nehmen infolge Entwöhnung wenig zu sich. Sind scharf auf meinen purpurnen Rioja, den sie wegsaufen als wär's vom Fass. Wir stoßen aufs ewige Leben an. Es ist laut Kalender der 8.9.2010, um 21 Uhr 45 sendet die ARD einen Bericht über die geheime KSK der Bundeswehr. Die Stalingrader lachen als steckten sie tief im Untergrund. Was ist mit eurem Verhüllungsverbot? fragen sie. Wir stottern herum. Gesicht zu vermummen ist nur für Demonstranten verboten. Elitesoldaten müssen sich vermummen, um beim extralegalen Töten nicht erkannt zu werden. Die Kameraden zucken zusammen. Das komplizierte Wort ist ihnen wohl unangenehm. Als Tote sind sie den Sprachmodedesignern unendlich fern. Wir aber leben noch. Marx promovierte 1840/41 in Jena. Seine Dissertation ist verschwunden. Es gibt eine nicht komplette Abschrift, von Marx legitimiert, doch erst seit 1927 gedruckt vorliegend. Der Titel Über die Differenz zwischen demokritischer und epikureischer Naturphilosophie dient laut Verfasser der „vollständigen Konstruktion des Selbstbewusstseins“, was Bloch zu seiner Konstruktion des „Natursubjekts“ nutzte. Beim Blick nach Paris verwundert die wechselnde Haltung Derridas zu Marx. Der „Philosoph der Differenz“ hätte schon von seinem Kennwort Differenz her Marx eindeutig integrieren können. Nehmen wir Blochs „Natursubjekt“ als Metapher für die Entdeckung und Konstruktion des menschlichen Selbstbewusstseins, wie Marx es nannte, wird der Impuls zur Revolte sichtbar. Epikurs Atome mit ihrer Abweichung (Deklination) von Demokrits Atomregen begründen die Differenz. Der Heidegger von Sein und Zeit des Jahres 1927 wurde ab 1933 bis 1945 SA-Mann. Bloch musste 1933 exilieren. Lange vor den kritischen französischen Meisterdenkern des Nachkriegs hatte es kritische deutsche Marxisten gegeben. Auch nach dem Ende des 2. Weltkriegs bildete sich eine Schule des lebendigen Marxismus heraus, die 1957 in Leipzig zerschlagen wurde. Diese Schule der Philosophie ist ein Lehrbeispiel sprachlicher und realer Differenzierungen. Bloch, der sich auf das Differenzdenken des jungen Karl Marx berief und dessen Dekonstruktions- Die Duplizität des Disparaten hält bis heute an. Von den um Brecht versammelten Linksintellektuellen, die vor Heidegger warnten, noch bevor er der Hitler-Partei beitrat, um „den Führer zu führen“, blieben Lukács und Bloch lebenslang motiviert. Mit Brecht zusammen bildeten sie eine aktive linke Dreiergruppe. Brecht starb 1956. Lukács und Bloch wurden im selben Jahr repressiert und exkommuniziert. Die Erstarrung des Marxismus, von Stalin nach Lenin/Trotzki im Sowjetreich verfügt und zementiert, hatte die besetzten Gebiete erreicht. Der Rest ist philosophische Abraumhalde wie Europa nach der deutschen Vereinigung.
Ingrid Z. zu Blochs letzter Leipziger Vorlesung (3)
Bloch redete an diesem Dezembertag im Jahre 1956 Klartext, Überschrift: „Probleme der Fortentwicklung des Marxismus nach Marx.“ Das wurde sein Schwanengesang an der Pleiße. Für die Partei galt der historische und dialektische Materialismus als unveränderbar und abgeschlossen. Der „parteilose Bolschewik“ riskierte in der Aufbruchsstimmung nach dem 20. Parteitag der KPdSU neue Aspekte, wobei er sich mit dem Lenin-Wort vom „Träumen nach vorwärts“ wappnete und dem Hinweis, dass Lenins philosophischer Nachlass voller „nahrhafter Notizen“ stecke. Der SU-Staatsgründer hatte mehrmals angemerkt, „die Grenzen zeitlicher und regionaler Art bei Marx müssten beachtet werden, gesellschaftliche Schranken seien ins Kalkül zu ziehen, das mache den echten Marxisten“ aus. Diese Sätze waren provozierend, die Partei hielt sich mit ihrer fertigen ML-Wissenschaft für perfekt und im Besitz absoluter Wahrheiten. Der aufmüpfige Professor stichelte weiter: „Auch das Beste kann durch ständige Wiederholung abgedroschen werden, kurzum: Der Marxismus ist per definitionem Erneuerung, dazu gehört Mut, revolutionärer Elan, keine Routine, sondern materialistisch begriffene Hoffnung.“ Und noch eins drauf: „Die Märtyrer des Marxismus sind nicht für ein durchorganisiertes Produktionsbudget gestorben.“ Das sagte der Philosoph in einem Staat, der das höchste Ziel in der Erfüllung diverser Zwei- und Fünfjahrespläne sah und es doch nicht schaffte, weil er die Ökonomie verabsolutierte und das Individuum, den „subjektiven Faktor“ in der Gesellschaft vernachlässigte. Von einem ständig erneuerungsbedürftigen Marxismus zu sprechen, war 1956 in der DDR ein Wagnis. Sartre äußerte sich ähnlich, wenn er den „faulen Marxismus“ in der KPF beklagte, einer Lehre also, deren Vertreter im Gewesenen verharrten und nicht weiterdenken wollten. Damit machte er sich bei den französischen Kommunisten, mit denen er immer mal wieder zusammenarbeitete, nicht eben beliebt, doch waren die Konsequenzen in Paris nicht so verheerend wie in Leipzig. Einen Lehrstuhl konnte Sartre nicht verlieren, weil er keinen innehatte. (soweit Ingrid zur letzten Leipziger EB-Vorlesung) In seiner Einleitung zu Jacques Derrida warnt Heinz Kimmerle vor „oberflächlichen Formen des Derridismus in Deutschland“ und „Wortspielereien“, die sich „im Gebrauch des Wortes Dekonstruktion erschöpfen.“ Es gehe vielmehr darum, über die bisherige Philosophie hinauszugelangen und den traditionellen philosophischen Diskurs zu öffnen, denn die Dekonstruktion der Philosophie ist differente Philosophie. So kommt Kimmerle zu Nietzsche, zur Philosophie, Kunst, Politik und einer neuen Praxis des Schreibens „nach Derrida“. Dem Diskurs der französischen kritischen Philosophie steht der nicht weniger kritische Diskurs zwischen Rhein und Oder gegenüber. Marx dekonstruierte mit dem Gesetz der Profitmaximierung den Klassencharakter der Bourgeoisie. Nietzsche dekonstruierte Gott und Kaiser und endete als Gottheit des Übermenschen, bis mit den Marxbrüdern Lukács und Bloch im Namen Stalins und bald in seinem Schatten dessen Dekonstruktion begonnen wurde. Die Prä- und Neostalinisten, die 1956/57 beide Marxbrüder stürzten, wussten das nicht und fegten nur ihre Karrieregefahren beiseite. Walter Ulbrichts Stoßrichtung wurde von seinen Genossen Fröhlich und Wagner benannt, wenn sie bedauerten, dass die Werke von Lukács und Bloch in der DDR unkommentiert erschienen waren. So sprachen Zensoren, die nun an die Stelle der Dekonstrukteure des Stalinismus rückten. Fröhlich ins Politbüro, Wagner in ZK und Regierung, Mielke an die Stelle Wollwebers. Der ostdeutsche Zweig der dekonstruktiven Philosophie wurde von der Partei als parteifeindlich abgehackt. Es war das Ende einer linksintellektuellen Legalität, die sich die Marx-Brüder und ihre Gefährten im antifaschistischen Kampf errungen hatten. Das Ende des sowjetischen Marxismus folgte nach. Die Differenz zwischen den französischen und ostdeutschen Dekonstruktionisten liegt in der Stellung zu Marx. Die Pariser Intellektuellen waren Marxisten, Maoisten, Sartre-Jünger und wendeten sich gegen ihre früheren Meister. Die ostdeutschen Meisterdenker erprobten die Heimkehr von Stalin zu Marx. Das Dilemma benennt Kimmerle kurz und bündig: „Mit Heidegger und Nietzsche könnte man sagen, dass diese Bewegung im Gebiet des Nihilismus verläuft.“ Das trifft auf die Erkenntnisse unserer Marx-Bruderschaft nicht zu. Wir nennen das Dekonstruktion plus.
Ingrid Z. zu Blochs letzter Leipziger Vorlesung (4)
Diametral entgegengesetzt ist das Urteil Sartres und Blochs über einen dritten – Martin Heidegger, zu dem Sartre sich auch noch bekannte, als nach 1945 dessen fatale Nähe zum Nazismus publik wurde. Dies entwerte nicht, sagte Sartre, Heideggers frühere Schriften. Ganz anders bei Bloch: „Hauptnichtdenker Heidegger – den Nazis bis zum bitteren Ende treu. Er hat Ahnen gesucht: Kierkegaard, Sokrates, Augustin. Scheinhaft anthropologischer Charakter des Existentialismus. Zwischen diesen ›Ahnen‹ liegen gesellschaftliche Abgründe. Introvertierte Irratio soll geschaffen werden. Kommt von Husserl her, Umschlag von Wesenheiten zur Befindlichkeit, in der ich bin. Erlebnisserei bei verdunkelter Außenwelt. Worte werden zu Tode gehetzt, etymologisch falsch, berüchtigte Heidegger- Diese Hypertrophierung von Angst, die zudem nur konstatiert und etabliert, jedoch nie in ihren gesellschaftlichen Ursachen analysiert wird, ging dem Hoffnungsdenker Bloch entsetzlich auf den Geist, sozusagen auf den Geist der Utopie, er bezeichnete den derart pessimistisch philosophierenden Kollegen gern als „Professor für Angst und Sorge.“ Blochs vorhin zitierte Definition „Hauptnichtdenker Heidegger“ ist rigoros, liest man jedoch nach, was der getreue NSDAP-Gefolgsmann Martin H. – Mitgliedsnummer 3125894 – äußerte, ist sie berechtigt. So „schätzte Heidegger im Jahr 1931 an Hitler besonders hoch dessen Bereitschaft zum Handeln“, und bei seiner Rektoratsantrittsrede 1933 formulierte er: „Hitler ist mehr als die Idee, denn er ist wirklich.“ Da kann man doch zugunsten des vielgerühmten Weltweisen nur annehmen, dass er all das nicht gedacht, sondern gefühlt hat. ( Ende IZ-Text 4) Um Bloch nicht weiter zu belasten, mied ich ab Herbst 1956 das Philosophische Institut und stellte auch die privaten Besuche in der Wilhelm-Wild-Straße ein. In den Vernehmungen betonte ich energisch meine Zurückhaltung, was die Herren Genossen verwirrte, doch ihre Geheiminformationen bestätigten meine Worte. Allerdings reagierte Bloch selbst etwas verwirrt auf mein Ausbleiben, was ihn später verunsicherte, weil dienstbare Kleingeister andeuteten, ich sei umgedreht worden und als geheimer Kundschafter in den Westen gegangen. Hans Mayer, der es besser wusste, schwieg dazu, als Bloch ihn danach fragte. Das verübelte ich Mayer, war er doch hinreichend informiert. Das bringt mich auf Fritz J. Raddatz, der sich in seinen jüngst veröffentlichten Tagebüchern über seinen früheren Herzensfreund Mayer auf unfeine Art lustig macht. Ich lese eben den Vorabdruck Was tun wir alle miteinander uns an? (FAZ 5.9.2010) Das Blatt führt den Text in derselben schäbigen Tonart ein: „Die beschriebene Welt: der Schriftsteller- und Kritiker-Kosmos. Also: die Hölle der Lemuren, Monster und einsamen Sucher nach Liebe.“ Im Austeilen von Häme, Eifersucht und vergifteten Komplimenten standen sich Raddatz und Mayer gewiss nicht nach. Nur hatte Mayer als der Ältere und als jüdischer Kommunist im Dritten Reich eine weitaus gefährlichere Leidenszeit hinter sich. So entstehen Typologien. Mayer und Raddatz wollten immer, wo auch immer, etwas ganz Großes werden. Dafür erwies sich die kleine DDR als zu eng. Dennoch stehen sie als Ost-Typen in der Kulturgeschichte. Mayer – ein tragischer Fall, Raddatz – eine Schwalbe namens Dandy. Auch Gauck ist eine Ost-Type. Der stille Prediger von der Ostsee – heute strahlender Sieger im Westen. Sarrazin spielt dagegen in der Zweiten Oberklasse, die auch noch reichen sollte fürs Germanische Nationalmuseum. Das Epochen-Werk von Marx ist die Dekonstruktion des Kapitals als Produktivkraft und Vernichtungsqualität. Erst die Chinesen zogen daraus die Konsequenz, den Kapitalismus unter das Kommando einer kommunistischen Führung zu stellen. Vom Sieg Maos ausgehend und den sowjetischen Abstieg voraussehend entwickelten Chinas Kommunisten ihre spezifische Art, das Riesenreich zu fragmentieren, bis die „Sonderwirtschaftszone“ Shenzhen entstand. Inzwischen folgten weitere Sonderwirtschaftszonen mit Millionenstädten, das chinesische Wunder entfaltete sich, das keines ist, sondern eine realisierte marxistische Möglichkeit, wie Staatschef Deng Xiaoping es 1980 geplant hatte. Voraussetzung war die Dekonstruktion der Machtfrage. Die Situation galt als aussichtslos, wie der Untergang der Sowjetunion bald bewies. Aus dem unter Stalin angehaltenen Marxismus, der zum Moskau-Marxismus entfremdete, war kein Gewinn zu ziehen. Der Erfolg Chinas ist das Resultat einer marxistischen Dekonstruktion – plus. Exakter gesagt: Die Universalie „marxistische Politökonomie“ wird in ihre pragmatischen Konkreta und Details aufgelöst. Der Rest ist Phantasie, Logik, Sachverstand und Subjekt-Revolte, wie in der Dissertation des Karl Marx aufgezeichnet: Die Dekonstruktion des Vergangenen ins Neue. Ob Chinas 3. Weg auf Dauer erfolgreich sein wird und sich gegen USA / Europa behaupten kann, steht in den Sternen, jedenfalls nicht mehr in einer Beziehung zum verglühten Sowjetstern. Im Gegensatz zu Pekings roter Elite befinden sich die christlichen Eliten hinter dem Mond. In der Außenwirtschaft und Exportindustrie wächst notgedrungen das Verständnis für Chinas 3. Weg. Man will produzieren und verkaufen. In der Innenpolitik wächst die Blindheit. Das Wahlvolk ist sauer. Also werden alte Ideen als neue verkauft. Ein Sarrazener reitet auf seinen Genen durch die Lüfte und erzeugt Miasmen. Ein flotter von und zu baut die Bundeswehr von der Nachfolge-Wehrmacht zur weltweit aktiven Söldnerarmee um. An den tv-Stammtischen, vordem Talkshows genannt, schwadronieren als Schafe getarnt Werwölfe nach Moderatorenlaune. Vorgestern zeigten Pleite-Banken, wo's lang geht, gestern bestimmten atomare Strom-Riesen den Kurs, heute blüht auf der Heide ein kleines Blümelein – Erika – wie im alten Landserlied, da fehlt dringend ein Song über Pestnelken. Wer hat Schuld am 2. Weltkrieg? Deutschlands Adolf. Aber Polen hatte schon am 26. März 1939 mobilisiert, zwar nur teil-, doch Hitler hat erst am 1.9. „ab 4 Uhr 45 zurückgeschossen“. Im Neuen Deutschland vom 11/12.9.2010 stellt Karlen Vesper kühl eine solide Liste der Abfolge vor, in der FAZ vom 13.9. braucht Herr Lorenz Jäger viele Wort samt Rauchzeichen des offenbar wieder auferstandenen FAZ-Herausgebers Joachim Fest, die Kriegshistorikerin Steinbach reinzuwaschen. Und über allem der heilige Helmut Schmidt, der tapfer seine Flakbatterie an der Ostfront befehligte und an einer Kriegsgerichtsverhandlung gegen Führer-Attentäter teilnahm, aber von Dachau und Auschwitz erst in englischer Kriegsgefangenschaft hörte. Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtsstaat, klagte Frau Bohley und starb an Krebs. Draußen vor der Tür stammt von Wolfgang Borchert, ebenso der Satz: Dann gibt es nur eins – Sag NEIN! Schon reitet Prof. Baring mit Getöse in der Anne-Will-Runde für Sarrazin auf, nicht alles richtig, was Thilo schreibt, doch … Wir kennen den Text und wir kennen die Herren Verfasser, wie schon Heine konstatierte. Wir wundern uns, der frühere POP-Beauftragte der SPD, neuerdings zur Spitze aufgerückt, dieser Engel Gabriel erweist sich plötzlich als GEN-resistent und sucht seine rosaschwarze Vereinsmannschaft antirassistisch aufzumöbeln: „Ich will keine Selektion nach Genetik und Erbmaterial!“ Wer will das schon außer den Beton-Konservativen, die sich eine Partei zwischen CDU/CSU/SPD/FDP und der Wand wünschen. Das lange Wegducken der Werwölfe soll enden, jetzt wollen sie endlich wieder laut heulen. Wie also begann der Krieg? Polen macht zuerst mobil. Diesem Publikum ist alles zu verkaufen. Inklusive der eigene Untergang. Ich erinnere mich, wie wir vom Nationalkomitee Freies Deutschland die Wehrmacht aufforderten, den Krieg zu beenden. Meinem Freund Heinrich Graf Einsiedel war wie mir klar, was Furchtbares geschehen würde, müsste die sowjetische Armee das Reich im Kampf erobern. In diesen Wochen gibt es tschechische Dokumentationen mit Bildern von Massenmorden an Deutschen. Prag beginnt aufzuarbeiten. In Berlin arbeiten mehr und mehr Leute zurück. Da die Müllmäuler die Geschichte tüchtig umschichten, um die eigene dunkle Vergangenheit zu begraben, sei hier der Tausende von Emigranten, der Politiker, Künstler, Schriftsteller gedacht, die sich, tödlicher Bedrohung im Dritten Reich entkommen, ab 1933 in Prag aufhalten durften. Im Geblöke der Unschuldslämmer bleibt die Tragödie der erst innerhalb Nazideutschlands und dann auch außerhalb verfolgten Kollegen und Genossen unerwähnt. Als Österreich sich anschließen ließ, wurde schon der Zugriff auf Prag operativ geplant. Sudetendeutsche Männer sammelten sich zu Tausenden auf sächsischem Gebiet, wo sie zu bewaffneten Einheiten zusammengefasst wurden. Nach der Besetzung des Sudetenlandes dauerte es nicht lange, bis die stolze, siegreiche Wehrmacht auch die tschechische Hauptstadt mit Feldgrau und Parteibraun beglückte. Damit verloren Antifaschisten, dem Rassenwahn Entkommene und Exilanten ihre dortige Zuflucht. Bald blieben nur noch die Schweiz, England und die USA, denn nach Prag wurde auch Paris besetzt. Wenn also heute eine tschechische Schuld angeprangert wird, dann sollte erst einmal dafür gedankt werden, dass Prag so vielen vom Deutschen Reich Verfolgten Schutz bot, obwohl Berlin Wohlverhalten zu erpressen suchte und vor dem Mord an Exilanten nicht zurückschreckte. Der Vater Gerhard Schröders hätte nicht ein Soldatengrab in fremder Erde finden müssen, wäre die Mehrheit der Reichs- und Sudetendeutschen nicht den Widerstand schuldig geblieben. Die aus Berlin vertriebene Weltbühne erschien als Neue Weltbühne in Prag, wo sie die intellektuelle Opposition um sich sammelte. Die deutsche Bundeskanzlerin sollte Prag endlich den bisher ausstehenden Dank und Respekt aussprechen. Sie sollte schleunigst hinfahren und vor dem Hause Melantrichova 1 einen Blumenstrauß niederlegen. Im Dachgeschoß sind zwei winzige Kammern, in denen die Zeitschrift ihren Redaktionssitz hatte und den verfolgten deutschen Intellektuellen ihren Widerstand zu artikulieren ermöglichte. Um Namen zu nennen: Johannes R. Becher, Ernst Bloch, Lion Feuchtwanger, Stefan Heym, Heinrich Mann, Walter Mehring, Theodor Plivier, Erwin Piscator, Gustav Regler, Friedrich Wolf, Arnold Zweig. Wären Reichs- und Sudetendeutsche den antifaschistischen Aufrufen gefolgt, hätten weder Ostpreußen noch Schlesier oder Sudetendeutsche ihre teure Heimat verloren. In Zeiten der Kriege trifft es Schuldige wie Schuldlose. Wer den Krieg beginnt, sollte nicht in der Niederlage sein Los beklagen, das er anderen zugedacht hatte.
Das früheste Nazi-Opfer unter den Weltbühnen-Mitarbeitern war im Jahr 1934 Erich Mühsam. In der Neuen Weltbühne widmete Johannes R. Becher dem Ermordeten diese Zeilen: Sie haben auf ihre Weise Sich tüchtig angestrengt, Damit der ›Rote Jud‹ Sich endlich selbst erhängt. Es blieb der ›Rote Jude‹ Ein ehrlicher Rebell Und meldete sich am Morgen Stets wieder zum Appell. Sie sahen, dass er freiwillig Nicht in die Schlinge schlüpft. Da haben ihn die Henker Selber aufgeknüpft … Darüber viel zu sprechen, Erich erübrigt sich. Wir werden alle rächen, Erich, auch Dich! Auch Dich! Zum Tode Carl von Ossietzkys schrieb Bertolt Brecht: Der sich nicht ergeben hat Ist erschlagen worden Der erschlagen wurde Hat sich nicht ergeben. Der Mund des Warners Ist mit Erde zugestopft Das blutige Abenteuer Beginnt. Über das Grab des Friedensfreundes Stampfen die Bataillone War der Kampf also vergebens? Wenn, der nicht allein gekämpft hat, erschlagen ist Hat der Feind Noch nicht gesiegt. Das wurde 1938 in der Neuen Weltbühne zu Prag gedruckt. Die Zeilen bilden ein Gedicht, dessen lyrisches Ich auf den Schlachtfeldern verblutet. Vier Strophen als Menetekel. 1945 – sieben Jahre später wird Gerechtigkeit zur Rache und Rache zu Gerechtigkeit. Wer trauert noch um die so verfolgten wie vergeblichen Prager Warner? Ingrids Berichte von Blochs Leipziger Schwanengesang am 17.12.1956 enthalten eine entschlüsselbare Botschaft, wenn's noch Zeit sein sollte. Der Hiatus von 1956/57 illegalisierte den intellektuellen Marxismus in der DDR, der in Moskau schon von Trotzkis Verbannung an verteufelt worden war. Mit der DDR verschwanden die letzten überlebenden Linksintellektuellen gleichermaßen in Ost wie West aus Universitäten, Medien, Politik. Einig Vaterland wieder marxistenfrei wie von 1933 -1945? Blochs favorisiertes Lenin-Zitat vom „Träumen nach vorwärts“ prallt ab an den uralten Träumen nach rückwärts. Die existentielle Differenz lautet: „Wir, unsere Helden an der Spitze, befanden uns immer nur einmal in Gesellschaft der Freiheit, am Tage ihrer Beerdigung.“ (Marx) Es fehlt eine Internationale der Postmarxisten. Ein weiteres Nachwort ist für Montag, den 27.09.2010, geplant.
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Gerhard Zwerenz
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