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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | 68. Nachwort
Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
68. Nachwort |
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Leipzig. Kopfbahnhof
Mit dem Buch Existentialismus oder Marxismus? von Georg Lukács unterm Arm fuhr ich, wie berichtet, Ende 1951 auf der Suche nach dem Weltgeist von der Zwickauer Ingenieurschule zur Leipziger Universität, den aus dem US-Exil zurückgekehrten Ernst Bloch über seine Strategie gegen Tod und Kapital zu befragen. Meinem Selbstverständnis nach war ich ein davongekommener junger Kriegsveteran und Deserteursnarr, der in Nietzsches Zarathustra gelesen hatte: „Einen höchsten Gedanken aber sollt ihr euch von mir befehlen lassen – und er lautet: Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll.“ Ich wollte mir weder befehlen lassen noch mich überwinden. Und andere auch nicht. Was nun, Meisterdenker vom Pleißenstrand? Ab1952 hörte ich ihm zu. Fünf Jahre später war's schon vorbei. Neue Menschenüberwinder hielten Hof, suchten den Philosophen einzufangen und beschimpften ihn, dass er westwärts emigrierte, wohin er weder wollte noch gehörte. Oder doch?
Ab 1957 war er der Reihe nach Revisionist, Antimarxist, Missbrauchsmarxist, Anthropomorphist, Teleologe, Subjektivist, Scheindialektiker, Existentialist, Metaphysiker, Antimaterialist, Irrationalist, Begriffsverdreher, Marxverfälscher, Unwissenschaftler, Wissenschaftsfeind, Linksradikalist, Antisowjetist, Opportunist, metaphysisch- mystischer Idealist, Jugendverführer ...
Der Universalienstreit von Leipzig endet als Philosophenkrieg im Putsch von 1956/57. Das Drama spielt zur gleichen Zeit am gleichen Ort mit gleichen Personen. Ein Klassiker eben. Hat der Marxismus eine Zukunft? Sie endete mit dem Putsch der Parteiführung gegen die Philosophie, darstellbar in der tragikomischen Geschichte des Leipziger Instituts für Philosophie an der Karl-Marx-Universität. Auf Walter Ulbrichts Anweisung verbannte ein vormaliger Wehrmachtsfeldwebel die Intellektualität des bisherigen Marxismus, indem er die Marx-Brüder Lukács + Bloch pars pro toto als parteifeindliche Revisionisten verdammte. Ihre Bücher sollten, wenn überhaupt, nur noch mit den Kommentaren des Leipziger Feldwebels erscheinen dürfen. Fortan sah der verordnete Marxismus auch so aus, obwohl nicht wenige Genossen sich verweigerten.
Die Geschichte des Bloch-Instituts wird unterschlagen. Vor 1989 verschwieg sie die SED. Dann wusste die PDS nichts, und die an der Leipziger Uni herrschende bürgerliche Nachkommenschaft will schon ganz und gar nichts wissen. Eine mit bunten Fotos ausgestattete Ausstellung kam immerhin zustande. Irgendwann im Zeitalter grassierender Gedächtnislücken stellten Ingrid und ich verwundert fest, wir sind die einzigen, die Ernst Bloch und seine Geschichte von 1952 (53) bis zu seinem Sterbetag am 4. August 1977 in Tübingen und darüber hinaus aus erlebter Nähe notierten. Der Konflikt findet kein Ende. Bis heute haben die Totengräber viel zu tun, den Philosophierevolteur immer tiefer zu verscharren.
Warum, so frage ich mich, geriet ein kleiner Kupferschmiedegeselle von der Pleiße in so fremde Parteistaatskonflikte, die ihn, wie er meinte, im Grunde nichts angingen. Die Arbeiterklasse rief? Sie ruft noch immer. Wer weiß wann, wo, wen und wohin. Inzwischen ist sie im Stimmbruch, heißt Prekariat und hat das Klassenzimmer der Genossen verlassen.
Solange ich zurückdenken kann, und das ist ziemlich lange, besteht das größte Problem Deutschlands in seinen aus- und einklappbaren Grenzen. Als ich zur Schule ging, war das Reich zu klein. Als ich 1939 in die Lehre ging, wuchs das Reich. Als ich 1942 Soldat wurde, begann das Reich sich wieder zu verkleinern. Das Prinzip der Bewegungsgrenze ging nach Kriegs-Ende ins Aufteilungsprinzip über: Ein Teil West, ein Teil Ost. Was übersteht wird abgeschnitten. Seit 1990 gibt's wieder Einheit in festen Grenzen. Allerdings mit partiellen Entgrenzungen. Mit der UNO sind wir Afrika und weltweit. Mit der NATO nicht ganz so weit, doch immerhin bis zum Balkan und Hindukusch. Mit dem EURO sind wir kleiner, aber größer als zu D-Mark-Zeiten. Mit dem EURO als Fahne voran könnte Deutsch-Europa entstehen, mit Deutschland als Hauptstadt. Wollen die Europäer sich nicht wirtschaftlich eindeutschen lassen, schrumpfen wir auf Kleindeutschland zurück und dehnen die Zollgrenzen bis Wladiwostok und Peking aus mit der Leitwährung D-Markrubelrenminbi (Yuan).
Von all den Grenzbewegungen unbetroffen blieb mein stabiles Geburtsland Sachsen. Die letzten Landverluste gab es nach der Völkerschlacht bei Leipzig. Wegen der Oder-Neiße-Grenze kam es 1945 zu geringen Erweiterungen in Ostsachsen. Der Versuch, die DDR als unser Groß-Sachsen zu etablieren scheiterte am DDR-Ende. Seitdem firmieren wir wieder als Freistaat. Unter Milbradt sogar ambitioniert. Mit großer Begleitung reiste der Dresdner Ministerpräsident zu Wirtschafts-Verhandlungen nach Peking. Etwas pikiert kehrten sie zurück – Wirtschaft Horatio? In China droht bei finanzieller Untreue die Todesstrafe.
Man hätte früher in Sachsen einen anderen 3.Weg gehen können. Es gab Möglichkeiten. Warum wurden sie von wem nicht genutzt? Aus Charaktermangel, Geistesschwäche, Angst vor Obrigkeiten? Die ursächliche Situation soll noch heute nicht erkannt werden. Die zuständigen Genossen wollten neue Herren werden und so gelangten die alten Herren wieder an die Macht. Was solls? Heute spielt der Kapitalismus so verrückt wie vordem der Sozialismus. Herrscht also Endzeit?
FDJ-Zeitung Forum
1955/56 reiste Georg Lukács dreimal von Budapest in die DDR. Seine geheimdienstliche Überwachung führte zum Konflikt im SED-Politbüro, vor allem zwischen Walter Ulbricht und Johannes R. Becher. Nach Bechers misslungenem Vermittlungsversuch am 27.11.1956 in Leipzig und seiner Rückkehr tags darauf nach Berlin schreibt Ulbricht noch am selben Tag seinen Alarm-Brief nach Leipzig, mit dem die Kampagne gegen Lukács und Bloch offiziell beginnt. Die im Brief erwähnten Materialien, zuvor schon übermittelt, sind Geheimdienstberichte, die an einige Genossen Philosophen weitergereicht wurden, damit sie im Revisionismus-Buch gegen Bloch argumentieren konnten, was sie auch brav taten. Hier Prof. Rugard Otto Gropp: „Wolfgang Harich, der maßgeblich unsere philosophische Zeitschrift leitete, ist gegenwärtig aus der philosophischen Arbeit ausgeschaltet, weil er zu unmittelbar staatsfeindlicher Tätigkeit übergegangen war und juristisch verurteilt wurde ... Der Einfluss von Georg Lukács ist bei uns gebrochen oder erschüttert worden durch die Erfahrungen, die uns die Ereignisse in Ungarn gegeben haben. Wir haben es nicht selbst verstanden, beizeiten seine unmarxistischen philosophischen Grundtendenzen zu bekämpfen und dem bei uns von bestimmten Kreisen geradezu gezüchteten Lukács-Kult entgegenzuwirken. Und im Bezug auf die Philosophie Blochs ist die Lage auch nicht durch unsere eigenen Anstrengungen geklärt worden ... Der Einfluss des Opportunismus war bei uns ständig gewachsen, sowohl im Maßstab der Deutschen Demokratischen Republik wie speziell am Leipziger Institut für Philosophie.“
Bloch-Jahrbuch 2006
Hans Mayer
In Leipzig beliebt und verdammt, in Tübingen verstorben, in Köln ging beim Archiv-Einsturz sein Nachlass verloren
Hiob
Biblischer Weltrevolteur – vom Unglück verfolgt – ein Hans Mayer Gottes
Die Blochianerin Francesca Vidal sagt über den Blochianer Wolfram Burisch, er gehe so weit, „zu formulieren, dass es eine ständige Aufgabe bleibt, das dauernd Beunruhigende, welches Blochs Philosophie mit sich bringt, wach zu halten. Gegen das Bedürfnis, das ›Prinzip Hoffnung‹ als passives Warten auf das Glück umzudenken, sei es weiterhin ein ›hartnäckiges Postulat‹, das eigenständige philosophische Handeln voranzutreiben.“ (Bloch-Jahrbuch 2006) Ironischerweise war Walter Ulbricht 1956/57 von Bloch so beunruhigt, dass er dem Philosophen einen Plan für die Konterrevolution unterstellte. Der auf dem 33. Plenum von Ulbricht angegriffene Kurt Hager darauf: „Offensichtlich. Das Material zeigt, dass ein ganzer Kreis von sogenannten Schülern vorhanden war, die in dieser Richtung unter dem Einfluss des Lehrers wirkten.“ Ulbricht wartete nach dem ungarischen Oktober-Aufstand noch vier Wochen, bis er sich für seine Vergangenheit mit Stalin und gegen Blochs Zukunftsprojekt entschied, das er nun wider besseres Wissen als Konterrevolution verdammte, womit er nicht Marx folgte, sondern Nietzsches Diktum von der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Alles war und blieb im Land der Reformation wie vordem: Papisten gegen Protestanten. Jetzt standen Stalinisten gegen Reformateure. Das Prinzip Machterhalt besiegt das Prinzip Humanisierung der Macht.
Lenin wollte den Staat von einer Köchin regieren lassen (können), Ulbricht hielt sich 1956 dafür an den Wehrmachtsfeldwebel-Koch Paul Fröhlich aus Zwickau-Niederplanitz, der ab 1952 in Leipzig Parteikarriere machte, 1956/57 die Entstalinisierung kippte, Partei und Universität von jedem Widerspruch säuberte, ins Politbüro aufstieg, ein Dutzend Orden, Medailien, Ämter erhielt und endlich seinen väterlichen Förderer Walter Ulbricht an Honecker verriet, als der sich ins Spitzenamt versetzte, wo nicht putschte. Aber gehen wir der Reihe nach. Karola Bloch erzählte uns, Hans Mayer tauchte nach dem Aufstand vom 17. Juni 1953 so fassungslos und erregt bei ihnen auf, dass Ernst ihn kaum zu beruhigen vermochte. Die Angst vor einem faschistischen Aufstand in der DDR war bei den jüdischen Genossen nicht geringer als in der Parteiführung. Bloch teilte die Besorgnis, suchte Mayer zu besänftigen, ließ sich jedoch von Alfred Kantorowicz zu dem unvorsichtigen Satz hinreißen, dass bürgerliche Regierungen nach solchen Aufständen zumindest zurückträten. Weshalb also nicht Ulbricht. Dem kam das zu Ohren. Die Fronten waren abgesteckt. Die Unterscheidung zwischen Staat und Regierungspersonal behielt Bloch bei. Als Erwiderung dann der Ulbricht-Brief Richtung Leipzig vom 28.11.56. Schluss mit dem Abschied von Stalin, Ende der Akzeptanz von Bloch und Lukács in der DDR. Das Prinzip Angst herrscht auf allen Seiten vor. Es gibt keine klassenspezifischen Differenzen. An der Spitze versammeln sich allüberall die Lemminge. So wurde die DDR zuschanden regiert. Und nun Europa?
Das Gesetz der Einheit: Hitler-Deutschland entledigte sich seiner Opposition durch offene Gewalt. Die DDR setzte ihre marxistische Opposition matt. Die Berliner Republik schafft indessen, was der Bonner Republik nur teilweise gelang – die oppositionelle Linke wird an den Rand gedrängt und partiell so isoliert, dass sie sich selbst unterminiert. Nach der Einheit Deutschlands kommt die Einheit Europas dran, strittig zwar, doch Nation-Building erzwingt strategische Erweiterungen. Der zuständige FAZ-Fachmann Lothar Rühl steckte am 1.10.11 schon mal das künftige Kriegs-Terrain ab: „Tiefe Gegensätze ... gemeinsamer strategischer Raum ... westliches Mittelmeer und den Maghreb plus Libyen ... um Israel im Nahen Osten oder um die Türkei im Nahen und Mittleren Osten ... ebenso im Kaukasus und auch wieder auf dem Balkan ... Zypern und die Ägäis ... Schließlich die Kardinalfrage: Welches Verhältnis im Bündnis zu Amerika?“
Das sind die neuen europäischen Utopien. Die deutsche Einheit zieht wie eh und je Konsequenzen nach sich. Sie ist ohne Revolte Einheit zum Krieg.
Der Marxismus ist die vierte Buch-Religion. Schon die Bibel enthält neben dem Heilsversprechen den ganzen Jammer der Kreatur. Hiob ist ungeheuer sauer und redet, nein schimpft Klartext. Friedrich Engels und Arthur Schopenhauer sind nicht weniger entsetzt, allerdings über das Leben der Arbeiterklasse in England. Schopenhauer wird zum Pessimisten, Engels zum Revolutionär. Das ist der kleine Unterschied, den Alice Schwarzer aufs Genital verkürzt, während Charlotte Roche das ehemännliche Gemächte zum Turm von Babel verklärt, den zu umhegen das Weib gehalten sei. Wer die postkulturellen Liebestänze nicht für ewig mitschwänzeln will, braucht eine andere Ästhetik und Erotik. Deshalb leben wir in der Epoche elektronischer Bilderbücher für Analphabeten.
Am Sonntag, dem 2.10.11 trafen sich bei Günther Jauch mit Götz Aly und Oskar Lafontaine zwei Antipoden, die beide das Modell der Schweizer Sozial- und Rentenversicherung empfahlen: alle zahlen ohne Einkommensbegrenzung ein, die Rentenhöhe jedoch ist begrenzt, wer viel verdient bekommt weniger als er einzahlt, wer weniger verdient erhält mehr als er einzahlt. Der Vorschlag wird bei uns jedes Jahr neu präsentiert und pünktlich vergessen. Die Ministerin von der Leyen schrillte im hohen Diskant so falsch wie üblich dazwischen. Vorwärts ins Desaster. Die Elite will ihre Positionen halten. Das verlangt die gewohnte Hierarchie. Karrieren, die permanent aufwärts führen, sind allerdings Negativauslesen. Im Fernsehen geht der Krug deshalb solange zum Brunnen, bis er sich erbricht.
Deutschland ist wirtschaftlich auf Erfolg, politisch jedoch auf Einheit im Untergang programmiert: 1848 missratene Einigung von unten und verlorene Revolution. 1870 Krieg. 1871 Einheit. 1914 Kriegs-Einheit. 1918 verlorener Krieg. 1918 Revolution. 1923 Sieg der Konterrevolution. 1933 Einigkeit für Aufrüstung. 1939 Einigkeit zum Krieg. 1945 Einheit in der Niederlage. 1948 geteilte Einheit und Kalter Krieg. Ab 1989/90 Einheit und Krieg. Der Krieg ist ein asymmetrischer. In neun Jahren Afghanistan vierzig Tote, davon dreißig per Feindeinwirkung. Zehn Tote pro Tag fordert der deutsche Straßenverkehr, also bringt der Krieg so viele Opfer mit sich wie 3 – 4 Tage heimatlicher Autoverkehr. Die Toten des Feindes bleiben ungezählt, mitunter umstritten. Die eigenen und die fremden Verluste sind eben auch asymmetrisch. Klar ist lediglich: Am Anfang siegen wir, die Rechung wird später präsentiert.
Der postnazistische Konservativismus kennt zwei Richtlinien: 1. Die Kapitalanalyse von Marx wird durch unsere aggressiv-militanten Antikommunismen gekontert. 2. Geschichte ist die ewige Wiederkehr von Herr und Knecht. Der Mensch muss von uns Übermenschen überwunden werden. Alles andere ist Humanitätsduselei, d.h. Gutmenschentum.
Folglich wird die Neugründung konservativer Parteien versucht. Wenn aber die alten Böcke aus der Politik in die Wirtschaft abdrehen? Es gibt Nachschub. „Vor einem guten Jahr erreichte mich ein Anruf aus München: was ich von der Möglichkeit einer neuen rechten Sammlungsbewegung hielte, nur mal so als Gedanken-Experiment? Mit Hans-Olaf Henkel, Peter Sloterdijk, Thilo Sarrazin und Friedrich Merz als möglichen Galionsfiguren. Unabhängig davon, ob diese Phantasie zu verwirklichen wäre – langfristig gibt es sicher ein Potential.“ So der plötzlich renitente Lorenz Jäger am 5.10.2011 in seinem FAZ-Heimatblatt. Die Auswahl der Namen, die sich da jemand in München hat einfallen lassen, spricht Bände: Industrie, Philosophie, SPD, CDU als Exemplare mit weitreichender Zugkraft. Sieht so die baldige Zukunft der Deutschen aus? Lorenz Jäger hält recht kräftig dagegen:
Diese Fangzeilen unter dem Provokations-Titel sind nicht von Pappe. Alles in allem scharf positioniert, Herr ehemaliger Kammerdiener. Das ist, wenn auch an kurioser Stelle, fast marxistische Sprachrevolte statt bougeoiser Sklavensprache. Ein konservatives Niedergangssymptom wird als Syndrom verdeutlicht. Muss die Titanic am Ende gar nicht untergehen? Das postnazistische Potential, das nach 1945 in pluralen Parteien unterschlüpfte, soll keine zweite Harzburger Front bilden dürfen? Ja wie denn, sollte diesmal die nationale rechte Volksfront durch eine reaktivierte linke Volksfront zu bändigen sein? Was wohl, Freunde, Kameraden und Genossen, die diffusen Linken dazu zu sagen haben...
Die Tragödie der frühen Kommunisten ist, dass sie nach Lenin zwischen Stalin und Hitler gerieten. So wurden sie Opfer des einen oder anderen oder von beiden. Falls aber nicht, setzte man sich ab, privatisierte oder unterwarf sich. Den Fall Ulbricht verglich ich mit der Fahrt des Odysseus zwischen Scylla und Charybdis hindurch. Das Meeresungeheuer verschlingt einige. Die übrigen überleben. Hitler verfolgte alle Kommunisten, Stalin verlangte von den seinen, Scylla zu spielen. Ulbricht hatte sich in der geliehenen Macht einzurichten verstanden und überlebte. 1956 zögerte er vier Wochen, bis er sich für den sturen Part seiner Vergangenheit entschied. Die Philosophie des Marxismus war bereits 1923 zum Stillstand gekommen. Lenin hatte auf die Weltrevolution gesetzt, die in Deutschland beginnen sollte. 1923 aber schlug die Revolution in Deutschland endgültig in Konterrevolution um, die zehn Jahre später zur Weltkonterrevolution eskalierte. Die Transformation der marxistischen Politik und Strategie in den Volksfrontwiderstand geschah viel zu spät. Es reichte noch für den opfervollen Sieg über Nazi-Deutschland, nicht für den Bestand der Sowjetunion. Bloch und Lukács wurden die letzten prominenten Volksfrontmarxisten, die abgeräumt werden mussten, dann hielten den Sozialismus in seinem Lauf nicht nur Ochs und Esel auf.
Soviel zu rechterhand, wo die Agenten des Kältetodes leben. Er kommt gewiss. Nur der Zeitpunkt ist ungewiss, den die Rechten vorzuverlegen suchen. Der Tod ist ihr Geschäft und zugleich ihr geliebtes Vaterland, in dem Revolutionäre nichts als Tote auf Urlaub sind. Soviel zur modernisierten Hölle.
Der Begriff Faschismus umfasst nur einen Teil der Hölle. Dazwischen leben die munteren Mode-Engel. Sie sind heute Juso und morgen Schröder, heute marxlesende Buchhändler sowie Taxifahrer und morgen großmäulige Kriegsfürsten. Mussolini fing linksradikal an, bevor er in die Todeskurve ging. Die Wiederkehr des Gleichen eskaliert zur Wiederkehr der Ungleichen.
Stefan Heym, Heinrich Graf Einsiedel und ich waren Drei rote Musketiere, die der SED-Nachfolgepartei PDS ab 1994 als parteilose Abgeordnete beistanden. Heym zählt zur Generation der 1933 Ausgetriebenen, Einsiedels Leben verlief in den Zwischenräumen, über Stalingrad abgeschossen, in Position beim Nationalkomitee Freies Deutschland, in der DDR bald abgängig, im Westen bemisstraut. Ich als 1956er Streiter für einen 3. Weg fühlte mich gefordert. Unser aller Vergangenheit wird schon lange gefälscht und vergraben. Archäologen sind vonnöten. Haben linke Leute wie wir überhaupt noch eine Geschichte? Trotzalledem – wir sind Optimisten. Leipzig ist der Kopfbahnhof der Pleiße? Es ist auch ein Kopfbahnhof ohne Pleiße.
Bis die DDR-Oberen die eigene Partei zu köpfen begannen. Daran war weder das DDR-Volk noch die SED-Mitgliederschaft beteiligt. Es gab vom 17.Juni 1953 bis zum Ende 1990 viele Reformversuche, Oppositionen und Revolten. Ich habe es bei ihrer Verteidigung leicht und brauche mich nur selbst zu zitieren:
(Sklavensprache und Revolte, Seite 461)
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Klassiker des 3. Weges
Ingrid und Gerhard Zwerenz
Sklavensprache und Revolte
Schwartzkopff, 2006
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Nach der Flucht aus Leipzig 1957 vermisste ich die Konflikte um den 3. Weg, ohne den ich für die DDR keine Zukunft sah. Doch die Bonner Republik erwies sich als nicht weniger abenteuerlich. Der entfremdete Marxismus des anderen deutschen Staates führte 1989/90 zum fatalen Endspiel der Vereinigung. Resultat ist die Freiheit der Berliner NATO-Republik zum Kriegführen im Ausland und zur Diktatur unregulierter Finanzmärkte. Das weiß heute jeder. Als Lafontaine vor Jahren eindringlich davor warnte, war er als Prophet außen vor. Heute warnt der US-Ökonom Nouriel Roubini, der 2006 den Immobilien-Crash voraussagte, im stern vor dem „globalen Crash der Finanzmärkte“. Überschrift des Artikels: „Hatte Marx doch recht? Ja, zum Teil.“ Und Deutschland soll jetzt die verkrachten Finanzmärkte sanieren – danach verrät Insider Hans-Ulrich Jörges auch gleich, es geht längst nicht mehr um Griechenland, sondern um die Rettung Frankreichs: „Die Operation am französischen Herzen muss gelingen – und koste es deutsches Geld. Wankt Frankreich, wankt ganz Europa. Auch Deutschland.“
Wer soll da eigentlich die „Spritze ins Herz Europas“ zahlen. Wer sind in Deutschland die Zahlmeister?
Dieses Nachwort 68 beginnt mit meiner Reise vor exakt 60 Jahren zum Kopfbahnhof Leipzig. Unterm Arm trug ich Existentialismus oder Marxismus?
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