Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Die Gelehrten mit ihrer antiken Bildung sprechen vom alter ego, dem anderen Ich. Bei Schreibern und Poeten heißt das Pseudonym. Sie legen sich einen zweiten Namen zu und spielen Theater: statt Monolog Dialog. Weil ich als Gert Gablenz das Pseudonym von Gerhard Zwerenz bin, kann ich ihn von innen und außen betrachten und sitze in ihm drin wie der Holzwurm in den Möbeln. Er war aber ein Bücherwurm.
Wie ich mich erinnere, brauchte GZ als Schüler für die Lektüre eines Karl-May-Romans rund eine Woche. Auf dem Weg zur Schule erzählte er den anderen kapitelweise, was er inhaliert hatte. Ein Klassenkamerad berichtete 50 Jahre später der Frau beim Besuch im Taunus, er selbst habe nie Karl May gelesen, aber alle Bücher beim Zuhören auf dem Schulweg kennengelernt. Am Morgen blieb GZ auf der Brücke stehen, beugte sich übers Geländer, spuckte kräftig runter in die mattschimmernde Pleiße und freute sich, seine Spucke drei Stunden darauf in Leipzig zu wissen. Als er später dort studierte, suchte er gern ein offenes Stück Fluss auf und sagte: Ich grüße dich, du schöne Crimmitschauerin! Und dies obwohl er wusste, die Pleiße hätte genauso als Werdauerin, Altenburgerin oder sonstwie fantasievoll angesprochen werden können, auch speisten das fabelhafte Flüsslein allerlei Wasser, die aus dem Erzgebirge und Vogtland nordwärts strebten, so wie unser Sachsenland das Bayernland parodiert – die Südgrenze von Bergen gesäumt, aus denen vielerlei Bäche und Flüsse stammen, die das Land mit ihren Läufen, Ufern, Schluchten strukturieren, weshalb eine Menge vielfältiger Flusslandschaften entstehen. Einst kam der junge bleiche Karl May an die Pleiße, und weil er bitterarm war und hungrig, unterschlug er eine goldene Uhr. In Haft genommen, schwor Karl hoch und heilig, sich Dutzende goldener Uhren zu kaufen mit ehrlich erworbenem Geld. Also begann er Buch auf Buch zu schreiben. Bald erstand er ein prächtiges Haus in Radebeul nahe dem Elbufer und ließ in jedem seiner Bücher einen mächtigen Fluss rauschen. Die Dresdner denken, es sei ihre Elbe, es ist aber stets ein Stück Pleiße dabei, die ihm in den Sinn kam, wenn er eine seiner zwölf goldenen Uhren aufzog, was man damals noch per Hand tun musste, um im Lauf der Zeit zu bleiben. So erfand Karl May den prachtvollen sächsischen Zauberstrom, der sich alle Mühe gibt, der Dichtung gerecht zu werden. Einfallslose Zeitgenossen mögen darin lediglich den Zwergenfluss sehen, doch der mit allen Wassern der Fantasie gewaschene Lesekünstler erblickt einen deutschen, europäischen, kosmischen Urstrom. Friedrich Nietzsche erfand den polierten Übermenschen, Richard Wagner verhexte den irrsinnigen Bajuwarenkönig, bis der ihm Millionen von Talern spendierte, woraus in Bayreuth nahe der sächsischen Grenze ein Operntempel mit Gesangverein erwuchs, wohin die possierlichen Bosse, Bürger und Bürohengste ihre mit Schmuck und teuersten Klamotten behängten Stuten ausführen, um sie dem öffentlichen Gewieher darzubieten. Karlchen May aber schuf den unendlichen Märchenfluss Pleiße. Dort wurde aus Karl May bald ein wenig Karl Marx.
Nietzsche meinte, die Dichter lügen zuviel. Wir sagen aber die Wahrheit, wenn wir lügen. Die Politiker hingegen lügen, um sich um die Wahrheit herumzuschwindeln. Und die Militärs lügen, weil sie sonst nicht schießen und bomben dürften.
GZ und ich (Gert Gablenz) leben mit Ingrid im Hochtaunus. Am südlichen Ende unseres Wildgartens murmelt ein Gebirgsbächlein vorüber und verschwindet glucksend im hessischen Untergrund. Wir stehen davor und reden das Rinnsal als Pleiße an. Manchmal schwimmt Karl May auf einem Grashalm oder Froschrücken vorbei. Wir winken einander zu – Sachsen im Ausland. Genossen der Endzeit, die alle Uhren schneller laufen lässt bis Einstein die 4. Dimension dementiert und die 3 übrigen Dimensionen lustlos erstarren als seien sie das deutsche Herz. Anders gesagt, Karl May dachte täglich an seine Zeit als Uhrendieb zurück. Das gab ihm Kraft und Energie. Nietzsche benötigte den Übermenschen, um die Zwergmenschen zu überstehen. Wagner brauchte die Geschmacklosigkeiten der Reichen, wollte er sie übertönen. Oft genug wünschte er sich nur den Geldwert des Goldes und der Diamanten, die sein exotisches Publikum in Logen und Parkett präsentierte, um seine gebotene Brunst stilvoll getarnt im Applaus auszuleben. Er hätte die Idioten liebendgern noch höher gehievt, damit sie beim Sturz in die Tiefe auch glamourös genug verreckten. Karl May dagegen führte seine Menschen direkt vor, als die Indianer, die wir sind, einander liebevoll skalpierend. Und Old Shatterhand samt Winnetou mit Schwester mittenmang – im Kern sind sie alle miteinander abenteuerliche, aber grundehrliche Sachsendeutsche, und von den Indianern hockt ein jeder an unserem Pleißeufer, spricht mit den Fischen und erwartet die versprochene bessere Zukunft.
GZ fuhr am 11. Oktober anno 2005 nach Berlin, wo ihn sein Kollege Heinrich Fink am Abend im Brecht-Haus vorstellte und moderierte. Am Ende nannte GZ erstmals öffentlich seinen neuen und letzten Buch-Plan und den Titel. Beim Wort Pleiße ging es wie ein Stromschlag durchs Publikum. Mag sein, die Pleiße ist selbst an der Spree bekannt wegen Leipzig, der Messestadt und wegen Goethes Faust und dem Ritt auf dem Fass in Auerbachs Keller. Den Ostdeutschen aber ist Leipzig an der Pleiße ein magischer Markenname. Die Sachsen als 5. Besatzungsmacht in Berlin? Die sächselnden Grenzer? Der fistelnde Funktionär? Vorbei, vergeben, vergessen. Ersäuft in brausenden Pleißegewässern. GZ, der österreichisch-stämmige Sachse aus Gablenz bei Crimmitschau an der Pleiße, später Leipzig an der Pleiße, versammelte als Sachse in der Fremde eine Handvoll Exilanten und Remigranten. Für seinen Fernseh-Film Tucholsky im Gedächtnis suchte er in den Jahren 1977/78 die letzten lebenden Zeitgenossen der Siegfried-Jacobsohn-Weltbühne auf, von Walter Mehring im Zürcher Hotel bis zu Alfred Kantorowicz und Axel Eggebrecht in Hamburg – nur zu Ernst Busch in Ostberlin durfte er nicht, das verwehrten streng die Herren Grenzer. Und Tucholsky? Am Grab im schwedischen Mariefred hielt die Kamera lange inne. Und dann ENDE (des Films). Im Buch von GZ über Kurt Tucholsky heißt es: „Er ist der Lieblingsautor einer schmalem radikaldemokratischen Minderheit von Deutschen geblieben. Im Verhältnis der Deutschen zu ihm wird die politische Situation dieses Landes sichtbar.“
Gleich am Anfang der Tucholsky-Biographie ist eine Handzeichnung aus dem Sudelbuch des Schriftstellers abgedruckt, eine Treppe mit drei Stufen und den ansteigenden Worten: Sprechen – Schreiben – Schweigen ...
Das Literaturblatt der Frankfurter Zeitung druckte am 31.3.1929 Ernst Blochs Verteidigung unseres sächsischen Volksschriftstellers Karl May gegen seine Verächter. Am 12.5. reagierte ein Autor mit Namen Wilhelm Fronemann im Königsberger Tageblatt und anderswo mit Angriffen auf May und viele, die sich für ihn engagierten. Nach Hitlers Machtübernahme schwärzte Fronemann Karl May als extremen Marxisten und Pazifisten an. Kaum ist der Krieg vorbei, tritt der Nazi als Antifaschist auf und versucht May bei der Sächsischen Landesverwaltung als Vorläufer der SS zu diffamieren. Eine gewisse Verkennung hatte sich allerdings schon Bloch mit seinem May-Plädoyer geleistet, als er schrieb: „Karl May ist einer der besten deutschen Erzähler, und er wäre vielleicht der beste, wäre er kein armer, verwirrter Prolet gewesen.“ Das heißt nun den Anfang zwischen Pleiße und Mulde über das Ende an der Elbe stellen und den gebeutelten Kleinkriminellen über den Radebeuler Bestseller-Autor und Millionär. Karl May ist beides – ganz unten und ganz oben, wie Sachsen zugleich Arbeit und Kapital, Industrie und Königreich, Leipzig und Dresden gewesen ist, und dazwischen Erzgebirge und Vogtland, die Chemnitzer Fabriken, der Zwickauer Bergbau, die Autowerke und die westsächsische Textilproduktion. Bis anno 1990 die westliche Freiheitsglocke läutete und die sächsische wie die gesamte ostdeutsche Produktivität niedergemacht wurde als hätte es dort überhaupt nur arme verwirrte Proleten gegeben. Neueste Nachrichten besagen, die Elbe trockne zwischen den Hochwassern, die sie sich alle paar Jahre erlaubt, immer mehr aus, wie wir es auch über die Pleiße vernehmen. Vielleicht dürfen die Arbeitslosen bald im Ein-Euro-Job die Elbdampfer durchs sächsische Elbflorenz tragen. Wasser ist flüchtig wie das Kapital und eine Jugend, die das Land verlässt und auf der Suche nach Arbeitsplätzen sich in alle Welt zerstreut. Sind schon die Angelsachsen ausgereiste Sachsen? Über Sachsen heißt es, das Land habe vier Millionen Einwohner und 10 Millionen Auswohner, die in fremden Gegenden leben, wo sie ihres Geburtslandes Fleiß und Ruhm verbreiten. Es ist aber die Epoche der Konsequenzen gekommen. Orwell oder Bloch lautet die Alternative. Auch Nietzsche oder Marx. Indem Hitler gegen Stalin antrat, brachte er Orwell und Nietzsche gegen Marx und Bloch in Stellung. Indem Bloch in den Westen gehen musste, verlor der Osten seinen Marx und Lenin samt Legitimation. Der Rest war Lethargie mit einem schandbaren Ende. Das betrifft nur die jeweils neue Führungsklasse, die sich hirnlos diktatorisch an die Stelle der alten setzte, nicht die Völker selbst. In Deutschland führten die Regierenden stets Richtung Abgrund. Für jeden ist heute der Zeitpunkt da, entweder als Saulus andere zu verfolgen und zu bestrafen oder als Paulus dem urchristlichen Feindesverbot und Liebesgebot zu gehorchen. In der Sprache von Hegel und Marx heißt das, die Differenz zwischen Herr und Knecht abzuschaffen, und in der Sprache Blochs: „Kampf, nicht Krieg.“ Daraus folgt: Krieg ist kriminell. Die Produktion von Feindschaft, Waffen und Kriegern ist von Anbeginn verbrecherisch – tertium non datur – das eine oder das andere. Ein Drittes gibt es nicht. Dies ist die deutsche Lehre aus einem Jahrhundert Vergangenheit, und sie gilt unabhängig von Nation, Staat, Religion, Partei. Wenn aber die Deutschen selbst sich dem nicht stellen, können sie es von anderen nicht erwarten.
Dies schreibt ein Sachse, der statt am Fichtelberg des Erzgebirges am Feldberg des Taunus sitzt, wohin es ihn nach Berlin, Köln, Irland, München, Frankfurt und Offenbach verschlug – Wohnorte, über die er sich keineswegs beschwert.
Die sächsische Geschichte beginnt mit dem aufständischen Widukind (925- ca. 973) und setzt sich fort mit den Wettinern und Albertinern über die 1923 von der Reichswehr vertriebene Regierung der Kommunisten und Sozialdemokraten zum Dresdner Nazi-Mutschmann und dem linksoppositionellen Max Seidewitz der DDR sowie später König Kurt. Als geborener, wenn auch ausgewanderter Landsmann darf ich einen vornehmen Grundzug unserer Mitbürger verraten. Der Sachse stirbt nicht, er geht auf den Friedhof und legt sich nieder. Der Tod soll so unspektakulär sein wie das Leben. Das ist wie mit der Liebe, die zur stürmischen Pubertät gerechnet wird. Danach entwickelt sich daraus ein Überlebensmittel. Schwärmen die Dichter von der Liebeskunst, verrichtet der Sachse sein Handwerk, Tagwerk, Nacht- und Bettwerk. Und immer klingelt der Wecker: Zeit aufzustehen, Kollegen. Wie ist das denn: Die Fernsehsintfluten brechen ins Leben ein, der Weltuntergang im Kunsthonig wird prophezeit? Die letzten Sachsen bauen beizeiten vor. In jedem Schrebergarten entsteht eine mit Spitzen-know-how konstruierte Arche Noah. Mit Wellensittich, Hund, Kind, Frau, PC und Handy hocken sie in ihren Schiffchen, basteln ungerührt an ihren Erfindungen und warten weiter auf bessere Zeiten, denn der Untergang ist ihre Sache nicht.
Bertha von Suttner sprach 1905 in Dresden, unter den Zuhörern war Karl May, der ihr danach einen begeisterten Brief schrieb. Am 22.3.1912 hielt May auf Einladung Suttners in Wien eine große Friedensrede, in der Woche darauf starb er und Bertha von Suttner verfasste einen bewegenden Nachruf.
Zum Wiener Publikum soll auch Adolf Hitler gezählt haben. Falls es zutrifft, muss verwundern, dass er an der Friedensrede keinen Anstoß nahm. Mag sein, er war noch nicht der Kriegsnazi späterer Jahre und so schätzte er die drei eminenten Sachsen Richard Wagner, Friedrich Nietzsche und Karl May als deutsche Leitfiguren und Idole unentwegt hoch ein. Hätte Hitler Karl Mays Pazifismus in der Tat erfasst, wäre der verehrte Autor bei ihm durchgefallen, denn Krieg und Untergang war sein Geschäft.
Karl May entstammte einer ärmlichen Weberfamilie, war das fünfte von vierzehn Kindern und litt bis zum fünften Lebensjahr an Blindheit als Mangelerscheinung. Das vermeldet Wikipedia. Was dort nicht steht: So arm und blind wollen viele den Sachsen halten, da sind sie aber schiefgewickelt, die Eroberer vom Stamme Nimm.
Die Friedennobelpreisträgerin Bertha von Suttner wurde als „Friedensbertha“ und „Judenbertha“ beschimpft. Ihr Buch Die Waffen nieder erhitzte die Krieger über alle Maßen. Karl May nahm ihr Wort „Edelmensch“ auf, was als kitschig empfunden wurde von Helden, denen Nietzsches „Übermensch“ näher lag, denn damit konnte man besser die Sau rauslassen.
Karl Mays Figuren sind angelesene Wunschträume und per Phantasie verdichtete Pseudonyme, mit denen der sächsische Karl als Kara ben Nemsi und Old Shatterhand durch die Prärie, wo nicht in allerhand Varianten durch die Schluchten des Balkan streifte. Als ich, 1957 der DDR entkommen, am Rheinufer saß, begann ich zu lachen bei dem Gedanken, dass ich nun von außerhalb nach Sachsen hinein phantasierend leben würde wie Karl einst von drinnen in die Draußenwelt. Für die abgesperrte DDR verdichtete sich der Abenteuer-Schriftsteller samt seinem Werk zur weltreisenden Traumfigur, mit der man ins Weite zu schweifen vermochte, ohne gehindert zu werden. Derart konnte jeder die eigenen exotischen Sehnsüchte in ihn hineinprojizieren wie vordem ganze Jugendgenerationen, denen May der wissbegierige, in die Ferne strebende gute Deutsche war, was die DDR unwillentlich auf den guten DDR-Ausreisenden verkürzte. Bleiben drei Gruppen zu unterscheiden. Der ersten war der Sachse ein lästiger, nicht ernstzunehmender Volksschriftsteller, der zweiten wurde er selbst zur Metapher, aus der sie klugwitzig herausholte, was sie zuvor hineingeheimste. Als drittes bleibt eine Minderheit, die Karl May wie Bertha von Suttner als Vorläufer jener antifaschistischen Pazifistenbewegung sieht, die in der Weimarer Republik durch die Namen Carl von Ossietzky und Kurt Tucholsky charakterisiert ist. Deren Tod und das Ende ihrer Weltbühne stehen mit dem Anfang Nazi-Deutschlands in ursächlichem Zusammenhang.
Wie wir eingangs bemerkten, stammt dieses 10. Kapitel nicht von Gerhard Zwerenz, sondern von mir, Gert Gablenz, seinem treuen Pseudonym. Ich sollte zu Karl May auch ein paar Bösartigkeiten loslassen. Es misslang. Der eine Sachse hackt dem anderen kein Auge aus. Noch nicht mal als Pseudonym. Außerdem festigt Karl-May-Lektüre die Seele. Man darf so glücklich ein fairer Deutscher sein und die bedrängten Rothäute lieben. Notfalls stellt man sich seine ganz speziellen Feinde im rundum skalpierten Zustand vor. So etwas stärkt im zivilen Wolfsleben das Selbstbewußtsein.
Am Montag, den 19. November, erscheint das nächste Kapitel.