Idylle mit Wutanfall
Die 84. Folge unserer Serie zum Lobe Sachsens und über das unverschämte Glück der Deutschen, auf unseren genialen sächsischen Witz samt Ironie und Polemik nicht verzichten zu müssen, diese 84 also begann mit der Luftaufnahme meines Geburtsortes Gablenz, das ich im Überschwang heimatlicher Gefühle zu „Bad Gablenz“ ernannte. Es tut mir leid, ich muss die Ernennung zum Bad widerrufen. Und das kam so – irgendwann zu Zeiten der deutschen Teilung traf ich bei Lesereisen ganz weit oben, fast am Nordseestrand einen Herrn aus Crimmitschau, der Textilarbeiterstadt an der Pleiße, die sich irgendwann Gablenz eingemeindete, so dass ich sowohl Gablenzer als auch Crimmitschauer wurde, bevor ich aus bekannten Gründen nicht lange Leipziger sein durfte. Der Herr aus dem hohen Norden entpuppte sich als Zeichenkünstler und Dichter. In einem Brief schrieb er:
„Bad Gablenz ist die Liebeserklärung des Literaten Gerhard Zwerenz an seinen Geburtsort in der Nähe der Sächsischen-Thüringischen Grenze. Wenn nicht ewig um Grund und Boden gestritten worden wäre, würde der westlich in der Nähe gelegene Fluss Pleiße die Grenze ziehen, linkspleißig begänne Thüringen und gegenüber die Herrschaft des Kurfürstentum Sachsen. Etwa in der Mitte des Flusslaufes durch das Sachsenland hat die letzte Eiszeit eine hohe Aufwerfung hinterlassen, überwiegend aus Porfürgestein und genau dahinter liegt dieses Dorf Gablenz in einer Senke, dessen Bewohner in früheren Zeiten überwiegend einem Gutsherrn dienten. Ein kleines Nest, nannte der Volksmund ein solches Dorf. Schon ab dem ersten Industriezeitalter konnten sich die Bewohner an Fabrikanten verkaufen, die in der aufstrebenden Textilstadt Crimmitschau dabei waren, in der Welt der Stoffe mächtig zu werden. Der Berg dazwischen wehrte das Gift der über einhundert Schlote ab, das sie in der kurz bemessenen Freizeit nicht atmen mussten. Warum auch immer, zeigte jener Gutsherr der Textilstadt den Rücken, indem er den Eingang zu seinem Anwesen dem Kurfürsten von Sachsen und König von Polen zuwandte, womit sich die Ansiedlung nach Osten ausrichtete. Davor ließ er zwei große Teiche anlegen, die das Wasser eines Baches regulieren halfen, der aus einem verträumten WiesenthaI des Vorerzgebirges herunter kommt, umrahmte sie mit einem Park, in dem er Putten auf Sockel stellte, um Eindruck zu schinden. Hoch über den Teichen steht auf einer Anhöhe die Kirche und dahinter ein mehrstöckiges Mietshaus, in dem benannter Literat geboren wurde, den in seiner Heimat nicht alle kennen, weil er nach den Wehen des Krieges das Weite suchte und Sicherheit im Taunus fand.“
Einzuräumen ist, diese Sätze eines Crimmitschauers aus der Fremde erwärmten mein infarktgeschädigtes Herz. Und so lese ich begierig weiter, wenn es über mich heißt: „Er liebt sein Zuhause in der Art, dass er ihm den Titel eines Bades verlieh, schließlich badete auch ich als Kind aus der textilen Rinne in diesen Teichen, weil die Amerikaner unser Sahnbad für sich beanspruchten und es nahtlos den Russischen Besatzern übergeben hatten. Alle Gebäude waren weiß gestrichen worden, mit rot abgesetzt und aufgewertet, ein Drama für uns Ausgesperrte, ein Segen, dass es Gutsteiche in Gablenz gab. Tief eingeschnitten kommt die Pleiße vom Erzgebirge herunter, ist mehr ein schmales und flaches Rinnsal, kann sich aber furchterregend aufblasen, wenn Himmelswässer aus allen Seitenbächen in dieser Rinne nach Leipzig fließen wollen. Kindheitserinnerungen identifizieren das Wasser als Kloake unterschiedlichster Abwässer, aber vornehmlich die der Textilindustrie, das zwangsläufig dickflüssig dahin kroch, stank, und seine Farbe von Färbereien bestimmen ließ. Heimatbesucher werden heute überrascht, denn die Pleiße bietet den Lebewesen des Wassers wieder ausgezeichnete Lebensbedingungen, was ein Beispiel für die Regenerationsfähigkeit der Natur ist. Öffnen sich Wolkenberge über dem Tal, sind noch heute die Übergänge des Flusses bedroht und als diese fehlten, warteten Fuhrwerker oftmals tagelang, bis sie über die Furt den Fluss durchqueren konnten. Beim Lesen des „www. poetenladen, Gerhard Zwerenz über Sachsen“, glitten meine Kindheitserinnerungen hinüber nach „Bad Gablenz“, riefen, warum auch immer, den Winter nach dem Krieg auf, als ich, mit einem Schal um Mund und Nase gewickelt, Mutters Fahrrad über die Abkürzung des Öttelberges aus dem Pleißental hinaus schob, um zur Großmutter nach Callenberg bei Hohenstein-Ernsthal zu fahren. Oben angekommen, pfiff ein eisiger Wind von Russland herüber, sodass die zugekniffenen Augen die einsam auf der Höhe stehenden Gebäude der Ziegelei des Großvaters von Gerhard Zwerenz nur schemenhaft registrierten. Schnee, Eis und strenge Kälte hatten die Eltern nicht davon abhalten können, ihren Elfjährigen loszuschicken, nur um etwas zum Essen zu holen, denn in den Dörfern gab es weniger schlimme Zustände des Nahrungsmangels, als in der Industriestadt Crimmitschau.“
Der Protokollant, Idylliker und Realist hält in sanften Worten und farbigen Zeichnungen unser Stück Pleißenland fest. Ein Aquarell des Gablenzer Kirchturms hängt in meinem Arbeitszimmer. Crimmitschauer Textilfabriken, inzwischen abgerissen im Nichts vergangener Zeiten verschwunden, hielt er Strich auf Strich als freundliches Genrebild fest. Sieht alles märchenhaft schön aus. Ein Mittelalter der Moderne. Hier verbrauchten unsere Vorfahren ihr Arbeiterschaftsleben samt Krieg und Frieden und wieder Krieg-Frieden-Krieg.
„Lieber Herr ... Das skurrile Foto vom Gablenzer Militärverein verwundert mich. Was ist das für eine Gespensterversammlung? Den Rittergutler Zimmermann glaube ich zu erkennen. Die SA-Männer oben deuten auf eine Zeit vor 1938 – könnte 1933/34 stimmen? Und was wurde aus diesen Helden nach 1945? Die sehen doch im Lebenszustand aus wie 1914 gefallen, wenn auch 1933 wiedererweckt. Dieses Bild ist Gablenz zum Abgewöhnen. Zum Glück erlebte ich es nicht so. Gute Grüße – GZ“ Nach genauerer Betrachtung glaube ich mehr zu entschlüsseln. Der Rittergutsbesitzer Herbert Zimmermann spielt vorn in der stolzen Mitte den Herrn Puntila. Die Blickrichtung seiner Knechteschar Richtung Kamera nimmt den Blick über Kimme und Korn vorweg. Ein trauriges Zeugnis voller Stumpfsinn und Kadaverdisziplin. Drei Männer meine ich zu identifizieren. Großvater hatte mich am Sonnabend mit ins Dorf genommen, wenn er den Gewerkschaftsbeitrag kassierte, es gab kleine bunte Pfennigmarken zum Einkleben in den Mitgliederausweis, so lernte ich örtliche Gewerkschafter kennen. Das war vor 1933. Wie kommen drei linke Metallarbeiter danach in den Militärverein? Die Seuche seucht.
Im Internet finden sich neueste Informationen zum Tourette-Syndrom. „Es ist eine neurologisch-psychiatrische, ätiologisch noch ungeklärte Erkrankung, die durch das Auftreten von Tics charakterisiert ist. Es wird zu den extrapyramidalen Hyperkinesien gerechnet. Bei den Tics handelt es sich um unwillkürliche, rasche, meistens plötzlich einschießende und mitunter sehr heftige Bewegungen, die immer wieder in gleicher Weise einzeln oder serienartig auftreten können.
Verbale, ungewollte Äußerungen zählen mit dazu sowie Ausrufe oder eigenartige Geräusche …. Einfache notorische Tics können sich als Augenblinzeln, Naserümpfen, Kopfwerfen oder Grimassen manifestieren. Beispiele für einfache vokale Tics sind das Ausstoßen von bedeutungslosen Lauten, Husten oder das Nachahmen von Tiergeräuschen. Unter die Kategorie der komplexen Tics fallen im motorischen Bereich das Grimassieren, das Imitieren anderer Leute (Echopraxie) oder auch selbstverletzende Handlungen. Komplexe vokale Tics sind das Wiederholen von Wörtern (Echolalie bzw. Palilalie) oder das als Kopralalie bekannte Herausschleudern obszöner und aggressiver Wörter.“
Zweifellos bezeugt der Zimmermann-Militärverein ein kollektives T-Syndrom in Gablenz. Der Pandemieausbruch ist auf das Jahr 1933 datierbar, obwohl es vorher schon zu Einzelerscheinungen und grippeartigen Gruppeninfektionen gekommen sein muss.
Beim Blick auf das illustre Militärvereinsfoto reimt sich Wutanfall mit Düsenknall. Die militärische Lufthoheit am Himmel über uns ist so sicher wie die heldenhafte Vergangenheit hinter uns, die erneut zu Gegenwart und Zukunft verschmilzt.
Als Kind merkte ich nichts davon, saß in der Bodenkammer über den kurze Zeit später verbotenen Büchern, während ringsum Militärvereine die Macht ergriffen. Die vor der Vernichtung bewahrten Bücher von Ludwig Renn, Arnold Zweig, Henri Barbusse, erschienen in der Büchergilde Gutenberg, dienten zum Lesenlernen, und weil sie ab 1933 nicht erwähnt werden durften, redete ich nur über Karl May. So übt das Kind Sklavensprache ein. Heute stehe ich in unserer Bibliothek vor den geretteten Bänden und die Zeituhr schaltet automatisch acht Jahrzehnte zurück. Bei der letzten Reichstagswahl am 5. März 1933 gab es in Gablenz 209 Stimmen für die NSDAP, 199 für die SPD und 187 für die KPD. So standen noch zu Beginn des Dritten Reiches 209 Rechte gegen 386 Linke, mithin entfielen etwa zwei Linke auf einen Rechten. Das Arbeiterdorf bleibt auch an den Differenzen zwischen SPD und KPD erkennbar, die Hitlers Diktatur mit ermöglichten. Heute wird die Zahl der Einwohner mit nur noch 446 angegeben. Wie viele davon zum Militärverein zählen, den es seit der Einheit wieder gibt, ist mir nicht bekannt. Beim Ortsverein seien „18 Brudervereine zu Gast“ gewesen, heißt es. Da sieht man doch, was die Vereinigung mit sich gebracht hat. Kein Wunder bei einer schwarzen Landesregierung, die gegen Kurt Tucholsky und Wehrmachtsdeserteure kämpft. (Folge 87, Seite 6/7 und Folge 88, Seite 7)
Am 4.11.09 steht in der Zeitung:„Russischer Aufklärer abgefangen – Eurofighter der Bundeswehr, die derzeit zur Nato-Luftraumüberwachung über den baltischen Staaten eingesetzt sind, haben ein russisches Aufklärungsflugzeug abgefangen, das sich ohne Überfluggenehmigung dem baltischen Luftraum genähert hatte.“ Die baltischen Staaten seien als Folge der Weltkrise fast zahlungsunfähig, ist weiter zu erfahren. Was tut's, wenn deutsche Flieger im baltischen Luftraum russische Maschinen abfangen wie einst in den Heldenzeiten von 1941-1945. Bald auch im ukrainisch-georgischen Luftraum? Bernward Vesper über die Deutschen in seinem Roman Die Reise: „Da hat auch der Krieg nichts geändert, selbst ein Weltuntergang wäre für sie keine Erfahrung gewesen. Sie haben überhaupt nichts damit anfangen können – die Deutschen.“ (März Verlag 1977)
In Gablenz erhielt der kommunistische Wehrmachtsdeserteur Alfred Eickworth ein Denkmal, das mit der deutschen Vereinigung pünktlich verschwand. Offenbar übernahmen Militärvereine wieder die Staatsmacht. Auf Nachfrage ist zu erfahren, die Deserteursbüste lagere im Keller des Crimmitschauer Heimatmuseums, das sei abgerissen und 2009 neu eröffnet worden. Drohte Fahnenflüchtigen vor 1945 das Todesurteil, wird in meinem Geburtsort einer verleugnet und vergessen gemacht. Ich hatte, als ich die Wehrmacht verließ, mehr Glück als Alfred Eickworth und erhielt statt der Kugeln in die Brust nur ein paar deutsche Granatsplitter ins Bein. Aus Solidarität mit dem toten Strafsoldaten dementiere ich die Einheit mit einem Ort, der nichts von dem weiß oder wissen will, was sich gehört.
So herrschen die Militärvereine weiter, gegen die Heinrich Mann bereits im Roman Der Untertan vergeblich anschrieb. Zu Kaisers Zeiten nannten die sich ehrlicherweise noch „Kriegervereine“.
Prachtvolle Fundstücke zum Thema im Internet:
Welch fröhliche Botschaft! Ganze Länder erobert, Städte vernichtet, 55 Millionen Tote, Trauer um 12 Millionen deutsche Vertriebene, das zerstörte Dresden, Volkstrauertage, neue Gefallene und Gefallenendenkmale, Eiserne Kreuze, unsere Toten, Unsere Helden, Eure Helden – was fehlte den vormals linken Arbeiterbewegungs-Orten Gablenz und Crimmitschau, als eine deutsche Vereinigung stattfand? Der Militärverein. Endlich haben sie das wieder, was ihnen leider 1945 abhanden gekommen war. Einen Verein, der in der freiheitlichen Bonner Republik schon 1952 neu gegründet werden konnte. Und endlich endlich dürfen alle deutschen Militärvereine ihre ungeteilte Freiheit am Hindukusch verteidigen. Krawczyk wusste schon, weshalb er im Hause Köhler Deutschland, Deutschland über alles anstimmte.
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Gerhard Zwerenz
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