Der Dritte Weg als Ausweg
In der unaufhaltsamen Weltkrise von 2009 schwärmen unsere Romantiker mal wieder vom rheinischen Kapitalismus, den sie doch eben noch dem amerikanischen Falschgeldkapitalismus opferten, als der ein Goldesel zu sein schien. Wir können romantisch dem vergangenen rheinischen Kapitalismus einen sächsischen gegenüberstellen. Sachsen als Kernland funktionierte noch in der DDR. Hätte ihr die SU so helfen können wie die USA der BRD, wären die Ost-Babys mit goldenem Löffel im Mund geboren worden. Stattdessen musste der kleine östliche Staat der kriegszerstörten Sowjetunion mit Kontributionen aufhelfen. Das DDR-Gold hieß Uran und wurde unterbezahlt wie die VEB-Produkte. Dazu setzte es Misstrauen, garniert mit schönen Worten und Feindschaft vom Westen. Die Kriegsverlierer waren die Vertriebenen sowie die Besetzten und Vereinnahmten. Sie versuchten das Beste daraus zu machen. Das ist so ehrenwert wie der Versuch der von Hitler (und Stalin) verfolgten Kommunisten, sich gleich den Israelis eine verfolgungsfreie Heimat zu schaffen. Wer sie dafür befeindet und bestraft, setzt eine schandbare deutsche Rechtsextremistentradion fort. Ich weigere mich, das Leben meiner Landsleute und Genossen wie heute üblich zu verwerfen. Wer dem Gegner nach dem Friedensschluss nicht gerecht zu werden vermag, bleibt unter seinem Niveau, falls er je eines besaß.
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Nach dem Abgang 1957 aus der DDR erlebte ich die Bundesrepublik
ähnlich wie später unsere verehrten östlichen Schwestern und Brüder, die 89 enthusiasmiert aufbrachen, Westdeutsche zu werden und sich nach wenigen Jahren ostalgisch von diesem Hochziel absetzten. Mein Buch Ärgernisse registrierte 1961 als frühes Zeugnis die Gespaltenheit. Mich enttäuschte, ja ergrimmte das lange Ausbleiben reformerischer Oppositionsbewegungen in der DDR. Bringen die nicht zustande, was Polen, Tschechen, Ungarn, was wir in der DDR 1956 immerhin begonnen hatten? fragte ich mich oft.Und was ist im Westen?
Als ab 1989 aus DDR-Bürgerrechtlern übergangslos windelweiche Wessi-Parteigänger wurden, begann ich sie, wenn auch wegen Selbstbeschädigung wider Willen, zu verachten. Das Interesse an den Genossen im Osten lebte erneut auf. Eine Partei wie diese SED, die fast eine Million Parteistrafen verhängen musste, um ihre Leute bei Disziplin zu halten, kann nicht alle verdorben haben. Selbst die treuesten SEDler wuchsen mir wieder ans Herz, lebten sie doch für eine Idee, die unvergänglich bleibt, so sehr sie auch
verunstaltet worden war. Verständnis und Freundlichkeit müssen versucht werden, sie sind die Elixiere des Überlebens im Zeitalter einer Bürokratieherrschaft, in der zunehmend elektronische Apparate
an die Macht drängen. Ingrid erinnert ans Beispiel des Computers, der übersetzen soll. Eingegeben wird der biblisch-poetische Satz: „Der Geist ist willig, aber das Fleisch ist schwach“ nach Matth. 26,41 und
Mark. 14, 38. Als Resultat kommt heraus: „Der Wodka ist hervorragend, aber der Braten ist verrottet.“
Der PC, der die Sklavensprache der empirischen Moderne so glänzend meistert, signalisiert das Ende aller Poesie, indem er sie ins bloße Fressen und Saufen verwandelt, so als blicke er einem der unzähligen Fernseh-Köche über die Schulter.
Einigen Freiheitspredigern steht das Wasser bis zum Halse. Plötzlich beginnt ausgerechnet die FAZ mit dem Abdruck der Radio-Reden des John Maynard Keynes, der doch sonst befehdet wird wie ein leibhaftiger Kommunist. Jetzt also: On Air – der Weltökonom am Mikrofon der BBC und dazu gar höllische Einsichten: „Heute wie damals kommt in der westlichen Welt ein ›klug gesteuerter Kapitalismus‹ in Mode, in der Hoffnung, die staatliche Intervention könne die Instabilitäten der Märkte korrigieren.“
Vor Tische las man's anders, nein konträr. Sind rechte Ideologen bekehrbar –
und linke? Kann mit Keynes die Ökonomie des Dritten Weges einsetzen?
Auf der Jahrestagung des West-PEN 1995 in Mainz war der Zusammenschluss der östlichen und westlichen Sektion noch strittig. In Die Zeit 22/1995 berichtete Iris Radisch davon mit anschaulichen Details. Nach einem Dutzend Rede-Auszügen mit vielerlei Hin und Her heißt es: „Gerhard Zwerenz wünscht sich die Einheit der Gegensätzlichkeiten.“ In den Eingangszeilen unserer poetenladen-Serie ist von der „Einheit der Widersprüche“ zu lesen. diese ehrwürdige „coincidentia oppositorum“ ist zugleich konservativ und revolutionär im Gegensatz zu anderen Einheiten, die jeweils als Vereinigung angestrebt werden. Wer eine Widersprüche eliminierende Einheit zu realisieren sucht, gelangt zu den Dummheiten der Einheit von 1990 bis heute. War das Ostmodell des Staatssozialismus das Experiment eines zweiten Weges, der sich ab 1990 als nicht weiter gangbar erwies, sind die Möglichkeiten des ersten Weges ab 2008/9 offenbar ebenso erschöpft. Was also kann die dritte Möglichkeit sein?
Der Dritte Weg ist weder Ausweg noch Rezept. Jede Vorstellung von ihm ist historisch begrenzt. Die Ideen von Keynes allerdings kommen der Gegenwart so nahe wie die heutige Wirtschaftskrise der von 1929 – nur potenziert unsere globalisierte Welt die Folgen, während das agierende Personal intellektuell wie ethisch weit hinter dem damaligen zurückbleibt. US-Außenministerin Hillary Clinton erklärte bei ihrem ersten Amtsbesuch in Peking: „Indem China auch künftig unsere Anleihen zeichnet, akzeptiert es die gegenseitige Abhängigkeit unserer Länder. Wir werden gemeinsam erstarken oder untergehen, wir sitzen im selben Boot. Und Gott sei Dank rudern wir in dieselbe Richtung.“
Das ist kein diplomatisches Geplauder, sondern der Umriss eines Dritten Weges. Eine USA, die sich nach wie vor als einzige demokratische Supermacht sieht, bietet der aufstrebenden autoritären Supermacht Asiens das Du an. Inklusive Risiken: Will China nicht, gibt's Prügel. Kann China nicht, etwa infolge eigener Krisenwirren, gehen beide unter. Das ist so nüchtern gesagt, dass es Frau Merkel ganz als kühle Physikerin zur Kenntnis nehmen sollte. Politisch gesehen heißt das, der diktatorische US-Chaos-Kapitalismus ist gescheitert, der asiatische KP-Sozialismus soll helfen. Die beabsichtigte neue Einheit der Gegensätze droht Europa doppelt zu dominieren.
Wie sehr hier diese Aussicht als Untergang des Abendlandes verstanden wird, zeigt Nikolas Busse, FAZ-Korrespondent in Brüssel, in seinem neuen Buch „Entmachtung des Westens – Die neue Ordnung der Welt, für das sein Blatt schon zwei Tage nach der beunruhigenden Meldung über Clintons Peking-Gespräche die Werbetrommel schlug: „Die Finanzkrise lässt in Amerika und Europa Banken zusammenbrechen. Russland marschiert wieder in Nachbarländer ein. Indien legt sich die Atombombe zu, die chinesische Volkswirtschaft überholt die deutsche, in der islamischen Welt wird ein Krieg nach dem anderen geführt – immer neue Entwicklungen erschüttern das Weltbild des Westens und treiben seine Politiker an den Rand der Leistungsfähigkeit. Das sind gewaltige historische Umbrüche. Nikolas Busse … beschreibt, wie sich die Weltordnung mit der Vormachtstellung des Westens allmählich auflöst. In Asien und Lateinamerika entstehen neue Großmächte, die ihren Platz in der Weltpolitik einfordern. Daher muss sich Europa viel stärker als bisher für seine Interessen und Werte einsetzen, notfalls auch mit militärischen Mitteln.“ (FAZ 25.2.09)
Helmut Kohls Antwort vom 4.12.96 auf den im Text erwähnten langen GZ-Brief
Kohls Antwort war ausweichend.
Die Instabilitäten missbrauchter Märkte sind Folgen instabiler und missbrauchter Intelligenzen, die im Resultat gegen Null tendieren. Ein „Dr. Karl Wand, ehemaliger Botschafter A.D., Stockholm“ und ehemaliger Wehrmachtsoffizier schreibt am 13. 2. 09 in einem FAZ-Leserbrief: „Nichts gegen ›Stolpersteine‹, die an Hitlers Greuel erinnern, aber ebenso wichtig ist für Deutschland und die Welt ein Denkmal von Stauffenberg. Wäre Hitler durch seine Bombe umgekommen, er hätte nicht nur Deutschland von den Nazis, sondern auch Auschwitz von den Sowjets befreit.“
Zwei Wochen wartete ich geduldig auf die Richtigstellung des oben zitierten Botschafter-Satzes. Sie unterblieb. Demnach hätte Stauffenberg „Auschwitz von den Sowjets befreit“? Eine Redaktion und Leserschaft, die das durchgehen lässt, ist die aggressiven Leitartikel der neuen Stahlhelmfraktion wert.
Der Erste Weg führte und führt in den Krieg. Der Zweite Weg der Sowjetunion führte in die Niederlage. Wir sind beim Dritten Weg und fragen, ob er einen Ausweg bietet.
Hillary Clintons Versuch einer Annäherung, wo nicht Koppelung USA-China ist entweder Bauernfängerei oder läuft darauf hinaus, Samuel P. Huntingtons The Clash of Civiizations zu widerlegen. Statt Kampf der Kulturen also Dialog der Kulturen, deren Gegensätzlichkeiten nicht geleugnet, sondern genutzt werden. Schon der Versuch dieses Dritten Weges alarmiert abendländische Kreuzritter, federführend, also PC-armiert die in kriegerischen Untergängen bewährten deutschen Siegfrieds in Politik, Medien, Militär. Nach Huntingtons Theorie wird die Weltpolitik nicht mehr von politischen, ideologischen oder wirtschaftlichen Konflikten bestimmt, sondern von kulturellen. Umgekehrt wird ein Schuh draus. Ein sich mit Obama auf seine freiheitlichen Grundideen besinnendes Amerika kann auch anders. Steht zu hoffen, dass die USA auf diesem Weg durchhalten.
Falls aber nicht?
Die heute grassierende Weltkrise galt noch drei Monate zuvor als unmöglich. Jetzt verkündigen die Talknudeln von gestern ohne zu erröten das Gegenteil von gestern. Wären sie so christlich wie sie tun, müsste sie die Short Story vom Tanz ums Goldene Kalb entsetzen. Die auf Gotttes Weisung hin erschlagenen 3000 Gold-Tänzer in heutige Proportionen hochgerechnet ergäben Zahlen gleich den Summen, die den Geldverfälschern als Boni zugeschanzt werden. Sachsens August der Starke sperrte seinen Böttger ein, damit er Gold zustandebringe. Der erfand immerhin das Porzellan, das die Chinesen längst kannten. Die heutigen Goldmacher erfanden zum totalen Krieg die totale Globalkrise. Wer den Ausweg sucht, muss wissen, die finanzielle und ökonomische Pleite ist nur Teil des allgemeinen Kulturdesasters einer Unwertegesellschaft, die sich seit dem 1. Weltkrieg im freien Fall befindet. Die Internationale der postmodernen Sklaverei ist unausweichlich, kommt es zum letzten Gefecht. Schon warnen die Ostkrieger vor „Unterwürfigkeit“ gegenüber China und im „Atomkonflikt mit Teheran“. (FAZ-Leitartkel 26.2.09) Die waffengeile Denkfabrik am Main warnt Obama vor „purer Ideologie“. So wird bei denen Friedensvernunft genannt. Anthony Blair schwafelte einst vom Dritten Weg und zog lügenlächelnd mit G.W. Bush in den Irak-Krieg.
Die Frage nach einem Dritten Weg aus der heutigen Weltkrise ist lediglich rhetorischer Natur. Die machthabenden Politiker und ihre medialen Denkfabrikanten sind eben erst widerstrebend bis heillos erschrocken beim Pragmatiker Keynes angelangt, den vorurteilslos zur Kenntnis zu nehmen bereits ihr Fassungsvermögen überschreitet. Wie könnten sie dann die Komplexitäten einer Welt von Marx über Trotzki bis Bloch erfassen. Abgesehen davon, dass die Marxisten selbst ihre Klassiker nicht aus dem Gulag ihrer Vergangenheit zu befreien vermögen. Stattdessen verschwinden nach den Kommunisten auch die Sozialdemokraten aus dem europäischen Angebot. Ist der Rest nur Imitat und Sektierertum?
Der Dritte Weg ist ohne Revolution nicht gangbar. China versucht ihn als revolutionären KP-Kapitalismus. In Südamerika zeigen sich spezifische Mischformen. Die Sowjetunion verfolgte und bestrafte alle neuen Ansätze bis ins bittere Staats-Ende. Die DDR nicht anders, obwohl hier plurale Restbestände überdauern konnten, bis sie ab 1989/90 abgewickelt wurden, um jenen entfesselten Kapitalwahn zu installieren, der dem Ost-Versagen das West-Versagen anfügte. So wurde aus der friedlichen Revolution der Wendepunkt zu neuen Kriegen mit deutschvereinter Beteiligung.
Kann sein, es gibt eine Moderne des Globalmarxismus, den es noch gar nicht gibt, der aber jene futuristische Revolution zuließe, die den Krieg sabotiert und den Bürgerkrieg durch intellektuelle und ethische Konfliktlösungen ersetzt. Die Berliner Republik ist auch im intellektuellen Sinn so revolutionsunfähig wie chaosanfällig. Der regressive Aggregatzustand führt traditionell zu autoritären Reaktionen. Zum Kriegsende 1918 wäre ein sozialrevolutionärer Dritter Weg möglich gewesen. Die verratene Revolution führte mit dem Konflikt Hitler-Deutschland und Stalin-Sowjetunion in den Zweiten Weltkrieg, dem der Dritte als Gemisch von kalten und heißen Kriegen nachfolgt.
Am 9.10.1967 erschien der Spiegel mit einem Artikel über Ernst Bloch. Schon drei Tage später fand sich in unserem Briefkasten eine Kopie der ersten Seite des Spiegel-Textes mit handschriftlichen Zusätzen eines Münchner Klassikers, der offenbar seines Führers Tod überlebte:
Der Spiegel-Artikel mit dem Titel Durch die Wüste nennt Bloch einen Endzeit-Denker. Endzeit ist, wenn jeder neue Aufbruch durch alten Abbruch erledigt wird. Tritt ein Philosoph auf, sitzt schon die erste Schmeißfliege drauf und singt das Deutschlandlied. Seit 1848 reihen sie Sieg an Sieg und Untergang an Untergang. Sachsens Nietzsche nannte das hochgestochen „Wiederkehr des ewig Gleichen“. Laut medizinischer Diagnose ist es Wiederholuungszwang. Jede versäumte Wende führt näher zum Ende.
Die Dreiwegestory: Erstweg beglückt mit Arbeit, Gold, Krieg. Zweitweg revoltiert, will's besser machen und wird besiegt. Kommt Drittweg als Ausweg. Wird von Erstweg und Zweitweg als Holzweg verteufelt. Gerät Erstweg in globaltotale Weltkrise. Ruft Drittweg zu Hilfe. Drittweg aus dem Off: Jetzt soll ich euch retten? Revolutioniert erst mal eure Eierköpfe!
Mephisto in Auerbachs Keller:„O nein, die Kraft ist schwach, allein die Lust ist groß.“
Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 06.03.2009.
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Gerhard Zwerenz
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