Zwischen Genossen und Werwölfen
Ich liebe die Soldaten, die das Gewehr wegwerfen, Opfer, die auf Rache nicht sinnen, Vertriebene, die keinen anderen vertreiben wollen, Techniker, die sich weigern, den Tod zu erbauen, Politiker, die keine Grenzen verändern wollen. Mir sind unsere Staaten zu verlogen großkotzig, die Staatskirchen empfinde ich als Beleidigung der menschlichen Logik, an den Parteien missfallen mir die Politiker mit ihren Dummenfanggesichtern. Wäre ich jünger, gründete ich eine Partei der Vernünftigen mit einer Hymne aus vielstimmigem Gelächter.
Vor Jahren begann ich Gedichte über Sklavensprache zu schreiben. Zu meiner Verwunderung wurden sie bei öffentlichem Vortrag mit größtem Applaus aufgenommen. Ich trat damit nur selten an, zweimal im Jahr, wenn eine Band zur Hand war, das steigert die Wirkung. Es liegt, glaube ich, an der Mischung von Sarkasmus und Liebe. Wir werden gezwungen, Sklavensprache zu sprechen. Wir leben auf, verlernen wir sie. Unser Leben, unsere Kultur, Kunst, Politik, Wirtschaft, Publizistik, all das ist gefälscht, und indem wir nicht darwidersprechen und widerstehen, fälschen wir uns mit ein. Was zu widerrufen uns Lust bereitet. Am meisten gefiel mir, dass verstanden wird, die Sklavensprache kennt Dialekte und Idiome, die werden in West wie Ost gesprochen. Im Kern sind es dieselben Kräfte, die dazu zwingen, und dieselben, die sich nicht zwingen lassen wollen. Als ein Kritiker schrieb, diese Gedichte seien meine kurzgefasste Anleitung zur individuellen Revolte, fühlte ich mich verstanden.
Vom Filosofen aufgefordert, darüber nachzudenken,
was Sklavensprache sei, dachte ich dreißig Jahre lang ein wenig nach. Immer dann, wenn die Geschichte ein wenig pausierte, erkannte ich beschämt: Ich selbst war es, der in den vorangegangenen schweren Zeiten, bevor die Geschichte ein wenig pausierte, die Sprache zurechtgebogen hatte, auf dass sie mir nicht die blutende Wunde Wahrheit aufrisse. Ja, ich bog die Sprache zu eleganten Illuminationen zurecht, und ihre wundervollen tausendgesichtigen Formen wellten wie Haar das Haupt der Gestalten, die ich als Kunstfiguren ins öffentliche Leben entließ.
Ich wollte nie etwas anderes sein als das Kind, das die Nacktheit des Kaisers ausruft. Der Fehler der Erwachsenen besteht darin, dass sie darüber schockiert innehalten, statt das Kind weiter seine Wahrheit verkünden zu lassen. Es hätte noch zu sprechen von der wildblühenden Poesie seiner Sicht, von der Wahrhaftigkeit dessen, was es erblickt.
Und trotzig, wer weiß, warum, sage ich: Ich bin Kommunist. Irgendwo wird es schon noch einen geben. Und vielleicht noch einen, und so wachsen wir der Erde entgegen.
Und nicht weniger trotzig, an Stalin denkend, sage ich: Ich bin Antikommunist, doch das wurde ich erst in den anschließenden Jahren, als ich studierte und meinen Kopf zu gebrauchen lernte.
Zurückblickend auf Kindheit und Jugend, auf Krieg und ersten Nachkrieg, erkenne ich verwundert, ich habe aus dem Bauche gelebt, vielleicht deshalb überlebt. Wer studiert hat, macht sich eine falsche Vorstellung von der Welt. Der Mensch lebt vom Brot, denn indem er isst, erhält er sein Leben. Erst wenn er genug zu essen hat, entdeckt er die Kultur. Ich wusste lange nicht, was das sein soll. Im Rückblick erinnere ich die ersten dreißig Jahre meines Daseins als eine Abfolge von Bildern. Sie sind schön und leuchtend, grell und mörderisch. Gestalten sehe ich vor mir wie aus der Bibel. Die Vorfahren lebten wie wir heute, die Bibel erzählt von ihren Schrecknissen und Hoffnungen. Um sich zu entlasten, erfanden sie sich die höhere Instanz eines Gottes, dem sie die Gründe für ihre Grausamkeiten und Schönheiten, für Liebe, Zorn, Hass, Verrat zuschieben.
Keiner von uns will es gewesen sein. Jeder handelte im guten Glauben. Solange ich zurückdenken kann, sah ich immer Menschen, die glaubten. Eine vage Erinnerung an gläubige Kommunisten und Sozialisten drängt sich auf. Gläubige Nationalsozialisten marschieren vorüber. Nach dem Kriege wechselten Stalinisten, Maoisten, Chruschtschowianer, Breschnewisten und Gorbatschowianer einander ab. Andere wollen das Deutsche Reich restaurieren. In den Kirchen bilden sich fundamentalistische Glaubensgruppen. Auch ich besitze einen Glauben. Meine Haut ist die Grenze, die feindlichen Armeen den Einmarsch absperrt. Für Waffenlose steht die Tür offen bis ins Herz.
Ja, ich habe schön gesprochen, wo ich hätte ganz
einfach sprechen müssen. Ich verkaufte bunte Luft- Ballons und wußte, bald würden sie platzen. Ich verfaßte stromlinienförmige Kreationen. Ich schönte. Ich begab mich in Abhängigkeiten, indem ich meine Worte zu Diplomaten ernannte und meine Sätze zu goldbetreßten Majestäten. Jede meiner Silben trug ein goldenes Komma im Tornister. Ich schmückte. Aber man wird doch noch durch die Blume sprechen dürfen, entschuldigte ich mich, notfalls, ertappt, mit dem offen zur Schau gestellten guten Gewissen des Mannes mit dem notorisch schlechten Gewissen.
Soeben ist aus Sachsen zu erfahren, die Leipziger Volkszeitung druckt eine Erich-Loest-Erzählung in Serie ab, Titel: Der Wäschekorb. Unser aufmerksamer Hartwig Runge / Ingo Graf ist auf dem Posten und mailt ein Stück aus der 14. Folge. Darin bedauert Loest ironisch schnalzend die Abwesenheit von Schriftstellern auf einem Linken-Parteitag in Cottbus: „Kein Kant, kein Neutsch, nicht mal die Dahn oder Zwerenz …“ Zwar nahm ich nie in meinem Leben am Parteitag irgendeiner Partei teil, doch in Cottbus trat ich als Traumtänzerin auf:
In diesen Zeiten waren wir genau und gut und wahrhaftig.
Denn die Sklavensprache derer, die es nicht mehr sein wollen, signalisiert den Zeitpunkt des Aufstands. Wie aber wollen wir zueinander sprechen nach dem Sieg? Meine Sünden sind: Manchmal sprach ich mit geborgten Worten. Ich erbrach meine Bibliotheksfrüchte. Mit hohlen Worten predigte ich einen Glauben. An den ich selbst, weil zu klug, nicht glaubte. Oder ich glaubte, weil zu dumm, daran. Oder ich ließ mich einfach engagieren von den Kirchengöttern.
Als 1978 die erste kürzere Fassung meines Bändchens Das Großelternkind erschien, hieß es in der Presse: „Zwerenz' autobiographische Berichte sprechen die elementaren Bedürfnisse, die sonst verdrängt und von Hemmungen niedergehalten werden, ohne Rücksicht aus …“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung) „Wer solche Sätze schreibt, wer in wenigen Worten soviel Bedenkenswertes aus einem alten Schrank herausholt, der ist ein Dichter. Auch wenn dieser Gerhard Zwerenz nur ein ganz gewöhnlicher Schriftsteller sein will.“ (Süddeutsche Zeitung) „Gerhard Zwerenz ist ein Vollblutschreiber. Die Geschichten des Buches ›Das Großelternkind‹ sind gefüllt mit Wirklichkeit und voller Sinnlichkeit. Sie packen den Leser durch die Intensität der Erlebniswelt des Kindes, das Zwerenz einmal war. Sie sind poetisch und voll Zauber.“ (Rhein-Neckar-Zeitung) Lobesdurstig werfe ich alles Gift der neidkranken Kleingeister beiseite und füttere die arme Seele mit noch mehr Rezensionsköstlichkeiten: „Zu den Teilen, die bisher ungedruckt waren, vom Autor aber verschiedentlich bei Lesungen vorgetragen wurden, gehört das vierte Buch: Vermächtnis für die Eiszeit: Sklavensprache und wie man sie verlernt … Am letzten Tag … sorgte Gerhard Zwerenz für den Höhepunkt der gesamten Veranstaltung … das waren aggressive, kraftvolle starke Verse … Er tat dies mit bitterböser Ironie von ätzender Bissigkeit … Der Monolog ist eine Abrechnung mit der Heuchelei …“ (Mannheimer Morgen) „Gerhard Zwerenz … war jedoch bei dieser … Veranstaltung der spektakuläre Höhepunkt. Der Provokationspoet hatte einen seiner berühmten Höhepunkte … Der Star aus dem Taunus demonstrierte eindrucksvoll den Unterschied zwischen bravem Herunterlesen und einem mitreißenden Auftritt. In mehreren Fortsetzungen von Sklavensprache röhrte er über Folter und Lust gegen Kreuz und Christentum. Für akademisch gebildete Untertanenmentalität gab es nur Spott: ›Jedes Lamm baut seinen Doktor, jedes Schlachtermesser wird durchreflektiert.‹“ (Abendzeitzung Nürnberg)
Es kam vor, daß ich unachtsam sprach.
Oder achtsam, mit sorgsam ausgewählter List. Weil ich mich nicht schon wieder erwischen lassen wollte. Warum auch. Oder ich sprach meinen Vorgesetzten zum Munde, weil's das Leben leichter werden läßt. Und voranbringt. Statt in diese ewiglangen Schwierigkeiten. Oder ich salbaderte akademisch in der Runde. Schliff altes Kauderwelsch zu neuem Kauderwelsch. Ich schluckte unverdaubare Halbwahrheiten
„Es hatte sich gelohnt, auch auf den späten Auftritt von Zwerenz zu warten, der um Mitternacht das Podium bestieg …mit seinem Appell für eine Rebellion, die von innen kommen müsse ... Das geht unter die Haut, wie Zwerenz uns die Sklavensprache, zu der die Sprache unserer Zeit verkommen ist, in
akkurat numerierten Kapiteln um die Ohren haut. ..man weiß zugleich: Das ist wahr, was er sagt. Der komödiantische Savonarola hat den Nerv getroffen.“ (Nürnberger Nachrichten) „Sklavensprache nennt Zwerenz seine assozialiven Gedankenfolgen, die er mit expressiver Rhythmik in die Musik hineinspricht … Ein origineller Klangstrom … Ein faszinierendes Geflecht …“ (Rhein-Neckar-Zeitung) „und, als Höhepunkt zu mitternächtlicher Stunde, Gerhard Zwerenz …“ (Nürnberger Zeitung)
Den himmlischen Posaunen ließen sich höllische Wutschreie entgegensetzen, bei passender Gelegenheit gibt's hier im poetenladen saftige Exempel. Wenn manches ärgert, so erfreut das andere und es wäre mir nicht recht, herrschte die belanglose Stille unbetroffener Herzchen.
Ich kann auch meine Lippen fest
verschließen. Andeutend, dass ich schweigen kann, wenn meine Überzeugung es verlangt. Die teure. Oder ich schweige aus bequemen Gründen. Weil's teurer würde, wenn ich spräche. Weil's noch bequemer ist, von nichts zu sprechen und zu wissen. Als Blinder les' ich dann in meiner Zeitung. Sehe fern. Vorm Radio hocke ich, die Ohren fest geschlossen. Herz + Hirn verrammelt. Mein früherer Kampfgenosse Loest vertraute jüngst der LVZ an, er befürchte das Zerreißen der Leipziger SPD, weil „die Linken sich anschickten, in Leipzig stärkste Fraktion zu werden.“ Der ehemals linke Erich will eine Demokratie ohne Linke und verübelt dem linken Politiker Volker Külow dessen frühere „Stasi-Tätigkeit“, die der Genosse einfach nicht so humoristisch zu bagatellisieren verstand wie der Schriftsteller Loest seine dumpfe Beteiligung an Himmlers Werwolf. Bei Kriegsende war Loest im selben Alter wie Külow beim Ende der DDR. Meinem ehemaligen Freund Erich rate ich, sich alle Tage zu freuen, nicht von US- oder SU-Soldaten als Werwolf erwischt und erschossen worden zu sein. So könnte er sich seines gewiss gerechten Zorns auf jene enthalten, denen er einst zugehörte, als er noch verkündete, die Westmark fiele weiter. So sehr ich Erichs humoristische Bewältigung seiner Wochen als Wehrmachtswerwolf verstehe, akzeptiere und schätze, so stark irritiert mich seine Verirrung nach der Himmlerschen Devise der Werwölfe: „Hass ist unser Gebet und Rache unser Feldgeschrei!“ Hass kann nicht unser Geschäft sein. Der zum Marxtöter gewandelte vormalige Oppositionelle reagierte bisher nicht auf meine Fragen in Folge 34 dieser Serie. Stattdessen weicht er in minimale Frozzelei aus. Ich trauere um einen guten Freund.
Mir fehlte es nie an guten Gründen.
Zu oft schon riss ich's Maul an falscher Stelle auf. Die Freunde haben mich im Stich gelassen. Aufs Volk ist nie Verlass. Es hinkt stets mit den stärkren Bataillonen voran und auch zurück in jene längstvergangnen Lügensprachen. So wird aus unsereinem bald ein Pessimist, der schon aus Vorsicht spricht, als ginge es um Kunst, wo es ums Leben geht. Um deinen Kopf. Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 9. März 2009.
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Gerhard Zwerenz
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