FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller Da geh ich die Treppe runter zu Auerbachs Keller, dort steht einer vor der Tür, der sieht aus wie – das kann doch nicht wahr sein, der sieht genauso aus wie Franz Kafka. Die spiel'n hier Theater, denke ich, Welttheater, die drehn ne internationale Kooperation für Soko Leipzig, das ist jetzt an der Pleiße alle Tage so, ich sage kurzentschlossen: Entschuldigen Sie – Ich weiß schon, sagt er. Was wissen Sie schon? Sie wundern sich, es ist nun mal Fakt, ich bin Franz Kafka. Und ich direkt drauf zu: Können Sie Gedanken lesen? Er: Wir Wiedergeborenen sind dazu imstande. Ich weiß, was Sie hier im Keller wollen. Und was will ich außer Bier trinken? Sie wollen mit Goethe, Faust, Mephisto, Frosch am Tisch sitzen. Doch das geht nicht. Warum nicht? Weil das hier die Tür ist, vor der Sie warten werden. Ach, Herr Kafka, das ist die Tür, vor der ich bis zum Tode warten muss? Sie müssen nicht. Sie können auch durchgehen. Aber ich warne Sie. Wovor warnen Sie mich, Herr Kafka? Da Sie mich gelesen haben, wissen Sie, was Ihnen bevorsteht. Was steht mir bevor? Schon im dritten Raum hinter der Tür wird Sie eine so gleißende Helligkeit blenden, die selbst ich nicht aushalte, und ich bin der Türsteher. Türsteher – was ist das für'n Beruf? So etwas wie Funktionär. Funktionär? Ja. Oder wie Banker in der Zivilgesellschaft. Das höre ich gern. In der Zivilgesellschaft sind die Banker die Funktionäre. Was sie sagen, geschieht. Oder nicht. Oder doch. Oder doch nicht. Wir sind hier, mein lieber Herr Kafka, in Auerbachs Keller. In Leipzig. Na gut – fassen Sie sich ein Herz und gehen durch die Tür bis ganz unten. Bis ganz unten? Das klingt aber nicht nach blendender Helligkeit. Die letzten paar Stufen ganz hinten, denken Sie an unseren Johann Wolfgang von Goethe. Die letzte Treppe abwärts reitet der Herr, der auf sich hält, auf einem Weinfass. Nicht vergessen. Das will gesattelt sein. So steht's im Faust. Und dabei bleibt es. Weil's unser Weimarer Klassiker so gedichtet und wie's der Frosch gesungen hat: Das liebe Heilge Römsche Reich,
Merkt es, Damen und Herren, Goethes Frosch redet vom Heilgen Römischen Reich wie wir von der DDR, und die ist hin wie's Alte Rom, man mag's bedauern oder nicht.
Und so mag auch die liebe BRD zu Ende gehen. Bonn ist nicht Weimar. Was ist Berlin? Was ist Berlin von Auerbachs Keller aus gesehen und betrachtet? Kafka hilf. Goethe hilf. Wirf Weisheit vom Himmel herunter.
Herr Kafka, ich bin bereit, durch Ihre Tür zu treten. Und er: Nur wer seine Sünden bekennt, darf hindurch. Und ich: Ich bekenne, Herr Kafka. Und er: Wie wollen Sie's denn betiteln? Und ich: Bericht an die Akademie für Sklavensprache.
Gegenüber den Kollektiven beharre ich
darauf, ein außenseiterischer Einzelgänger zu sein. Abseits, auf Distanz, eifersüchtig meine schöne Fremdheit pflegend. Gegenüber den blasierten Einzelgängern beharre ich darauf, ein Herdenmensch zu sein. Wollüstig teile ich die Gewohnheiten der Masse, ihren Geruch. Von Zeit zu Zeit laufen Parolen durch die Reihen, werden die alten schönen Lieder gesungen, wird die Beute verteilt. Ich gehe zur Seite weg. Deserteur. Ich weiß, in Friedenszeiten gibt es zu wenig rauhe, warnende Stimmen. Während der mörderischen Revolutionen mangelt es an Disziplin. In Kriegen gibt's zuviel. Wer es anders hält, wird verachtet. Für unzuständig erklärt, elektrogeschockt. Wer widersteht, wird erschossen. Neue Alphabete werden ersonnen.
Rückblende: Wie war das doch zu Leipzig in Auerbachs Keller? Ich sagte: Sie sehen aus wie Kafka. Er sagte: Ich bin Kafka. Und ich: An der Pleiße ist alles Mögliche möglich. Hier studierte sogar eine Kanzlerin, bevor sie's wurde. In Leipzig aber, Herr Kafka, werden Sie immer Franz Gafga heißen. So weichgekocht sind hier die Worte.
Er: Unsterbliche Tote können in Leipzig alles, sogar Hochdeutsch. Soeben landete hier Richard Wagner mit dem Flieger. Der sächselt in sieben Sprachen in sieben Opernhäusern. Und ich: Wie vor vielen Jahren wohne ich im Mendelssohn-Bartholdy-Haus. Drunten komponiert der Meister am Klavier. Oben traktiere ich meine kleine Erika-Reiseschreibmaschine, Jahrgang 1955. Als Marxist bin ich zu gleichen Teilen von vorgestern und übermorgen. Heute herrschen die Götter des Bankkapitals. Und Kafka: Macht nix. Wir alle sind Gespenster aus dem Morgenland, gestern verketzert und verbrannt, als Kommunisten von Nazis verfolgt, als Trotzkisten erschossen von den Genossen, und es ist immer noch die Wartezeit vor der Tür in Auerbachs Keller.
Ich öffne die Tür und befinde mich im Hörsaal 40, denn was sich liebt, das irrt sich. Es geht viele Stufen runter bis in die tiefste, hinterste Besenkammer, wo, wer auf den Klassiker hält, majestätisch angesoffen auf dem Fass einreitet und da sitzen also immer noch Goethe, Mephisto, Faust und dichten den 3. Teil, den schon Nietzsche geplant hatte, weshalb ihn der Teufel ritt, und so wurde Zarathustra draus. Das alles soll noch Sachsen sein – Leipzig sein? Soviel zu Kafkas Story Vor dem Gesetz, gemeint ist Vor der Tür, variiert von Wolfgang Borchert zu Draußen vor der Tür, das heißt in deutscher Postmoderne: Wer links ist, hat draußen vor der Tür zu bleiben.
Bis hierhier ist es ein Roman-Anfang. Abgebrochen oder unterbrochen, weil's im Ernstfall zu ernst würde, wer will heute schon noch etwas von Goethes Faust-Mephisto oder Nietzsches Zarathustra-Übermenschen wissen. Schon Tolstoi unterbrach seinen Krieg-und-Frieden-Roman mit essayistischen Einschüben. Um es also zusammenfassend und fürsorglich zu erklären – wenn ich Sachsen sage, meine ich mein veritables Geburtsland Sachsen und aus reiner Sympathie grenzüberschreitend jenes Groß-Sachsen, das DDR hieß, wo wir Sachsen mindestens in Ostberlin die 5. Besatzungsmacht darstellten, womit wir uns, was Preußen betrifft, für hohenzollernsche Umtriebe zwischen Pleiße, Elbe, Oder zu rächen versuchten, was, wie wir zartfühlend bemerken, Unruhe stiftete, weshalb wir in gewissen wohldosierten Abständen heldenhaft gegen uns selbst rebellieren und uns anno 1989/90 sogar bis hinter die eigenen Landesgrenzen zurückzogen. Wir wechselten von schwarzweißrot über schwarzrotgold zum leuchtenden Morgenrot und übers verblassende Abendrot in die tiefste vorstellbare Schwärze, die Fahne der Schornsteinfeger schwingend. Einige fordern sogar das Geschwärzte von schwarzweißrot zurück, während andere mehr aufs Gold aus schwarzrotgold warten und ersatzweise bei Wer wird Millionär mitspielen, was zur blühenden Landschaft im eigenen Hausgarten führen kann. Was in der Tat blüht und gedeiht ist zuviel Braunes.
Der Tag, an dem die Pleiße geklaut wurde, begann schon so durchtrieben unwahrscheinlich. War's Napoleon, der sich über Pleiße und Elster nach Westen zurückzog, waren es Russen, die Richtung Osten heimwärts wanderten – wer weiß.
Mein Leipzig lob ich mir, es ist ein Klein-Paris, die Gäste kommen und gehen. Den Goethe-Satz sagten die Messebesucher aus dem wilden Westen freihändig auf, als sie über die Grenze hereindurften, Westmark in romantische Liebe umzutauschen. Auch christliche Kaufleute bedürfen der Befreiung von den Zwängen des heimischen Herdes.
Wer hat die Pleiße geklaut, die von Karl May doch als Silbersee besungen wurde wegen dem Schatz im Silbersee. Das sind so allerlei Kapitel aus meinem Roman über Leipzig. Ursprünglich wollte ich dort an Ort und Stelle bleiben, jedes zweite Jahr einen humoristischen Roman schreiben, Leipzig bietet tonnenweise Stoff und Figuren, jede zweite Woche sollte ein wallraff-fröhlicher Artikel in der Weltbühne erscheinen. Warum wurde Leipzig die Pleiße geklaut? Weil jeder Krimi, der im Sumpf spielt, ein unfassbares Verbrechen benötigt. Unfassbar – das bringt mich aufs berühmteste Fass der Weltliteratur, auf dem Mephisto in Auerbachs Keller einreitet und dann wieder hinaus. Im Vertrauen – Goethe war IM: er denunzierte seine Figuren als wär's ein Stück von heute und er ein Jäger gleich dem heiligen Hubertus Knabe.
Wie sich herumspricht, wird die Stadt untertunnelt. Das macht sie so unendlich kostbar. Es entstand ein geheimes S- und U- Bahn-System von hier bis zum Rhein und Main, wo im Westen die Milliarden in Banktürmen begraben liegen. Manchmal, wenn ich am Fuße des Feldbergs im Taunus morgens um sechs aufwache, um sieben gefrühstückt habe und Lust auf ein Abenteuer verspüre, besteig ich 8 Uhr 15 die U-Bahn und bin um 11 Uhr 30 in Leipzig, Station Dimitroffplatz, ich nenn' ihn so aus lauterster Gewohnheit als alter Mann von gestern und übermorgen..
Wir Sachsen sind immer fremdbesetzt. Biedenkopf, Milbradt, Tillich. Beim ersten gab's Monarchie, der zweite verscheuerte die Sachsenbank nach Deutsch-Südwest. Die sind auch pleite. Hätte Milbradt statt einer Bank zehn Sachsenbanken gegründet, wären sie, weil systemisch, mit Milliarden gerettet worden. So gelangten wir zu Tillich. Der hat von den Akten her als unbeschriebenes IM-Blatt zu gelten.
Wir waren immer fremdbesetzt von Franzosen, Preußen, Russen. Als wir uns 1923 eine kleine Volksfrontregierung leisten zu dürfen glaubten, schickte SPD- Friedrich-Ebert die Reichswehr. Keine Kommunisten in die Regierung! Zehn Jahre später gabs keine Sozis und keine Kommunisten mehr in der Regierung. Fünfzehn Jahre später hatten die Stalinorgeln und T 34 gesiegt. Die Pleiße errötete und floss von Leipzig zurück ins vogtländisch-erzgebirgige Uran-Land – wir Sachsen hatten die Bombe. Wir Sachsen sind Bombe. Mal vom Osten besetzt und ausgegraben, mal vom Westen besetzt und abgegraben. Waren das noch Messezeiten, als die Banker grenzüberwindend nach Leipzig reisten, um in VEB-Betten mal richtig ausschlafen zu dürfen. Doch die Bombe tickte. Die Mauer fiel unter wuchtigen Schabowski-Worten. Seitdem wird auch unsere sächsische Freiheit am Hindukusch verteidigt.
Gesang der Opfer
haben mit einem nassen beil gestohlen meinen runden kopf aber kann nicht sterben schwing auf die mauer mich wecke die schlafende stadt schrei meinen roten fließenden hals hinaus in die wolkenstadt schrei von geborstener mauer meinen schrei ich hahn ohne kopf auf nichtvorhandener mauer von unübersehbaren beilen getroffen ich hahn ohne kopf auf brennender mauer
Anfang der sechziger Jahre gehörte Gesang der Opfer zu meinem öffentlichen Leseprogramm. 1961 wurde die Mauer errichtet. Die Strophen galten fortan als Mauerklage, waren aber schon 1957 in Leipzig entstanden und galten Marinus van der Lubbe, dem Reichstagsbrandstifter, der in Leipzig enthauptet worden war. Der Streit, ob Nazis oder Kommunisten den Reichstag angezündet hatten, beschäftigte mich weniger als die Frage, weshalb der Brand und van der Lubbes Verurteilung vom Volk der Deutschen widerstandslos hingenommen worden ist. Es wären Gründe genug gewesen, die Hitler-Bande abzuschütteln. Die Frage des Zeitpunktes ließ mir keine Ruhe. Für mich war glasklar – als van der Lubbbes Kopf in die Sägespäne fiel, waren Reich und Volk verloren. Was folgte war Nachspiel. Das Mauergedicht von 1957 ist eine Vorahnung von 1961, wie Fritz Behrens in seinem langen Kampf von der Ahnung und wachsenden Gewissheit angetrieben wurde, dass eine sozialistische Ökonomie anders als die von Moskau praktizierte aussehen müsste. Was China mit der Abtrennung von Mao gelang, gelang der SU nicht mit der Abtrennung von Stalin. Und weil der Satellit nicht klüger sein durfte, hatte Behrens keine Chance. Als Ulbricht endlich zaghaft und verspätet die Wirtschaftspolitik korrigierte, war es längst zu spät geworden.
Am 4.12.1977 fand in der Stadthalle Offenbach ein Kongress Gegen den Terror und seine Nutznießer statt. Das Wortprotokoll verzeichnet auf Seite 6 die Vorstellung der Redner:
Die Rednerliste umfasst einen kleinen, aber symptomatischen Kreis der damaligen Linken und Sympathisanten. Was wurde aus ihnen? Wer hat überlebt? Suchten die Sozialdemokraten traditionell den Arzt am Krankenbett des Kapitalismus zu spielen, war unsereins freischwebend bereit, ärtzliche Dienste am Bett der Sozialdemokratie zu leisten. Ob es helfen kann – heute wird es erneut versucht, indem die Lafontaine-Gysi-Partei mit einer Kur der Resozialdemokratisierung experimentiert. Der letzte Arzt am Krankenbett kommt aus der Pathologie. Bis dahin herrscht das Prinzip Hoffnung auf bessere Zeiten.
Fragt sich, wie wir uns in dieser komplizierten Weltlage verhalten. Die Bundestagswahlen vom 27.9.09 erbrachten darauf eine Antwort. Von 5 Parteien sprachen sich 4 für den Krieg am Hindukusch aus und eine dagegen. In Prozentzahlen sind das ca. 82 % für den Krieg und 12 % gegen den Krieg. Womit die Wahl auch Klärung im linken Spektrum erbrachte. Der Ostlinken lange unterdrückte heimliche Liebe zur SPD fand in Lafontaine den namhaften Ausdruck einer Resozialdemokratisierung plus Gysi-Verträglichkeit. Beide Politiker weisen ein Ziel ohne Sellbstverrat. In der Alt-SPD versucht die bisherige Führungsspitze ihre Genossen Lemminge auf Kurs in den Abgrund zu halten. Zwar herrscht Panik im Panoptikum, doch die Kriegsziele sollen wie schon 1914 weiter gelten. Was damals Burgfrieden hieß, heißt heute Tod in Afghanistan. Zwar könnten Berlin, Brandenburg, Saarland, Thüringen korrektive Modelle politischer Vernunft bieten, doch die schlappen Nachfolger im Berliner Willy-Brandt-Haus votieren in ihrem karrieregeilen Fanatismus für den asymmetrischen Amoklauf der Verlierer.
Die Wahlen brachten Klärung im deutschen Parteienspektrum. Das Kriegskabinett tagt. Das Heer der Arbeitslosen erhält Zulauf. Die Bundeswehr bekommt am Hindukusch mehr Arbeit als ihr lieb sein kann. Die Freiheit wird verteidigt, und sei es auf der Rückseite des Mondes.
Schon am Montag nach der sonntäglichen Bundestagswahl versammelte Frank Plasberg bei hart aber unfair seine schwarzen Schäfchen in der ARD. Der asymmetrische Amokläufer Baring begrüßte gleich zum Anfang die neumodische Angela-Westerwelle, weil endlich nicht mehr nur Politik für Hartz-4-
Anmerkung: Vor der Tür – durch die Tür – hinter der Tür – Näheres zu Kafkas Tür-Parabel und deren epistologisch-kafkaeske Realität ist nachzulesen in Sklavensprache und Revolte, Kapitel „Die goldenen Leipziger Jahre“.
Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 12.10.2009.
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Gerhard Zwerenz
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