Playmobilmachung von Harald Schmidt Am 1. November 2008 schrieb der vielseitig intensive FAZ-Feuilletonist Patrick Bahners über die vorangegangene Schmidt-Pocher-Sendung: »Die totale Playmobilmachung – Selbst Pocher ist plötzlich leistungsbereit: Harald Schmidt bebildert Hans-Ulrich Wehlers Gesellschaftsgeschichte«. Tatsächlich stand der Geschichtsprofessorenlehrling Wehler nackt da. Pocher glänzte mit stilvoller Zurückhaltung. Schmidts Harald aber ist der deutsche tv-Bühnenweltmeister in der Kunst, die modische Hochstapelei der Intelligentsia in die Dimension geläufiger Comic-Welten zu transformieren. Mit List oder unabsichtlich enthüllt Bahners das geheime Kochrezept seines Blattes, von dem Insider seit längerem flüstern, dessen Comic-Titel übersetzten die gewichtigen Botschaften der Herausgeber aus der glamourösen (Feuilleton), desaströsen (Wirtschaft), kommandierenden (Politik) Sklavensprache ins Nachvollziehbare plus dem nötigen Schuss überkanditeltem Witz. In der Tat, das Blatt der Milliardäre und solcher, die es werden wollen, mutiert im Comic zur karikierend bebilderten Bibel im Zeitalter des Kabaretts. Bahners erkennt in Schmidt + Pocher die Generation Merkel – Wehler – Knopp. Was früher Wehner war, ist nun Wehler. Adenauer und Helmut Schmidt samt Kohl schrumpfen auf Merkel ein und Knopp bringt alle auf den Bildschirm, wenn sie gestorben sind. Die FAZ aber wird gekauft, überflogen und weggeworfen, ausgenommen die Comic-Seiten, die das Geheimnis der Postmoderne enträtseln. Grips zur Lektüre muss der Zeitungskäufer schon selber aufbringen. Harald Schmidt erprobte seine spezielle Kunst der Verzwergung bereits am 21.9.2006 in seiner ARD-Sendung an Kunststoff-Figürchen, als sich die Chuzpe des Late-Night-Show-Stars an die deutschen Geisteshelden heranwagte und einen Benn-
Dass unser nächtlicher Show-Harald Ernst Jüngers Pariser Burgunderszene parodierte, erfreute mich, hatte ich doch den amourösen Hintergrund dieser Lieblingsgeschichte der FAZ und anderer Kriegskameraden ein paar Monate zuvor, am 21.1.06 in Ossietzky Heft 2 unter dem Titel »Der Held von Paris« angemessen ausgeleuchtet und auch in der Folge 5 dieser Serie zitiert. Da nicht anzunehmen ist, jeder User sei von Anfang an dabei, hier ein kurzes Zitat:
Ernst Jünger unterhielt als Besatzungsoffizier von 1941-44 in der französischen Hauptstadt eine »Liebesaffäre ... mit der deutschstämmigen und ebenfalls verheirateten Kinderärztin Sophie Ravoux.« Mit dieser veritablen Sensation überraschte die feingebildete FAZ zu Jahresbeginn am 3.1.06 die begierig lauschende Weltöffentlichkeit.
Ernst – der Tausendsassa! Im 1. Weltkrieg ein Dutzend Verwundungen im Grabenkampf und im 2. Weltkrieg drei Jahre hindurch germanischer Bettschatz in der Stadt der Liebe. Dabei hatte er das Abenteuer in seinen Meisterwerken so plural und sorgfältig verschlüsselt – bald trieb er es mit »Madame Dancart«, dann mit »Charmille«, »Madame R.« oder der »Doctoresse«, hinter welcher Vielzahl doch immer nur die eine Dame, genannt »Spinnen-Frau« steckte, zu der er sich als tapfrer »Tiger-Mann« gesellte. Denn, erfahren wir aus Dichtermund: »Zeugung und Tötung werden zu simultanen Vorgängen: etwa in der Umarmung von Spinnen-Frau und Tiger-Mann ...«
Paris als Zoo. Das FAZ-Feuilleton als Zoo-Handlung. Bald wird bei Ikea die Ernst-Jünger-Matratze im Angebot sein. Frau Gretha Jünger aber saß daheim als »Betrogene«, die »dreimal von dem Verhältnis« erfährt. Dreimal? War sie etwas vergesslich? Der Held selbst über seine tragische »Rolle im Dreiecksverhältnis« in nobelster Herrenprosa: »Unter uns Männern: Zwischen zwei Frauen kann unsere Lage der des Richters beim salomonischen Urteil gleichen – doch sind wir das Kind zugleich.« Wir danken dem Besatzungshauptmann Jünger und seinem Hausmitteilungsblatt FAZ für diese Sternstunde erotisch-literarischer Volksaufklärung. Eine Frage zu der speziellen Kinder-Rolle hätten wir noch: Wo deponierte der Tiger-Mann seinen Pour-le-Merite-Orden, wenn er mitten im besetzten Paris seine deutsch-französische Spinnen-Frau bestieg?
Die Liebesgeschichte des Hauptmanns von der französischen Bettenfront erklärt auch die Pariser Burgunder-Szene. Jünger hält heldenhaft die Front auf'm Hotelbalkon und prostet den alliierten Fliegern so illuster Rotwein trinkend zu, dass über den Dächern die Bomben respektvoll und erschrocken innehalten.
Harald Schmidt spielt 62 Jahre später die Heldenszenen im tv-
Ein Haus in der Nachbarschaft. Der Großvater Vogel ein Sozi. 1933 verwarnt, dann geduldet. Lebte von ein paar Schafen und Hühnern. Der eine Schwiegersohn wollte im Krieg desertieren und wurde erschossen. Es seien die Russen gewesen, behauptete sein Hauptmann. Der zweite Schwiegersohn starb im KZ. Seine Frau wurde in der DDR Staatsanwältin. Ob sie sich durch Härte rächte wie Hilde Benjamin den Tod ihres Mannes unterm Fallbeil der Nazis, weiß ich nicht, Es gab noch eine rote Familie im Haus. Der Mann fiel bei Kriegsanfang, der Sohn gegen Ende. Der Großvater, der schließlich alle überlebte, hörte sich meinen damaligen kindlichen Wunsch, das Segelfliegen zu lernen, lächelnd an: »Fliegen? Segelfliegen?« Wir standen in seinem Garten auf dem Gablenzer Berg und blickten auf die Stadt mit ihren hundert Schornsteinen. Er sagte: »Wegfliegen!« Er war siebzig Jahre, ich war zwölf. Es gibt zeitlose Generationen.
Im Spiegel 42/2008 lese ich über den verstorbenen NVA-Generaloberst Joachim Goldbach, einen Sachsen und stellvertretenden DDR-
Nach dem Sieg über Napoleon hockten die Monarchen sich ans feudale Kaminfeuer und klauten Sachsen fast die Hälfte seines Territoriums, zur Strafe dafür, dass seine Truppen erst spät von den Franzosen abgefallen waren.
In der allfälligen Geschichtsschreibung herrscht die Meinung vor, von da an sei Sachsen aus der großen Politik ausgeschieden. Das stimmt nur halb, denn die zurückgenommene Nordgrenze und das in der Verkleinerung fester strukturierbare Land führten zur industriellen Modernisierung. Sachsen erreichte in Kontinentaleuropa zusammen mit Belgien einen Spitzenplatz, was wiederum das Entstehen der Arbeiterbewegung förderte.
Sachsen wurde rot. Sozialdemokratisch bis zum 1. Weltkrieg, von da an kommunistisch revoltierend, ab 1933 widerständiger als andere, ab 1945 im Versuch, mit der DDR ein Groß-Sachsen zu errichten, wie anders als mit sowjetischer Hilfe. Warum auch nicht. 1813 hatten Sachsens Soldaten Napoleon im Stich gelassen und waren zum Zaren samt Wiens Kaiser und Berlins König übergegangen. 1945 setzten sie auf den Zaren Stalin und ließen Walter Ulbricht zum DDR-König aufsteigen. Die DDR war die sächsische Rache für frühere Niederlagen. Die Gelegenheit war günstig. Eine DDR als das bessere Deutschland. Vorsorglich saßen zwei Sachsen an den Hebeln der (geliehenen) Macht. Walter Ulbricht in Ostberlin, Herbert Wehner in Bonn. So entstanden der rheinische Kapitalismus und die sächsische Wismut, bis beide vereinigt wurden zur Großmacht-Phantasie, Berliner Republik genannt, die ihre Freiheit am Hindukusch verteidigt und bald allüberall in der weiten Welt. (Peter Struck in Menschen bei Maischberger ARD am 21.10.08) Da ich nicht einsehen kann, weshalb für mein Pleißenland in Asien gefochten werden soll, nachdem das zweimal an der Wolga scheiterte, erinnere ich mich ans Nachkriegs-Losungswort »Ohne mich« und verweigere die Rücknahme der Reformation durch die Generäle der Gegenreformation. Wer also, ihr schwarzen Brüder, klaute Luthers Thesen von der Wittenberger Kirchentür? Schorlemmer, gib bitte Antwort und sei es per Orgel.
Nach dem Dreißigjährigen Krieg setzten die protestantischen Gemeinden in Sachsen/Thüringen als erstes ihre Gotteshäuser instand, und war das Dach wieder dicht, kam es auf die Orgel an, die tönen zu hören, Gottvertrauen schuf. Die innige Musikalität, dieser himmlische Einschmeichelton, erbrachte jene landesweite Pfarrhaus-Orgelkunst, die aus allen Kirchen und Pfarrerstuben erklang, was den gottesfürchtigen Gemeinden genügte. Als aber einer aus Thüringen endlich nach Leipzig gelangte, weigerte sich die kirchliche Hierarchie, ihn als Genie anzuerkennen, und als es misslang und dieser Johann Sebastian Bach an Können und Ruhm alles vordem dagewesene kirchturmhoch übertraf, rächte sich das Milieu, indem es ihn nach seinem Tode vergessen machte, so dass er erst später neu entdeckt werden musste.
Die sächsisch-thüringische Geographie lehrt das Beispiel europäischer Enge. Treibt einzelne Knospen hervor. Und den Widerstand der Massen dagegen. Um im angesagten Kleinraum zu bleiben: Karl May, Richard Wagner, Friedrich Nietzsche als drei intensive Beispiele in der Nachfolge Bachs …
Es gibt in der amerikanischen Weitraumlandschaft keine Analogien. Erst in der modernen Kunst und Literatur treibt die Enge der Metropolen jene namhaften Exempel hervor, die wir von Europa aus als europäische Zweige empfinden und begrüßen. Insofern rächen wir dekadenten Europianer uns, der hiesigen US-Kolonisationskultur widerstehend. Norman Mailer, Raymond Chandler, Philip Roth sind viel mehr aus unserm Eichenholz geschnitzt als aus dem Gestrüpp der Prärie, ja sie sind europäischer als wir, weil sie unsere Traditionen mit den neuen amerikanischen Möglichkeiten verbanden, was die US-Traditionalisten noch mehr entsetzte. Woody Allen ist als Jude in Amerika freier als er jemals im Vernichtungserdteil hätte sein können. Seine Psycho-Akrobatik braucht New York, doch ohne die Wurzel Europa und dessen Enge wäre er nicht mehr als ein Komödiant.
Höchste Zeit also für uns, die eigene Kultur zu revitalisieren. Es ist die Schärfe unserer Kopfspekulanten und philosophischen Artisten, die unsern Weltstatus ausmacht. Und da wir wissen, wie alles entstanden ist, wissen wir auch, wie aus den Denkern Henker wurden. Wir kennen die Grenze, von der an es nach verbranntem Fleisch riecht. Wir haben's erlebt, dass da welche aufstehen und sagen: Es duftet! Wir sagen hingegen: Es stinkt! In diesen Nasenfragen haben wir Erfahrung, da kann man von uns lernen.
Ich hab da mal ne Frage: Wohin ist Sachsen geraten? Gibt's das Land noch? Wie tief gründet der sächsische Sumpf? Ist der Sumpf versumpft versunken? Die Helden der Heldenstadt krochen wohl bei der Soko Leipzig als Kommissare unter. Die Bürgerrechtler verteidigen als friedlich siegende Revolutionäre unsere Demokratie in Afghanistan. Von hinten durch die Brust ins linke Auge geschossen – Kindermund. In der Berliner Republik fechten sie für unsere Freiheit wie von 1933 bis 1945 und ab 1945 wieder gegen die Linke. »Siehe, wir wissen … dass alle Dinge ewig wiederkehren und wir selber mit …« (Nietzsche in Also sprach Zarathustra) Nietzsche ist zwar gebürtiger Sachse, doch wenn er als Zarathustra so redete, spielte er den Rasputin. Beide Männer wären noch etwas für Harald Schmidts Comic-Puppenspielkiste.
Im Hausarchiv befinden sich Reden, die ich nach 1957 über den Rundfunk an die Ostdeutschen richtete. Zu meinem Bedauern blieben meine Warnungen so folgenlos wie vordem unsere Aufrufe aus der sowjetischen Gefangenschaft an die Wehrmacht, den Krieg zu beenden. Soll ich meiner Enttäuschung so emotional nachgeben, wie das heute Brauch ist? In einer Diskussionsrunde bei Phönix stritt sich der letzte DDR-Innenminister Diestel mit Jochen Staadt, einem Mitarbeiter der Birthler-Behörde. Knackpunkt war der Diktaturvergleich zwischen Hitler-Reich und DDR. Gern wird dabei auf Hannah Arendts Totalitarismus-Theorie verwiesen, darin aber ist die DDR gar nicht einbezogen. Tatsächlich liegt in diesem Vergleich eine verlogene Angleichung. Beide Staaten sind eben nicht in eins zu setzen, geschieht es doch, würde das Nazi-Reich unzumutbar entlastet. Die DDR als Folge des 2. Weltkrieges und des sowjetischen Sieges entsprach in der Machtausübung exakt Moskauer Strukturen und den Erfahrungen deutscher Kommunisten im antifaschistischen Widerstand. Dass deutsche Linke oft sowohl von Hitler wie Stalin verfolgt worden sind, engte ihre Handlungsmöglichkeiten zusätzlich ein.
Die DDR forderte in den vier Jahrzehnten ihrer Geschichte Opfer. Doch die Weimarer Republik kostete in dem Jahrdutzend ihrer Existenz weit mehr Menschenleben. Wer Kriege führt, sollte deren Folgen und schwerwiegenden Hinterlassenschaften nicht leugnen oder Sündenböcken aufladen.
Die Psyche der an ihren Verfolgungssyndromen leidenden Kommunisten reicherte sich im Widerstand mit Erfolgserlebnissen an, was die DDR-Elite dann in politische und kulturelle Prinzipien umzusetzen suchte. Nicht benannt werden durften die aus Stalins Gewaltexzessen resultierenden Ängste. Dies die Misere - und der DDR-Machtapparat blieb davon betroffen, so wie heute im Antiterrorkrieg der USA und ihrer Verbündeten der Abbau von Freiheitsrechten eskaliert.
Kaum war diese 59. Folge im Kasten, ist zu lesen, Sachsen steht per Pisa an der Spitze. Sachsen sind eben helle. Junge Sachsen doppelt helle. Was aber, wenn sie die Schule verlassen? Arbeitslos. Ab in den Westen. Nach Österreich, Holland, in die Schweiz oder die USA? Wir fordern Pisa-Tests für Politiker. Sonst weg damit und in Harald Schmidts Zwergen-Panoptikum.
Wir aber widerrufen jene allstaatlich verordnete Vergessenheit, die über die Leipziger Philosophie gebreitet wurde. Wir erwarten von Sachsen, dass neben dem Marx-Nischel ein Bloch-Kopf zu stehen kommt. Motto: Marx und Bloch und der Dritte Weg.
Theorie:
Der Bloch-Kreis Die Revolte der Philosophen Vom Möglichen im Wirklichen Links- und Rechtsblochianer Die permanente Reformation Glanz und Elend der 56er Knackpunkte und Praktika Der letzte strategische Denker Die europäische Revolution Botschaft für den guten Rest der Kopfmenschen Praxis: Christ ist, wer getauft wurde und an das Sakrament glaubt. Jude ist, wer von einer jüdischen Mutter geboren wurde und sich zum Judentum bekennt. Marxist ist, wer sich an Marx orientiert. Wer aber, zum Teufel, ist Blochianer?
PS: Beginn mit dem spitzen Harald Schmidt, Ende mit dem Selbstparodisten Harald Schmidt, der vergangene Nacht die Burda-Bambi-Preisverleihung moderierte. Das scheue Rehlein versuchte von der Bühnenrückseite den 1. 200 versammelten Promis zu entkommen. In Indien gabs zur selben Stunde Terror. Man stelle sich sowas bei Bambi vor. Wir wären auf einen Schlag die wertebestimmende Hochkultur los. Zum Glück verhindert Schäuble unsere Terroristen, noch bevor sie selbst wissen, dass sie's sind.
Das nächste Kapitel erscheint am Montag, den 8. Dezember 2008.
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Gerhard Zwerenz
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