Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
In den letzten Novembertagen 1977 standen wir bei Schloss Gripsholm im schwedischen Mariefred auf dem Friedhof. Hier schlossen wir die Dreharbeiten für den ARD-Fernsehfilm Tucholsky im Gedächtnis ab. Da liegt einer begraben, der doch in unseren jetzigen Zeiten wieder gegenwärtiger und lebendiger wird. Ein eisiger Anhauch von Weimar weht durch die Republik. Also tritt auch der streitbare Tucholsky vor uns hin, der vielbeschimpfte Linksliterat, Nestbeschmutzer, Vaterlandsverräter, der Mann mit den fünf Namen, der Humorist, Satiriker, Polemiker, Justizanalytiker. Zu meinem Erstaunen lag auf seinem Grab in Schweden ein Kranzgebilde, die Schleife ließ in großen Buchstaben wissen, es stammte vom Botschafter der Bundesrepublik in Stockholm. Ein Anruf dort ergab, zum Volkstrauertag bedenkt der BRD-Vertreter zwei Gräber mit Trauergebinden – in Schweden liegen Nelly Sachs und Kurt Tucholsky beerdigt. Ach ja, die westdeutsche Botschaft in Schweden hat es leicht. Das Land war neutral geblieben. Es gibt keine deutschen Kriegsgräberstätten. So kommen zwei tote deutsche Schriftsteller zu Kranzgaben und ehrendem Gedenken. Ach hätten die Deutschen doch die Lebenden schon geehrt, ihnen wenigstens zugehört – nein zu spät.
Wir befinden uns wiedermal am Ende einer Saison. Wer hört auf wen? Wer verfolgt wen? Wer behindert wen? Wer zensiert wen? Wer vertreibt wen? Ich kam auch ans Deutsche Institut der Universität Stockholm. Professor Korlén gab bereitwillig Auskunft. Ja, man beschäftigt sich immer mehr mit Tucholsky, eben erscheint eine neue Auswahl. Unversehens schweift das Fachgespräch in die Gegenwart ab. Was ist los in Deutschland? In beiden Deutschlanden? Und wenn heute wieder welche emigrieren müssen – aber es müssen ständige welche – Biermann und die Folgen – und wenn welche aus Westdeutschland emigrieren müssen? Werden sie es so schwer haben wie einst Tucholsky? Der im Freitod endete? Namen fallen. Prominente westdeutsche Schriftstellernamen. Man kennt sie hier sehr gut, sagt Prof. Korlén. Sie wären heute bekannter als es Tucholsky damals war. Ist es Hysterie, dass wir so reden? Reden verrät Denken. Denken wir nicht alle so? Aber das ist doch gar kein Vergleich mit damals. Kein Drittes Reich droht. Kein Hitler steht bereit.
Woher dann die vielen Ängste? Wir dürfen uns nicht hysterisieren lassen. Wir dürfen uns nicht einlullen und einschläfern lassen. Innerhalb von vier Wochen reiste ich in der Bundesrepublik umher und nach Belgien, Schweden, Österreich, in die Schweiz. Im Gespräch mit Kollegen, Freunden und auch Fremden ergaben sich die gleichen Angstlinien. Etwas bereitet sich vor. Etwas wird anders. Etwas ist anders geworden. Unsere Schwierigkeiten beginnen beim Definieren. Wie benennen wir die neuen Gefahren?
Versuchen wir zu differenzieren. In Ludwigshafen saßen Carl Amery, Bernt Engelmann, Peter Chotjewitz und ich in der Stadtbibliothek vor dichtgedrängtem Publikum, meist Jugend. Die diese Stadt beherrschende und schon am Geruch kenntliche chemische Großindustrie hatte anscheinend einen Großteil ihrer Gegner in unsere literarische Veranstaltung getrieben. Wenige Erwachsene, wenn man als Grenze die ominöse 30 ansetzt.
Viele Lehrer, Studenten, Schüler, Lehrlinge, politisch herrschten offenbar die Jusos vor, durchsetzt mit freien Linken und einigen wenigen Kommunisten verschiedener Art. Die Atmosphäre gelockert, es ließ sich diskutieren, polemisieren, lachen, so etwa verliefen früher unsere Veranstaltungen. Dann, eine Woche darauf mit Bernt Engelmann in Würzburg. Schon die äußere Atmosphäre gegensätzlich. Die Ludwigshafener Stadtbücherei hatte eine freundliche, zünftige Note verliehen, die Mensa in Würzburg frostete ein. Auch hier wieder vollbesetzter Raum, aber eine schweigende Mehrheit. Ältere Menschen fehlten ganz. Die meisten Sprecher offenbar Angehörige von K-Gruppen. Ich werde nicht gegen irgendwelche Minderheiten polemisieren. Schriftsteller müssen gesprächsoffen bleiben für alle, auch wenn das Hetze einbringt. Es bringt Hetze ein. Ich habe mich schon von K-Gruppen zu Diskussionsabenden einladen lassen. Ich vertrete überall dort meine Meinung, wo man sie mir nicht beschneidet. Ich hoffe, wir können auch bei den K- Gruppen die Bereitschaft zur Diskussion fördern. Vor einiger Zeit habe ich sie da gänzlich vermisst. In letzter Zeit besserte sich das. In Würzburg versuchten sich die Diskutierenden mit uns zu verständigen. Doch wie schwer fiel es ihnen. Bernt Engelmann und ich fuhren noch in der Nacht zurück. Traurig, deprimiert, so ganz anders als nach dem Abend in Ludwigshafen. Ich war besonders verärgert, die engstirnigen Angriffe auf die SPD hatten mich bewogen, die Partei zu verteidigen. Das hatte ich nun gar nicht beabsichtigt. Ja ich fühlte mich in diesen Tagen von der SPD stark befremdet. Doch wenn Angriffe so in Klischees erfolgen, verteidige ich die vielgescholtene Partei. Ein ähnliches Phänomen erlebten wir in Wien. Die neue österreichische Zeitschrift EXTRABLATT hatte eingeladen. Luise Rinser, Kurt Hirsch, Bernt Engelmann und ich sprachen an der Universität über Terror und Sympathisantentum. Heute ist die Wiener Linke hier versammelt, sagte der EXTRABLATT-Chefredakteur und wies ins Publikum. Er war sensibel, aufgeschlossen, intelligent. In der Diskussion kristallisierten sich schnell die beiden üblichen Hauptpunkte heraus: Was geschah in Stammheim – war es Selbstmord oder Mord? Zweitens: Die Sozialdemokratie. Es wurde heiß. Die Fürsprecher der RAF im Publikum blieben vereinzelt und blass. Die Mehrheit der Anwesenden verhielt sich politisch klug. Aber die These vom Selbstmord in Stammheim ist vor offenem Publikum im Ausland nirgendwo mit Erfolg zu vertreten. Sie wird einfach nicht geglaubt, ganz abgesehen davon, dass sie wenig glaubhaft gemacht werden kann. Die Diskussion wendet sich der Sozialdemokratie zu. In der Würzburger Mensa bei den jungen Studenten vereisten die meisten Mienen, wenn man nur zur Objektivität aufforderte. Die Gespräche in Wien verliefen intellektueller, Argumente zogen, ein Mann berichtete, er sei eben in Frankfurt gewesen und habe bei Studenten, Spontis und anderen Linken unglaublich viel Apathie und Verzweiflung feststellen müssen. Bewegung entstand im Hörsaal. Die Spannung stieg. Später informierte man uns, der Mann war ein Sohn von Bundeskanzler Kreisky, er werde oft am Sprechen gehindert und es sei ein Gewinn, dass selbst die äußerste Linke den jungen Kreisky bei uns habe ausreden lassen.
Am Ende einer Saison. Es gehört zu unserem Beruf, gerade im Herbst des Jahres unter die Leute zu gehen, zu lesen, zu streiten, zu diskutieren, aber auch zuzuhören, Kritik einzustecken, neue Erfahrungen zu sammeln. Am Ende dieser Saison fühle ich mich müder, erschöpfter, ratloser als sonst. Manchmal, wenn ein Abend besonders schwierig war und die Intransigenz der jungen Leute einen verführte, härter zu kontern als man wollte, oder wenn man als einer, der die SPD normalerweise mehr kritisiert als lobt, diese Partei doch hat in Schutz nehmen müssen, wie es jetzt nur zu oft passierte, an solchen Abenden sagt man sich dann, im Bett, wenn der Schlaf ausbleibt, warum in Dreiteufelsnamen, habe ich mir ausgerechnet diesen hundsföttischen Beruf gewählt. Ich sage mir auch: Warum vertreten unsere wenigen Damen und vielen Herren aus der Politik sich nicht selbst dort an der Front? Warum stehen sie der versammelten Linken in Wien nicht Rede und Antwort? Diskutieren nicht mit den erbosten, verschlossenen Studenten von Würzburg? Warum müssen wir das tun?
Am vergangenen Sonntag fand der »Offenbacher Kongress« statt, Motto: Gegen den Terror und seine Nutznießer. Die Bundestagsabgeordneten Manfred Coppik und Klaus Thüsing nahmen teil, dazu u. a. Leonhard Mahlein, Klaus Staeck, Bernt Engelmann, Ossip Flechtheim, Kurt Hirsch. Aus dem Publikum gab es bei der Diskussion ein paar kommunistische Töne. Vom Podium gab es in allen Einzelbeiträgen die durchgehende, bitterernste Aufforderung, dem Terror zu begegnen und den Abbau des Rechtsstaates nicht zuzulassen. Aus der Presse dann erfahren wir, was wir sind: Klaus Staecks Agitation ist »typisch faschistisch«, Bernt Engelmann ist ein »Untergrund-Kommunist«, die beiden Bundestagsabgeordneten Coppik und Thüsing treten mit »kommunistischen Tarnorganisationen« gemeinsam auf. Ich endlich hätte gar keine öffentliche Plattform bekommen dürfen, denn ich habe, neben allen andern Fehlern, auch noch einen tv-Film über Offenbach gedreht und, wie die CDU formuliert, der Stadt damit »schweren Schaden zugefügt«. Ähnlich dachte wohl auch die DDR, die mir den Transit-Weg von Bayern nach Westberlin verbot, als ich dort in der Stadt Tucholskys Geburtshaus filmen wollte. So gilt anscheinend für meine Wenigkeit das Transitabkommen nicht. Ich aber denke voller Sympathie an unseren Botschafter in Stockholm, der auf Tucholskys Grab einen Kranz legte, am diesjährigen Volkstrauertag. Es ist zwar spät, aber nie zu spät, einen deutschen Schriftsteller zu ehren. Und sei es auch im letzten Exil
Dieser Text wurde am 11.12.1977, kurze Zeit, nachdem ich ihn geschrieben hatte, im SWF gesendet. Titel: »Das Ende einer Saison«. So verstreute ich ein halbes Jahrhundert lang meine Tagebuchnotizen über Rundfunk, Presse und Bücher. Heute entsendet die Berliner Republik Tornados an den Hindukusch. Ich lese meine Worte von damals mit Rührung und Wut. Eine Saison neuer Lügen und Kriege hat begonnen. Das Volk will nicht. Seine Eliten befinden sich seit anno 1848 auf dem Kurs KRIEG statt REVOLUTION. Die Welt hat sich verändert. Das Tagebuch hat sich mit verändert. Die Notizen rufen um Hilfe.
Fast drei Jahrzehnte später. Ein Tag im Jahr 2005: Morgens um 4 Uhr aufgestanden. 5 Uhr mit dem Wagen zum Frankfurter Hauptbahnhof. 6 Uhr 05 ICE nach Leipzig. Ankunft 9 Uhr 34. Am selben Tag noch zurück. Lektüre auf der Heimreise: Der Deutsche Kommunismus – Selbstverständnis und Realität, Band 2: Gegen Faschismus und Krieg (1933 bis 1939), vorgelegt von Klaus Kinner und Elke Reuter, eben im Karl Dietz Verlag Berlin erschienen. Zu Anfang gelesen: »Anhang 1. Kommentiertes Personenregister«. Von den genannten Kommunisten wurden mehr als die Hälfte unter Hitler oder Stalin ermordet, einige von Stalin an Hitler ausgeliefert und umgebracht. Es hagelt Anmerkungen: »von Gestapo verhaftet und ...hingerichtet ...1936 zum Tode verurteilt und hingerichtet ...im KZ Buchenwald umgekommen ...nach Moskau beordert, dort verhaftet und erschossen ...in Moskau verhaftet ...erschossen ...in einem Arbeitslager umgekommen ...in das KZ Mauthausen verschleppt und dort ermordet ...1937 vom NKWD verhaftet, zum Tode verurteilt und erschossen ...Im Lager von Mithäftlingen umgebracht ...1943 im Zuchthaus Brandenburg hingerichtet ...Starb 1943 im Lager ...1937 in Berlin-Plötzensee hingerichtet ...in Mexico ermordet ...1941 Auslieferung an Deutschland und KZ-Haft ...1943 in Berlin-Plötzensee hingerichtet ... 1941 verhaftet und an die Gestapo überstellt ...1944 im KZ Buchenwald ermordet ...1933 verhaftet und schwer misshandelt, am 18. März 1935 zum Tode verurteilt und enthauptet ...« Ein Martyrium von Genossen.
Lenin warnte 1924 vor dem groben Stalin. Ein Jahrzehnt später realisierten sich die Befürchtungen, denn Hitlers Machtantritt bot Stalin die Basis, auf der die Barbarei zu den Großen Säuberungen eskalieren konnte. Hitlers Kriegsziel der Ost-Eroberungen, bereits in Mein Kampf deutlich artikuliert, wurde nicht ernstgenommen. Vier Tage nach dem 30. Januar 1933 hielt der neue Reichskanzler in geheimer Zusammenkunft mit Reichswehrgenerälen eine Rede, in der er seine Kriegspläne offen und exakt formulierte. Diese Rede in der Dienstwohnung des Generals Hammerstein wird von der Zeitgeschichte teils unterschätzt, teils unterschlagen, obwohl Hitlers Worte in allen Details den 2. Weltkrieg frappierend genau ankündigten. Stalin erhielt den Text schon wenige Tage später auf den Tisch, eine Tochter Hammersteins hatte insgeheim mitgeschrieben. Stalin musste vom Februar 1933 an in Nazi-Deutschland seinen Todfeind sehen.
Der Band Gegen Faschismus und Krieg liefert Chronologie und Logik der Stalinschen Gegenzüge. Es ging ums Überleben. Selbst die Ungeheuerlichkeit des Hitler-Stalin-Paktes vom August 1939 wird noch als ein so raffinierter wie verzweifelter Schachzug des sowjetischen Machthabers erkennbar. Weil die Westmächte »keine bindende Verpflichtung zur Verteidigung der UdSSR im Falle eines möglichen deutschen Überfalls« eingingen, entschied Stalin sich für »die andere Option der sowjetischen Außenpolitik«, den Nichtangriffspakt mit Hitler, inklusive der so geheimen wie schändlichen Zusatzprotokolle. Mit Fug und Recht verweisen Kinner/Reuter an dieser Stelle auf Trotzki, der schon nach dem Münchner Abkommen 1938 notiert hatte: »Stalin strebt eine Allianz mit Hitler an.« Das war als Warnung an die Westmächte gerichtet, die durch ihre Nachgiebigkeit den deutschen Führer zum Angriff auf die SU ermunterten, wogegen Stalin die Hitler-Option als letzter Ausweg blieb.
Im Vorwort schreiben die Autoren: »Mit Ernst Bloch ist zu fragen, was ist unabgegolten vom Kampf der deutschen Kommunisten gegen den Faschismus?« Drei Seiten weiter zitieren sie Hans-Ulrich Wehler, den sie »nicht zu den konservativen Historikern« zählen, der aber die Tragödie des kommunistischen Widerstandes mit dem braunen Senf des Totalitarismus bestreicht, wie es bei rechtsbürgerlichen Geschichtsschreibern Usus ist. Kinner/Reuter scheuen nicht die Abrechnung mit den eigenen Vätern und Genossen. Von sozialdemokratischer Seite steht eine adäquate Selbstanalyse aus. Solange Sozialdemokraten im Nachkriegs-Europa eine gewisse Rolle spielten, schien ihnen das nicht wichtig zu sein. Da jetzt den ratlosen Sozis das Abendlichtlein zu scheinen beginnt, erhält die Frage nach einer linken Alternative existentielles Gewicht.
Das Buch Gegen Faschismus und Krieg zeigt die furchtbare Vergangenheit und die Gefahr einer möglicherweise nicht weniger furchtbaren Zukunft. Den Genossen aller Richtungen sei die Lektüre dringend angeraten. Die Geschichte der Kommunisten ist eine Geschichte des verlustreichen antifaschistischen Widerstands, bei dem der oberste Moskauer Genosse neben den deutschen Hitler-Faschisten zum kannibalischen Feind mutierte. Diese Tragödie blieb bisher ungeschrieben. Die miterzählte Geschichte der deutschen Sozialdemokratie aber ist ein Trauerspiel, das den über 100 Jahre sich hinziehenden Niedergang spiegelt: Ab 1914 Burgfrieden mit dem kaiserlich-imperialistischen Krieg, im 21. Jahrhundert abgetakelt zur Partei des Großkapitals, die zur Ablösung ansteht, weil die christlichen Parteien dem Kapitalismus so rückhaltlos entsprechen wie vordem die reichsdeutsche Bourgeoisie der industriellen Vernichtungsmaschinerie unterm Hakenkreuz.
Die Geschichte vom heroischen antifaschistischen Widerstand kommunistischer Genossen las ich auf der Heimfahrt von Leipzig nach Frankfurt am Main. Auf der Hinreise hatte ich mir das Buch Das eigene Leben leben – Kinder berühmter Eltern von Brandt bis Seghers (in Interviews abgefragt von Gabriele Oertel und Karlen Vesper-Gräske) vorgenommen. Der Band, erschienen im Leipziger Militzke Verlag, ersetzt ganze Bibliotheken und ist ein grundehrlicher, pluraler Nachruf auf die DDR, das abgemurkste Land der verratenen Hoffnung.
Apropos Vesper, nicht von Karlen Vesper-Gräske, sondern von deren Mutter Marlene Vesper stammt das Buch Marx in Algier, Pahl-Rugenstein-Verlag, 1995. Der Titel entfacht eine exotische Vorstellung, die noch exotischer wird, weil die afrikanische Episode exakt zutrifft. Erzählt wird im langsamen Tempo, fast gemächlich, aber: »So ist … Marxens … Aufenthalt in Algier der Öffentlichkeit nicht bekannt geworden. Zu jener Zeit … eine glückliche Fügung.« Der Revolutionär in der Atempause. Ein Buch der Gelassenheit. Ich möchte es nicht missen.
Im Juli 2007 findet sich eine Mail von Vera Lengsfeld ein: Presse-Information – Protest gegen DDR-Verharmlosung – Prominente kritisieren Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur. Der Offene Brief, krasses Gegenteil von Gelassenheit, richtet sich zuvörderst gegen die Rosa-Luxemburg-Stiftung, unterschrieben ist er von Michael Wolfsohn und den Kameraden Hubertus Knabe, Arnulf Baring, Bärbel Bohley, Lutz Rathenow, Erich Loest, Ralph Giordano. Einige von ihnen kommen mit ihrer kommunistischen bis stalinistischen Vergangenheit so wenig ins Reine, dass sie ihre dritten Zähne nutzen, sich selbst in den Hintern zu beißen. Die beiden Bände Der Deutsche Kommunismus und Gegen Faschismus und Krieg, aus denen ich anlässlich meiner Leipzig-Reise zitierte, wurden mit Hilfe der Rosa-Luxemburg-Stiftung auf den Markt gebracht. Offenbar wissen die Unterzeichner von Knabe und Baring bis Loest und Giordano nicht, wofür oder wogegen sie unterschreiben. Klaus Kinner, Leipziger Herausgeber der zwei Bände, kriegt, damit die Tafelrunde der Freiheitsritter komplett sei, zugleich von den Stalinisten die Jacke voll, so in Kurt Gossweilers Publikation Die Ursprünge des modernen Revisionismus: »Einen Spitzenplatz unter diesen traurigen Gesellen hat sich Klaus Kinner mit immer neuen … Niederträchtigkeiten … erschrieben.«
Das ist wie bei Günter Grass, wenn er die wahlkämpfenden Roland Koch und Oskar Lafontaine als deutsche Extreme hinstellt, obwohl sie doch nur die unverstellten Personifizierungen von CDU und ursprünglicher SPD sind. Wenn Grass sich politisch derart engagiert, wird intellektuelle Redlichkeit auf simple Wahlkampfklischees reduziert. Statt die verlogene eigene Vergangenheit mit parteitaktischen Plattheiten fortzusetzen, als seien links und rechts von der Waffen-SS Diktatoren angesiedelt mit dem Weltkind Grass in der Mitten, sollte der Nobelpreisträger mal lieber Philipp Scheidemann lesen. Dieser Sozialdemokrat, der 1918 die Republik noch vor Karl Liebknecht ausrief, schreibt über das Jahr 1933: »Dass diese Republik dem Faschismus ohne die geringste Gegenwehr in die Hände fiel, ist zurückzuführen auf die Zersplitterung der deutschen Arbeiterklasse …« Und weiter: »Der deutschen Arbeiterbewegung … hat es seit dem Tode Bebels und Legiens an kluger und kraftvoller Führung gefehlt.«
Im Gegensatz zu Grass ist Enzensberger mit seinem neuen Buch über General von Hammerstein ein anderes Kaliber. Die Lektüre lohnt. Demnächst mehr darüber. Im Übrigen gesteht Scheidemann auch ein, dass es der Noske-Freund Friedrich Ebert war, der 1923 die Reichswehr nach Sachsen und Thüringen schickte, um die dortigen legalen Landesregierungen zu stürzen. Da ist Sachsen noch eine Antwort schuldig. Jedenfalls war der Weg ins Dritte Reich schon 1923 mit falschen Befehlen gepflastert.
Zum Schluss für heute ein kleiner Vers zur Lage der Nation:
Russische Hybris
Es gibt nichts Frecheres als die
Slawen.
Nachdem wir sie 1945 und 1989
erst geschlagen haben
wollen sie heute schon wieder
Moskau und Stalingrad
verteidigen
Am Montag, den 4. Februar 2008, erscheint das nächste Kapitel.