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Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | 99. Nachwort
Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
99. Nachwort |
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Von den Geheimlehren der Blochianer
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Lesung Buchmesse 2008 Leipzig
Karl-Liebknecht-Haus:
Wir wollen weder Kain noch Abel sein
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Es ist einer lieben Toten zu gedenken. Sie durchlebte und durchlitt die Anfänge, Höhen und Tiefen des Bonner Republikversuchs von den Ufern des Mains aus, wo der Strom sich die hessische Metropole erlaubt, jenen Aufbruch, statt Bonn Bundeshauptstadt zu werden. Beim Hessischen Rundfunk erinnern Ruinenbausteine an den vergeblichen Plan einer Paulskirche II, während die Ur-Paulskirche I von Niederlagen gezeichnet im ewigen Clinch mit den Bankentürmen dahinvegetiert. Wir gedenken der Frankfurter Rundschau. Die Berliner Republik ist dieser Tage voller Widerhall dieses Gedenkens. Wir erlauben uns aber, den FR-Kämpfer und Ossietzky-Herausgeber Eckart Spoo zu zitieren, der wie manch anderer die FR als ein Stück Heimat empfand, oft genug fremd und feindlich und dennoch Wagenburg gegen aggressive Gegner.
»1970 wurde ich zum Bundesvorsitzenden der Deutschen Journalisten-Union (DJU) in der IG Druck und Papier gewählt. Nach der Anti- Springer-Kampagne 1968, an der ich mich beteiligt hatte, versuchten wir mit dem Ruf nach ›innerer Pressefreiheit‹, nach ›Redaktionsstatuten‹, nach ›Kompetenzabgrenzung‹ zwischen Redaktion und Verlag, die wachsende Macht der Medien-Konzerne zu beschränken. Das mißfiel unserem Verleger / Herausgeber / Chefredakteur. Von einem Gewerkschaftstag der IG Druck und Papier beorderte er mich zu sich, um mir am Ende eines fünfstündigen Gesprächs über Dichtung, Malerei, Politik und Reisen mitzuteilen: ›Ich mach' die Rundschau, du machst die Gewerkschaft.‹ Das war die Kündigung. In den nächsten Tagen und Wochen wurden aktive DJU-Kollegen auch bei etlichen anderen Blättern gekündigt, zum Beispiel beim Spiegel Dieter Brumm, Bodo Zeuner, Alexander von Hoffmann, Hermann Gremliza und Otto Köhler, dessen Bericht über den ›Fall Spoo‹ Rudolf Augstein geärgert hatte. Ich erfuhr viel Solidarität, beispielsweise in Form zweier Vollversammlungen der FR-Redaktion, eines Informationsstandes an der Frankfurter Hauptwache, einer großen Anzeige in der FR, aufgegeben von der spontan an der FU Berlin entstandenen Aktion Pressefreiheit, oder eines Angebots von Heinrich Böll, Martin Walser, Gerhard Zwerenz, Bernt Engelmann und Ulrich Sonnemann, gemeinsam eine Zeitschrift herauszugeben, die ›Spoos eigene Rundschau‹ heißen sollte. Böll überwies sofort ein Startgeld. Verlockend. Aber ich sah mich verpflichtet, um gewerkschaftliche Rechte zu kämpfen. Der Verlag verlor alle Prozesse. Vor dem letzten Termin beim Bundesarbeitsgericht gab er auf. Kurz vorher war Karl Gerold gestorben. Ich bekam eine ähnliche Stelle wie die in München und blieb bis zum Beginn des Rentenalters.« Soweit unser Kollege und Zeuge Spoo.
Bevor die Frankfurter Rundschau starb – FR-Chef Gerold (SPD) und sein Gewerkschaftskontrahent Eckart Spoo
Die Geschichtsschreibung, traditionell ein Zweig der Wissenschaft, wird immer häufiger Geschichtserzählung genannt. Der literarische Erzähler vernimmt's verunsichert. Wer erzählt hier Geschichte mit welchen Mitteln? Welche Geschichte und wessen Geschichte wird erzählt? Wer wie wir mehrere Zeiten, Staaten und ihre jeweils großmächtigen Politiker und dienstbaren Historiker erlebt hat, vertraut besser auf seine eigene kleine Welt, falls er riskiert, sich auf die Gebiete der Vivisektion und Anatomie vorzuwagen, wie es die prinzipiell autobiographische, also ungescheute Geschichtenerzählung verlangt. Es gibt viele Art und Weisen, vom ICH zu erzählen. Es wird immer ein WIR daraus. Dazu die Verführung zu schönen Schein- und Lügengeschichten. Die Spanne reicht von der Liebe zum eigenen Leben bis zur Verachtung. Schreib also, Menschenskind, aus dem tiefsten dunklen Keller oder steige dir aufs Dach und besinge die Sonne.
Während ich dies hier notierte, vermeldeten die Zeitungen den Tod eines ihrer ältesten Mitglieder – der Frankfurter Rundschau. Was für eine lustig-luftig-todtraurige Story und Epoche geht damit zu Ende. Wir signalisierten es u. a. im 21. Nachwort: »Von Frankfurt/Main übern Taunus ins Erzgebirge«. Der Held war Karl Gerold, der FR-Chef mit Liebe und Zorn, ich gab von 1961 bis in die neunziger Jahre im Blatt eine Art freien Gelegenheits-Hausautor ab, mal gern gesehen, mal verdammt. Als die Vereinigung ausbrach, war ich Gerolds werten Nachfolgern zu links. Das bis dahin linksliberale Wort verlor rapide Autoren und Kundschaft. Schlieffens Parole Macht mir den rechten Flügel stark – schwächte die FR und verhalf der original rechts colorierten FAZ-Konkurrenz zur Alleinherrschaft unterm hohen Bankenhimmel. Manche Untergänge ziehen sich lange hin.
Als Autobiograph hab ich's leicht, mehr als hundert Jahre zu überblicken. Als Kind im Vorschulalter bei der Großmutter aufwachsend, erlebte ich deren Erinnerungen an ihre eigene Kindheit so plastisch und distanzlos wie sie davon erzählte. Geboren 1866 im oberfränkischen Marktleugast, reichte ihr Gedächtnis zurück bis ins Leben ihrer eigenen Großeltern, also knapp bis ins 18. Jahrhundert hinein. Das Leben der Großmutter teilte sich mir mit als wär's ein Teil von mir. Das war es auch. Die Mutter meiner Großmutter war die Leichenfrau des Dorfes, heute gibt es für sowas ganze Bestattungsunternehmen. Früher vererbte sich das Geschäft traditionell von Frau zu Frau fort. Etwas Schauder inklusive, doch solide und sicher, gestorben wird immer, solange noch geboren wird. Wenn nicht, geht's ans Aussterben. Auch eine Kulturform. Da hat die liebe Liebe ganz wie das liebe Leben endlich Ruh'. Anleitung zum Schreiben gegen den Tod in der Frustmoderne:
Beschreibe den Tag und es wird eine Reportage daraus. Beschreibe deine Vergangenheit und es wird eine Mythe. Beschreibe deine Gegenwart wie eine ferne Vergangenheit und du erzählst eine Geschichte. Beschreibe und erzähle nichts und der Tod hat dich geholt. Mir träumte, ich hätte 50 Millionen Geschichten niederzuschreiben. Wenn du eine Geschichte immer wieder auf Band orgelst, verlieren sich ihre Nebensächlichkeiten. Oral history nennen sie mündlich Erzähltes. Der Schriftsteller erzählt seine Geschichten einer Maschine, und wenn sie gut zuhört, entlässt sie Stories, die den Erzähler überdauern. Denn alle Wissenschaftler und Historiker lügen. Mindestens reden sie aus zweiter und dritter Quelle. Wenn ich wissen möchte, was der Dreißigjährige Krieg war, lese ich nach bei Grimmelshausen. Heute übernehmen unsere Fernseh-Dauer-Installierten vor erigierten Mikrophonen und geschwängerten Kameras die Berichterstattung. Jede Sendung gleicht einer Beerdigung. Bei Bedarf wird der Leichnam zum Scheintoten erklärt, zu neuem Leben erweckt und per Interview jeden Tag neu exekutiert.
In Kopf und Bauch wird eine Bundestagsdebatte vom 9.2.1984 dokumentiert. Joschka Fischer und Jürgen Reents von den Grünen setzen Kohl und Dregger hart zu. Fischer mutiert später zum Hans Dampf in allen Gassen und Außenminister-Pensionär. Reents verlässt die Grünen, wird 1994 Pressesprecher der PDS-Gruppe im Bundestag und dann nd-Chefredakteur, als der er so konsequent von tv-Auftritten ferngehalten wird wie die Zeitgeister Wilfried Scharnagl, den letzten Chefredakteur des Bayernkurier, ständig in die Glotze holen, obgleich es das Blatt längst nicht mehr gibt. Allzu lange soll Reents nicht mehr einer der nd-Chefs sein, heißt es, vielleicht darf er dann in Fernseh-Runden mit Scharnagl über die zeitliche Bedingtheit von Parteiblättern diskutieren. Als Jürgen Reents mich 2008 auf ein Buchprojekt ansprach, sagte ich trotz einiger Bedenken zu. Zwar gebe ich in Interviews aus Zeitmangel nur noch ungern Auskunft, Reents aber stellte kluge Fragen, das ist heutzutage selten geworden und weckt die Lust, darauf einzugehen. So entstand Weder Kain noch Abel, Jürgen fragt und Gerhard antwortet. Was aber nutzen all unsere tiefen Weisheiten, wenn Mensch nur zu gern mal Kain und mal Abel sein will, wie die hierarchische Täter-Opfer-Kultur es lehrt.
Am 6. Oktober 2012 wartet die FAZ schon wieder mit einer Bloch-Sentenz auf: »Aufrechter Gang, er zeichnet vor den Tieren aus, und man hat ihn noch nicht. Er ist nur erst als Wunsch da, als der, ohne Ausbeutung und Herrn zu leben.«
Wir sind erfreut, wo nicht gerührt und reagieren blochianisch-optimistisch. Allerdings fragt die skeptische Karlen Vesper am 15. November 2012 im nd, ob »Philosophen als Politikberater« überhaupt gut seien. Hans-Jörg Sandkühler, Philosoph und Jurist von der Bremer Universität, antwortet darauf mit einem klaren »Jein«. In der Tat herrscht mindestens von Platon bis zur DDR-Philosophie beschleunigte Abwicklung. Erstens gibt es keinen Königsweg zur Philosophie. Zweiten sind Könige wie herrschende Volksvertreter beratungsresistent oder à la Helmut Schmidt selber dilettierende Weltweise. Drittens nimmt Marx Schaden durch seine marxistischen Nachkommen, die seine Philosophie zu verwirklichen suchten und bereits an der Ökonomie scheiterten. Deutschland denkerisch endet also mit Heidegger, Adorno, Horkheimer, Bloch. Seitdem lehren Philosophieprofessoren, die von Philosophen strikt zu unterscheiden schon Schopenhauer grimmige Worte fand. Allerdings gibt es noch Habermas und endlich China zwischen Konfuzius, Marx und Angela Merkel.
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Heinrich Brüning:
Über Notverordnungen
ins Dritte Reich
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Die deutsche Demokratie ersetzt links durch rechts, das erleichtert den Weg in den Untergang. Wozu Pluralismus, wenn wir ein einig Volk sein wollen. Die Transformation der Weimarer Schuldenkrise lief über die Brüningschen Notverordnungen zur Installation Hitlers als Reichskanzler. Vom Schwarzen Freitag 1929 in den USA brauchte es dazu in Deutschland nur vier Jahre. Nach weiteren sechs Jahren begann der Krieg mit großen deutschen Siegen. Nochmal fünf Jahre und alles war Stalingrad. Auf zur nächsten Runde. Inzwischen exportierte Deutschland halb Europa in den totalen Schuldnerstand. Wer wollte, wurde dazu kreditfinanziert, bis der brave Schuldner über seine Importe und Kredite pleite geht. Das Muster dazu lieferte der Aufkauf der DDR durch die BRD. So kann der deutschen Einheit die europäische nachfolgen, falls sie nicht in einer Weimarisierung und Balkanisierung endet.
Die Linke hat in Deutschland die Wahl, verfolgt und verboten zu werden wie unter Kaiser Wilhelm, Hitler, Adenauer oder sich letal nach rechts anzupassen. Selbst in der anfangs linksfundierten DDR wurden linke Volksfrontler solange traktiert, bis der Staat am Ende war.
Horizontwechsel vom Keller aufs Dach – wir reflektieren rückhaltlos über Bloch und die fatale Diskrepanz zwischen Politik und Philosophie. Als die DDR 199o aufhörte, fragte mich der Hessische Rundfunk nach meinen Ost-West-Erfahrungen. Die jetzt verstorbene Frankfurter Rundschau, damals noch quicklebendig, druckte das Gespräch am 14.8.1990 nach. Resümee: Die Art von Vereinigung wird zu fundamentalen Krisen führen. Das befürchteten wir schon lange zuvor.
Dazu ein Detail: Bloch schickte uns seine Bücher stets mit Widmung für Ingrid und Gerhard Z. Ein einziger Band richtete sich nur an mich: »Ein Gruß vom Kurfürstendamm der zwanziger Jahre für Gerhard Zwerenz – herzlich Ernst Bloch.« Es geht um Erbschaft dieser Zeit, Suhrkamp 1962 – Buch und Widmung schlagen eine Brücke fünf Jahre zurück zu meinem heimlichen letzten Gespräch mit Bloch in Leipzig. Er war bereits ohne Lehrstuhl, ich auf dem Weg in den Westen. Das war ein heikles Thema, denn, so unsere Bedenken, würde eine BRD ohne DDR nicht zurückfallen in die Wirren und Gefährdungen einer Weimarer Republik? Die Widmung im Erbschafts-Buch spielte 1962 darauf an. Das ganze Werk ist eine Warnung vor der ewigen Wiederkehr des üblen Gleichen.
Am 25.2.1984, sieben Jahre nach dem Tod des Philosophen, bemerkte Karola in einem Brief an mich: ... eigentlich ist es schade, dass Du den Plan, einen Ernst-Bloch-Roman zu schreiben, aufgegeben hast ... Aber dem Bloch entgehst Du sowieso nicht. Das klang nun fast wie Dr. Wolfram Burisch-Wieler, der mir am 5.8.1977 schrieb, er habe den Philosophen kurz vor dessen Tod besucht: Und er hat mir unmissverständlich eingeprägt, dass er zwei seiner Schüler als seine ›Erben‹ verstehe: Gerhard Zwerenz und Wolfram Burisch.
Ich erwiderte: Was Bloch und seine ›Erben‹ angeht, so meine ich, der listige Uralte hat da Ringe vergeben wie Nathan der Weise – mehrere, und wer weiß denn, welcher der echte ist. Wenn nur alle Ringträger sich bemühen ... Mir schien die Burisch-Nachricht unfair gegenüber anderen zu sein. So rettete ich mich mit einem Verfahren, das keine Ausflucht war: Aus der Nähe wie Ferne protokollierte ich in ungezählten Arbeiten Bloch und sein Werk, es wurde die Beschreibung von Philosoph und Philosophie daraus – eine quasi lebenslängliche, dabei halbautobiographische Schreibmanie. (Aus Sklavensprache und Revolte, Seite 322/23)
Mehr zu all diesen Themen findet sich in unserem Buch unter dem Kapitel: Blochs Projekt im Versuch. Hier nur einige Anmerkungen: Mit diesem Nachwort 99 endet unsere Sachsen-Serie, die 99 Nachworte bilden die Parallele zu den vorangegangenen 99 Folgen. Zugleich ist mein Bescheid an Karola, keinen Bloch-Roman zu schreiben, insofern zu widerrufen, als Karolas spontane Reaktion Aber dem Bloch entgehst du sowieso nicht im Einzelnen und Allgemeinen zutrifft. Die Folgen und Nachworte bilden einen Autobiographieroman – eine Romanautobiographie-Montage von etwa 2000 Seiten. Der dritte Teil steht noch aus. So wäre also von den Geheimlehren der Blochianer zu handeln, die weder geheimer Logen noch lauter Parteien noch Glauben fordernder Kirchen bedürfen. Es ist Erleben und Philosophieren im Handumdrehen, beides übrigens nicht erlernbar, du musst es dir erstreiten. Erst mit dir, dann mit anderen Nach- und Vordenkern.
Albrecht Müller, einst erfolgreicher Wahlkämpfer für Willy Brandt, heute kritischer Blog-Autor der NachDenkSeiten, wird am 19.11.2012 im FAZ-Feuilleton auf fast einer ganzen Seite präsentiert: Überschrift: Eine bessere Welt ist immer noch möglich. Der Blick zurück auf 1972 soll die heutige SPD ermutigen. Ersetzt das aktuelle fragile Spitzentrio den einstigen einzigen Willy Brandt? Beinfreiheit statt Kopffreiheit. Mit Noske statt Bebel an der Backe. Diese zweite bis dritte Nachkriegsgeneration gibt Rätsel auf. Jürgen Trittin, Vater SS-Obersturmführer, wollte Nähe zu seinem Erzeuger durch Linksradikalismus dementieren. 2010 plädiert er, inzwischen exkommunistischer Grüner, lauthals für den erklärten Antikommunisten Joachim Gauck als Bundespräsidenten. Gaucks Eltern waren ebenso altnazistisch verseucht wie Trittins SS-Papa. Gauck jedoch übernahm das Erbe, indem er sich nicht zumindest zeitweise davon distanzierte. Und nun endlich die Rückkehr zur schwarzfeldgraubraunen Vätergeneration von SA/SS/Wehrmacht? Die Generation 1968 heim ins Jahr 1933? Das vermittelt eine Ahnung von Trittins Schmerzen – endlich lang verleugnete Sympathien freilassen, weil Abgrenzung nicht mehr nötig. Stattdessen wird Mitschwimmen im Mainstream opportun. Das ist Freiheit, wie sie sich ringsum durchsetzt. Das ist Politik. Philosophie ist anders. Bei aller öffentlichen Wertschätzung, die sie erfährt, wird sie von den Politikern ignoriert oder verfolgt, sobald sie mehr als schöner Schein zu sein beansprucht. Dieses Geschick teilt sie mit der Literatur, die indessen heimlich still und leise gar nichts anderes mehr anzustreben scheint. Ausgenommen am linken Rand und bei der letzten Lyrik, die niemand liest.
Die Ablösung des Menschen vom Tierreich scheiterte bisher am Menschen, der zum biologischen Hunger den Machthunger fügt. Politik will das Mögliche, Philosophie das Unmögliche? Marx versuchte es umgekehrt, indem er seine Politik mit Philosophie begründete. Deutschland als Nation ohne gelungene Revolution bleibt aber notorisch gespalten zwischen einem produktiven Teil wirtschaftlicher Erfolge und einem kleineren Teil demütiger Geisteskultur – Philosophie eben. Man lehrt sie, um sie zu vergessen. Oder hat Immanuel Kants Schrift Zum ewigen Frieden auch nur einen einzigen Krieg verhindert? Da hätte Mensch vorher Kants Aufforderung Sapere aude folgen müssen. Wage, dich deines Verstandes zu bedienen, wage es, vernünftig zu sein – so die treffende, kräftige Kurzfassung.
Weshalb schreibe ich das alles auf – ab 1933 verfolgte man, wie ich als Kind mit 8 Jahren erlebte, in unserem Land eine Reihe von Büchern, deren Verfasser Kants Sapere aude zu verwirklichen suchten. Jetzt ist es nicht mehr lange hin bis zum 88. Geburtstag – seit meiner frühen Jugend hat sich viel und doch zu wenig geändert. Die Serie im Leipziger poetenladen nennt mehr als tausend Personen. Und wo bleiben die Geheimlehren Blochs und der Blochianer? Sie sind im Text aufzufinden. Nach den nächsten großen Kriegen, sofern sie jemand überleben sollte, wird der eine oder andere vielleicht wissen wollen, ob es zu unseren Zeiten außer Fußball, Fesselsex-Bestsellern, Eurokrise und Fernseh-Talkshows noch irgendetwas gab. Wir bieten eine kleine Enzyklopädie des subversiven Subjekts an, das es in zahlloser Lebensgestaltung gab. Wir gestatten uns ein wenig daran zu erinnern, auch wenn es einst der Archäologen bedarf, sie auszugraben.
Während ich dies notiere, streitet ein Halbdutzend Gäste bei Anne Will um das Leben nach dem Tod – flotte zweite Titel-Hälfte: Letzte Ausfahrt Paradies? Gar nicht paradiesisch, sondern höllisch robust geht es um Gott oder Nichtgott, also Atheismus. Eine Katholikin und ein vormaliger evangelischer Kanzel-Redner gegen Kabarettisten, naturwüchsig gläubige Christen und eine Muslima gegen einen studierten Naturwissenschaftler. Frau Will sollte sich als Streit-Thema mal die 11. Feuerbach-These von Karl Marx vornehmen: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt darauf an, sie zu verändern.« Als hoch an der Zeit schlagen wir eine mit Ernst Bloch zu begründende Variante vor: … es kommt darauf an, sich zu verändern. Soviel von den klandestinen Blochianern als Aufmunterung zur Dekonstruktion und neuen Geschichtserzählung. Der aufrechte Gang des Menschen sollte nicht zur Parodie der Affen verkommen, die immer wieder auf allen Vieren laufen müssen, weil Rückgrat und Hirn nicht ausreichen.
Soviel zu Religion und Philosophie. Nun zur Politik: Im Jahr 2000 beklagte der stern den »Braunen Terror in Ostdeutschland«. Meine Antwort im Heft 28/2000 trifft heute noch zu:
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Gerhard Zwerenz
Serie
- Wie kommt die Pleiße nach Leipzig?
- Wird Sachsen bald chinesisch?
- Blick zurück und nach vorn
- Die große Sachsen-Koalition
- Von Milbradt zu Ernst Jünger
- Ein Rat von Wolfgang Neuss und aus Amerika
- Reise nach dem verlorenen Ich
- Mit Rasputin auf das Fest der Sinne
- Van der Lubbe und die Folgen
- Unser Schulfreund Karl May
- Hannah Arendt und die Obersturmbannführer
- Die Westflucht ostwärts
- Der Sänger, der nicht mehr singt
- Ich kenne nur
Karl May und Hegel
- Mein Leben als Prophet
- Frühe Liebe mit Trauerflor
- Der Schatten Leo Bauers
- Von Unselds Gegner zu Holtzbrincks Bodyguard
- Karl May Petrus Enzensberger Walter Janka
- Aus dem Notizbuch eines Ungläubigen
- Tanz in die zweifache Existenz
- General Hammersteins Schweigen
- Die Pleiße war mein Mississippi
- Im Osten verzwergt und verhunzt?
- Uwe Johnson geheimdienstlich
- Was fürchtete Uwe Johnson
- Frühling Zoo Buchmesse
- Die goldenen Leipziger Jahre
- Das Poeten-Projekt
- Der Sachsenschlag und die Folgen
- Blick zurück auf Wohlgesinnte
- Sächsische Totenfeier für Fassbinder (I)
- Sächsische Totenfeier für Fassbinder (II)
- Brief mit Vorspann an Erich Loest
- Briefwechsel mit der Welt der Literatur
- Die offene Wunde der Welt der Literatur
- Leipzig – wir kommen
- Terror im Systemvergleich
- Rachegesang und Kafkas Prophetismus
- Die Nostalgie der 70er Jahre
- Pauliner Kirche und letzte Helden
- Das Kickers-Abenteuer
- Unser Feind, die Druckwelle
- Samisdat in postkulturellen Zeiten
- So trat ich meinen Liebesdienst an …
- Mein Ausstieg in den Himmel
- Schraubenzieher im Feuchtgebiet
- Der Fall Filip Müller
- Contra und pro Genossen
- Wie ich dem Politbüro die Todesstrafe verdarb
- Frankfurter Polzei-buchmesse 1968
- Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
- Als Atheist in Fulda
- Parade der Wiedergänger
- Poetik – Ästhetik und des Kaisers Nacktarsch
- Zwischen Arthur Koestler und den Beatles
- Fragen an einen Totalitarismusforscher
- Meine fünf Lektionen
- Playmobilmachung von Harald Schmidt
- Freundliche Auskunft an Hauptpastor Goetze
- Denkfabrik am Pleißenstrand
- Rendezvous beim Kriegsjuristen
- Marx, Murx, Selbstmord (der Identität)
- Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (I. Teil)
- Vom Aufsteiger zum Aussteiger? (II. Teil)
- Der Bunker ...
- Helmut auf allen Kanälen
- Leipzig anno 1956 und Berlin 2008
- Mit Konterrevolutionären und Trotzkisten auf dem Dritten Weg
- Die Sächsischen Freiheiten
- Zwischen Genossen und Werwölfen
- Zur Geschichte meiner Gedichte
- Poetenladen: 1 Gedicht aus 16 Gedichten
- Der Dritte Weg als Ausweg
- Unendliche Wende
- Drei Liebesgrüße für Marcel
- Wir lagen vor Monte Cassino
- Die zweifache Lust
- Hacks Haffner Ulbricht Tillich
- Mein Leben als Doppelagent
- Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein
- Vom Langen Marsch zum 3. Weg
- Die Differenz zwischen links und rechts
- Wo liegt Bad Gablenz?
- Quartier zwischen Helmut Schmidt und Walter Ulbricht
- Der 3. Weg eines Auslandssachsen
- Kriegsverrat, Friedensverrat und Friedenslethargie
- Am Anfang war das Gedicht
- Vom Buch ins Netz und zur Hölle?
- Epilog zum Welt-Ende oder DDR plus
- Im Hotel Folterhochschule
- Brief an Ernst Bloch im Himmel
- Kurze Erinnerung ans Bonner Glashaus
- Fritz Behrens und die trotzkistische Alternative
- 94/95 Doppelserie
- FAUST 3 – Franz Kafka vor Auerbachs Keller
- Rainer Werner Fassbinder ...
- Zähne zusammenbeißen ...
- Das Unvergessene im Blick
1. Nachwort
Nachworte
- Nachwort
siehe Folge 99
- Auf den Spuren des
Günter Wallraff
- Online-Abenteuer mit Buch und Netz
- Rückschau und Vorschau aufs linke Leipzig
- Die Leipziger Denkschule
- Idylle mit Wutanfall
- Die digitalisierte Freiheit der Elite
- Der Krieg als Badekur?
- Wolfgang Neuss über Kurt Tucholsky
- Alter Sack antwortet jungem Sack
- Vor uns diverse Endkämpfe
- Verteidigung eines Gedichts gegen die Gladiatoren
- Parademarsch der Lemminge und Blochs Abwicklung
- Kampf der Deserteure
- Fritz Bauers unerwartete Rückkehr
- Der Trotz- und Hoffnungs-Pazifismus
- Als Fassbinder in die Oper gehen wollte
- Was zum Teufel sind Blochianer?
- Affentanz um die 11. Feuerbach-These
- Geschichten vom Geist als Stimmvieh
- Von Frankfurt übern Taunus ins Erzgebirge
- Trotz – Trotzalledem – Trotzki
- Der 3. Weg ist kein Mittelweg
- Matroschka –
Die Mama in der Mama
- Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
- Der Aufgang des Abendlandes aus Auerbachs Keller
- Jan Robert Bloch –
der Sohn, der aus der Kälte kam
- Das Buch, der Tod und der Widerspruch
- Pastor Gauck oder die Revanche für Stalingrad
- Bloch und Nietzsche werden gegauckt ...
- Hölle angebohrt. Teufel raus?
- Zwischen Heym + Gauck
- Von Marx über Bloch zu Prof. Dr. Holz
- Kafkas Welttheater in Auerbachs Keller
- Die Philosophenschlacht von Leipzig
- Dekonstruktion oder Das Ende der Verspätung ist das Ende
- Goethes Stuhl – ein Roman aus Saxanien
- Meine Weltbühne im poetenladen
- Von Blochs Trotz zu Sartres Ekel
- Die Internationale der Postmarxisten
- Dies hier war Deutschland
- Kopfsprünge von Land zu Land und Stadt zu Stadt
- Einiges Land oder wem die Rache gehört
- Schach statt Mühle oder Ernst Jünger spielen
- Macht ist ein Kriegszustand
- Dekonstruktion als Kriminalgeschichte I
- Damals, als ich als Boccaccio ging …
- Ein Traum von Aufklärung und Masturbation
- Auf der Suche nach der verschwundenen Republik
- Leipzig am Meer 2013
- Scheintote, Untote und Überlebende
- Die DDR musste nicht untergehen (1)
- Die DDR musste nicht untergehen (2)
- Ein Orden fürs Morden
- Welche Revolution darfs denn sein?
- Deutschland zwischen Apartheid und Nostalgie
- Nietzsche dekonstruierte Gott, Bloch den Genossen Stalin
- Ernst Jünger, der Feind und das Gelächter
- Von Renegaten, Trotzkisten und anderen Klassikern
- Die heimatlose Linke (I)
Bloch-Oper für zwei u. mehr Stimmen
- Die heimatlose Linke (II)
Ein Zwischenruf
- Die heimatlose Linke (III)
Wer ist Opfer, wer Täter ...
- Die heimatlose Linke (IV)
In der permanenten Revolte
- Wir gründen den Club der
heimatlosen Linken
- Pekings große gegen Berlins kleine Mauer
- Links im Land der SS-Obersturmbannführer
- Zweifel an Horns Ende – SOKO Leipzig übernimmt?
- Leipzig. Kopfbahnhof
- Ordentlicher Dialog im Chaos
- Büchner und Nietzsche und wir
- Mit Brecht in Karthago ...
- Endspiel mit Luther & Biermann & Margot
- Die Suche nach dem anderen Marx
- Wer ermordete Luxemburg und Liebknecht und wer Trotzki?
- Vom Krieg unserer (eurer) Väter
- Wohin mit den späten Wellen der Nazi-Wahrheit?
- Der Feind ist in den Sachsengau eingedrungen
- Die Heldensöhne der Urkatastrophe
- Die Autobiographie zwischen
Schein und Sein
- Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
- Atlantis sendet online
- Zur Philosophie des Krieges
- Deutsche, wollt ihr ewig sterben?
- Der Prominentenstadl in der Krise
- Der Blick von unten nach oben
- Auf der Suche nach einer moralischen Existenz
- Vom Krieg gegen die Pazifisten
- Keine Lust aufs Rentnerdasein
- Von der Beschneidung bis zur
begehbaren Prostata
- Friede den Landesverrätern
Augstein und Harich
- Klarstellung 1 – Der Konflikt um
Marx und Bloch
- Bloch & die 56er-Opposition zwischen Philosophie und Verbrechen
- Der Kampf ums Buch
- Und trotzdem: Ex oriente lux
- Der Soldat: Held – Mörder – Heiliger – Deserteur?
- Der liebe Tod – Was können wir wissen?
- Lacht euren Herren ins Gesicht ...
- Die Blochianer kommen in Tanzschritten
- Von den Geheimlehren der Blochianer
Aufsatz
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