Es ist etwas in Bewegung geraten, seit wir statt vom Sachsenring oder Sachsensumpf glattweg vom Sachsenschlag sprechen. Der Sachsenring ist für rasende Rennen da, der Sachsensumpf bald Realität, bald Fata Morgana. Der Sachsenschlag aber bildet die Parallele zum Preußenschlag, worauf wir am Ende der 24. Folge Im Osten verzwergt und verhunzt unserer abenteuerlichen sächsischen Autobiographie hinwiesen. Am 20. Juli 1932 stürzte Franz von Papen per Notverordnung die preußische Regierung unter Otto Braun (SPD), ließ die Polizeiführung verhaften und setzte sich selbst als Reichskommissar ein. Diese Preußenschlag genannte Staatsstreich half Hitler auf dem Weg zur Macht und leitete den Untergang der Weimarer Republik ein. Über den Sachsenschlag schrieben wir: »Am 22. Oktober 1923 ließ Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD) die Reichswehr nach Sachsen (und Thüringen) einmarschieren, um die sozialdemokratisch-kommunistische Koalitionsregierung in Dresden unter Ministerpräsident Erich Zeigner (SPD) zu stürzen. Das war der Sachsenschlag in vorauseilender Parallele zum Preußenschlag von 1932. Denn Befehl ist Befehl. Deutschland musste vor der Volksfront gerettet werden. Erich Zeigner, 1923 von Eberts Reichswehr abgesetzt, weil er zwei Kommunisten in seine Regierung aufgenommen hatte, kam unter Ebert in Haft, unter Hitler in Haft und KZ und lebte bis zu seinem Tod im Jahr 1949 in Leipzig, wo er für die Vereinigung von SPD und KPD arbeitete. Als gebürtiger Erfurter, der in Leipzig aufwuchs, zählt er zu den Klassikern der sächsischen Arbeiterbewegung – vielverfolgt und trotzdem aufrecht. Ich diagnostiziere mit der einem Sachsen naturgemäß eingeborenen Nüchternheit: Wir wurden seit 1923 pausenlos von einander abwechselnden Parteien und Militärs besetzt. Auf Ebert-Geßlers Reichswehr folgten Hitlers Wehrmacht, Stalins Sowjetarmee, Ulbrichts Volksarmee, Kohls Bundeswehr. Sollten wir's zur Abwechslung nicht mal mit den Pazifisten versuchen, auch wenn Bruder Broder das nur für einen Kaffeenachmittag zulassen will und Prof. Baring uns das Sterben lernen empfiehlt?«
Soweit unser Zitat aus der Folge 24. Das Recht, die Reichsexekution Eberts gegen die sächsische Zeigner-Regierung in Parallele zu Papens Staatsstreich von 1932 gegen die sozialdemokratische Regierung Preußens zu setzen, nehme ich mir freihändig, auch wenn ich der erste sein sollte, dem das in seiner leidigen Untergründigkeit auffällt. Wenn der Staatsstreich von 1932 Hitler zugute kam, so ist neun Jahre zuvor eben dies im Frühstadium der Fall gewesen. Der von Sebastian Haffner exakt benannte Verrat der Sozialdemokratie an ihrer eigenen Revolution von 1918/19 setzte sch fort und schwächte die deutsche Linke, bis sie sich 1933 als gänzlich unfähig zum Widerstand erwies. Als gebürtiger, wenn auch westwärts verlorengegangener Sachse erlaube ich mir, die 1923er Reichsexekution gegen Sachsen (und Thüringen) ebenso abzulehnen und historisch anzufechten wie der 1932er Preußenschlag als direkte Vorleistung für Hitlers Machtantritt von 1933 zu bewerten ist. Die industrielle, wirtschaftliche und politische Entwicklung Sachsens lief von 1918 an auf eine revolutionäre Modernisierung hinaus, was die Ebertsche Sozialdemokratie mit Hilfe der Reichswehr verhinderte. Ich muss nicht den freischwebenden Literaten und seine phantasievolle Ausdrucksfreiheit zu Hilfe rufen, um in den Sachsen, die der DDR ihren Stempel aufdrückten und in Berlin als 5. Besatzungsmacht galten, ein Art geschichtlicher Rächer zu sehen, Walter Ulbricht, Herbert Wehner und abertausend Genossen inklusive. Eberts sozialdemokratische Reichsexekution traf auch Thüringen, das sich davon nicht erholte. Neulich zeichnete der Wissenschaftspublzist Gerhard Wagner die schwarzbraune Linie nach: 1926 erster Reichsparteitag der NSDAP in Weimar. Baldur von Schirach gründet dort 1930 die Hitlerjugend, Wilhelm Frick wird Deutschlands erster Nazi-Minister, Fritz Sauckel macht als Thüringer Gauleiter Karriere, Mussolini, Goebbels, Hitler reisen fleißig an und ab, als gelte es die Weimarer Verfassung auch noch an dem Ort abzuschaffen, wo Eberts Reichsexekutive schon 10 Jahre vor 1933 gewirkt hatte, als sei Eberts Nachfolger Hindenburg bereits Reichspräsident gewesen und der Tag von Potsdam als Tag von Weimar vorfristig abzuleisten. Hitler übernachtete mehr als vierzigmal in der »Führersuite« des berühmten Hotels Elephant. Nietzsches Schwester Elisabeth wiegte ihn in den Schlaf und ihrer beider Wille zur Macht illuminierte Buchenwald zum deutschen Märchenwald der Brüder Ingrimm – lauter Horrorfiguren mit Goethe als Monster, das die 56 000 Buchenwaldtoten dem Doktor Faust schenkt, der sie an Mephisto weiterreicht, von dem sie bescheiden an den zuständigen Ebert abgegeben werden. Warum, kommentiert Sebastian Haffner:»Die Selbstgerechtigkeit der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands ist unerträglich, steht sie doch in krassem Gegensatz zu den diesem Jahrhundert ihren Stempel aufdrückenden fatalen Fehlentwicklungen.» (Zwecklegenden – Die SPD und das Scheitern der Arbeiterbewegung.) . In Sachsen hinterließ die Ebertsche Reichsexekutive andere Spuren. Wir erinnern uns unseres Herzogs Widukind, der einst Karl dem Großen in die Blutsuppe spuckte. Damals wollten seine Franken die heidnischen Sachsen christianisieren. Die aber wollten nicht. Ob das übergroße Karlchen nun bei Verden an der Aller 4 500 oder nur 450 Sachsen köpfen ließ, wer weiß, sicher ist nur, Eberts Sachsenschlag war eine misslungene Missionierung, deren Details unsere eifrigen Superhistoriker lieber verschweigen. Zur fröhlichen Erinnerungskultur: Dies ist eine zweifache Autobiographie – erstens meine eigene und zweitens die sächsische. Nur blicke ich nicht von Dresdens Elbe auf Leipzigs Pleiße, sondern von der Pleiße auf Rhein, Main, Aller, Elbe und zwischendurch auf Isar sowie Spree. Das ist der kleine Unterschied. In meinem 1966 publizierten Roman Casanova oder der Kleine Herr in Krieg und Frieden heißt der Held Kleiner Herr, daraus fertigte Alice Schwarzer knapp zehn Jahre später ihr Buch vom kleinen Unterschied und seinen großen Folgen, ohne sich zu bedanken. Später stieg sie in die polierte Luftballon-Welt der Promiklasse auf und führt via tv ihre Unschuld in diversen Sex-Diskussionen vor, bei denen die Steine erweichen und Stammzellen samt Stammtischen verzweifelt ejakulieren. Über Alice als Bewunderin von Angela Merkel wird geflüstert, sie sei auch deren Beraterin. Was sagt Ehemann Joachim Sauer dazu? Welche Folgen hat das? Das sind nicht meine Bedenken. Merkel studierte einst Physik in Leipzig, deren Gesetze sie von Fall zu Fall auch in der Politik zu nutzen weiß. Die so hochambitioniert gestartete Alice Schwarzer verwandelte sich zum Ebert der Frauenbewegung. Klaus Höpcke, ich nenne ihn Ex-Buchminister der weiland DDR, dieses Leselandes mit versilberten Zensurgrenzen, rezensierte neulich im ND den eben erschienenen Band Weder Kain noch Abel, der aus meinen Antworten auf die Fragen von Jürgen Reents besteht. Das Buch hätte in der DDR genausowenig veröffentlicht werden können wie heutzutage in den üblichen bürgerlichen Notstand-Verlagen der freiheitlichen Berliner Republik. Besonders spannend finde ich zwei Höpcke-Verweise. Der erste gilt meiner Kriegsgeschichte Der Maulwurf, deren eigene abenteuerliche Geschichte zu dokumentieren hier der Platz fehlt. Der zweite betrifft meinen Essay Leipziger Allerlei, gedruckt im Sonntag vom 21. Oktober 1956, im jetzigen Band nach einem Halbjahrhundert als einer von drei Texten vorgelegt, die 1957 in Leipzig zu meinem SED-Ausschluss führten, obwohl, wie Höpcke betont, die »Grundorganisation der Partei am Philosophischen Institut, im Schriftstellerverband und am Literaturinstitut« die Zustimmung verweigerten. Den Dank an Leipziger Genossen vergesse ich auch heute nicht. Es gab Opposition unter den Genossen. Wohin ist die Opposition? Wohin sind die Genossen? Wir sind beim Kern der Ausdrucksfreiheit in der Klassengesellschaft angelangt. Ihre Zwänge differierten im Westen luxuriös und konterrevolutionär, weil USA-geprägt, im Osten revolutionär, doch von der SU abgebremst und insofern verheerend. Sagen wir es deutlich: Mit Lenins Tod, Trotzkis Vertreibung und Stalins Aufstieg war die rote Revolution im Eimer. Lenins Konzept hatte auf die Weltrevolution gesetzt, die ausblieb, weil die deutsche Revolution nach Ende des 1. Weltkriegs versandete. Den Verrat der SPD an sich selbst schildert keiner so eindringlich wie der vom eigenen Lebenslauf legitimierte Sebastian Haffner. Die Angst führender Sozialdemokraten vorm Blick ins eigene Sündenregister korrespondiert mit der Angst jener Kommunisten, die nicht begreifen wollen, dass Lenins Revolutionskonzept mit Stalins und Hitlers Machtübernahme endgültig hinfällig wurde. Der Rest ist Tragödie, der Rest vom Rest Sektiererei, bestenfalls gutgemeintes Epigonentum.
Auf der Berliner Kommandeurtagung der Bundeswehr forderte Nato- Das ist nur ein Beispiel dafür, wie der Volkswille wie einst unter Ebert missachtet und die Manipulation unter Berufung auf vorherige Sündenfälle eingefordert wird. Geht die Sache schief, melden sich kluge Geister, die das Volk beschuldigen, weil es sich den Politikern und Militärs fügte, statt zu widerstehen. Erst wird der Widerstand denunziert, verteufelt und gebrochen, dann beim nächsten illegalen Akt auf den vorigen verwiesen, dem man sich ja auch unterworfen habe. Am unguten Schluss weigern sich die Herren Kommandeure, Verantwortung und Schuld auf sich zu nehmen und schieben alles aufs Volk. Das ist der kriegerischen Dummheit ewige Wiederkehr, über die der Sachse Nietzsche schrieb. Die Stimme Sachsens klingt mir heute zu leise, gebrüllt wird von den falschen Leuten, plural oder gar links hört man meist nicht mehr als ein Flüstern. Das Land, seit industriellen Aufbruchzeiten politisch und kulturell stets an der Spitze, so dass die Arbeiterbewegung strukturbildend wirken konnte, ist ökonomisch zurückgeworfen worden und verfängt sich im Kladderadatsch geistiger Kleinhändler und krimineller Sumpfbewohner. Hier ein Zitat aus unserem Buch Sklavensprache und Revolte: »Die DDR bestand aus zwei Republiken. Die Macht lag in Moskau, von wo den deutschen Vertrauten das untaugliche Modell vorgeschrieben wurde. In der Gesellschaft aber bildeten sich die Konturen eines anderen Entwurfs heraus. Dies alles unterdrückt zu haben, ist die Schuld der Machthaber, die sich und den sozialistischen Versuch damit zur Untauglichkeit verurteilten. Und es ist die Schuld derer, die zum Dritten Reich keinen hinreichenden Bruch zulassen wollten, so geschehen im Westen.« Im Fortgang wird von einer »verhinderten zweiten DDR« gesprochen, die sich innerhalb der ersten herausbildete als eine Art Zivilgesellschaft im Sinne von Antonio Gramsci. Diese zweite DDR ging 1989 mit verloren. So wie die Weimarer Republik untergehen musste in konterrevolutionären Gewaltakten, die den Freiheitswillen brutal erstickten, bis 1933 der Führerstaat installiert werden konnte. Als gegen Ende des 2. Weltkrieges die Gegend um Schwarzenberg im Erzgebirge von westlichen wie östlichen Besatzern verschont blieb, bildete sich dort eine freie Republik, der unser Freund Stefan Heym ein liebevolles Buch widmete. Die Freiheit war nicht von Dauer. Die Sowjets rückten an, mit ihnen die Wismut und der Abbau von Uran. Eine Okkupation des Landes für fremde Interessen wie 1923 durch Eberts Reichswehr? Aus lauter Angst vor und Hass auf eine Revolution, die man doch bis 1914 als Sozialdemokratie selbst gepredigt hatte, räumte man so die Straße für die Braunen Bataillone. Und wenn ich der erste oder letzte Sachse sein sollte, der daran rührt, ich spreche vom Sozialdemokraten Erich Zeigner, der vom Sozi Ebert verjagt wurde und als Leipzigs Nachkriegs-OB wieder auftauchte. Bis 1937 war dort Goerdeler Oberbürgermeister gewesen, der 1944 als untergetauchter Widerständler denunziert und Anfang1945 noch hingerichtet wurde. Zeigner überlebte Goerdeler, verfolgt wurden beide von der ewigen deutschen Unschuld, welchen Namen sie auch annimmt. Die Geschichte Sachsens ist nicht zu verstehen ohne die Reichsexekution von 1923. Als 1934 die erste westsächsische Widerstandgruppe aufflog, gab es mehr als 150 Verhaftungen, in der Mehrzahl frühere Sozialdemokraten, die aus Verzweiflung über ihre Partei Kommunisten geworden waren. Die Geschichte wiederholt sich, wenn sich ihre Typologien wiederholen In Van der Lubbe und die Folgen, dem 9. Kapitel dieser Serie, berichteten wir über die Klagen des Häftlings gegen seine andauernde schwere Fesselung. Seine verkrümmte Haltung wird fälschlich auf Drogen zurückgeführt. Er solle doch gerade stehen und den Kopf heben, verlangten die Richter. Er aber blieb auch in den kurzen Pausen vor Gericht, wenn die krummschließenden Fesseln abgenommen waren, bei der erzwungenen Haltung. Das war die letzte Geste von Widerstand. Die ihm zugefügte Deformation entspricht der Deformation eines Volkes, das den Reichstagsbrand in Berlin wie den darauffolgenden Prozess in Leipzig widerstandslos hinnahm. Völker mögen im historischen Prozess freigesprochen werden, versagende Parteien genießen dieses Vorrecht solange nicht, wie sie die Selbstanalyse schuldig bleiben. Die süßen ollen Griechen beendeten ihre Tragödien gern mit veräppelnden »Bocksgesängen«. Weil die Tibeter gerade mal wieder den Aufstand gegen chinesische Besatzer proben, erkennen wir im 1923er Sachsenschlag des Friedrich Ebert gegen den seit Widukinds Zeiten aufmüpfigen Volksstamm zwischen Pleiße und Elbe das bestimmende Muster von »Preußen gegen Sachsen + Bayern.« Unter Hitlers Herrschaft gab es hier optimalen Widerstand. Die DDR war als Groß-Sachsen Walter Ulbrichts Rache an Preußen. In Berlin stellten wir die 5. Besatzungsmacht. Der Dresdner Herbert Wehner wurde in Bonn eingeschmuggelt für alle Fälle … Unseren klassischen Revolutionär Max Hoelz ließen die Sowjets hinterlistig ersaufen, wofür wir sie zur Strafe in unserem Erzgebirge solange nach Uran buddeln ließen, bis sie an Erschöpfung selber untergingen. Die Tibeter könnten von uns den permanenten intravenösen Widerstand lernen. Man braucht dazu weder Waffen noch hochpriesterliche Geistlichkeit – nur Geist, Witz und einen roten strategischen Geduldsfaden.
Am Montag, den 21. April 2008, erscheint das nächste Kapitel.
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Gerhard Zwerenz
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