Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | 60. Nachwort
Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
60. Nachwort |
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Die heimatlose Linke (I)
– Eine Bloch-Oper für zwei und mehr Stimmen –
Erste Stimme:
1977, im Todesjahr Blochs begann ich, Gedichte über Sklavensprache zu schreiben. Zu meiner Verwunderung wurden sie bei öffentlichem Vortrag mit größtem Applaus aufgenommen. Ich trat damit nur selten an, zweimal im Jahr, wenn eine Band zur Hand war, das steigert die Wirkung. Es liegt, glaube ich, an der Mischung von Sarkasmus und Liebe. Wir werden gezwungen, Sklavensprache zu sprechen. Wir leben auf, verlernen wir sie. Unser Leben, unsere Kultur, Kunst, Politik, Wirtschaft, Publizistik, all das ist gefälscht, und indem wir nicht darwidersprechen und widerstehen, fälschen wir uns mit ein. Was zu widerrufen uns Lust bereitet. Am meisten gefiel mir, dass verstanden wird, die Sklavensprache kennt Dialekte und Idiome, die werden in Ost wie West benutzt. Im Kern sind es dieselben Kräfte, die dazu zwingen und dieselben, die sich nicht zwingen lassen wollen. Als ein Kritiker schrieb, diese Gedichte seien meine kurzgefasste Anleitung zur individuellen Revolte, fühlte ich mich verstanden. Als ein
FAZ-Kritiker sie verfluchte, fühlte ich mich noch besser verstanden.
Vom Filosofen aufgefordert, darüber nachzudenken,
was Sklavensprache sei, dachte ich dreißig Jahre
lang ein wenig nach. Immer dann, wenn die Geschichte ein wenig
pausierte, erkannte ich beschämt:
Ich selbst war es, der in den vorangegangenen
schweren Zeiten, bevor die Geschichte ein wenig
pausierte, die Sprache zurechtgebogen hatte, auf
dass sie mir nicht die blutende Wunde Wahrheit aufrisse.
Ja, ich bog die Sprache zu eleganten Illuminationen
zurecht, und ihre wundervollen tausendgesichtigen
Formen wellten wie Haar das Haupt der Gestalten, die
ich als Kunstfiguren ins öffentliche Leben entließ.
Ja, ich habe schön gesprochen, wo ich hätte ganz
einfach sprechen müssen. Ich verkaufte bunte Luft-
Ballons und wusste, bald würden sie platzen. Ich
verfasste stromlinienförmige Kreationen. Ich schönte.
Ich begab mich in Abhängigkeiten, indem ich meine
Worte zu Diplomaten ernannte und meine Sätze zu
goldbetreßten Majestäten. Jede meiner Silben trug
ein goldenes Komma im Tornister. Ich schmückte.
Aber man wird doch noch durch die Blume sprechen
dürfen, entschuldigte ich mich, notfalls, ertappt,
mit dem offen zur Schau gestellten guten Gewissen
des Mannes mit dem notorisch schlechten Gewissen.
Aber man kann doch nicht immer gleich mit der
Haustür in die Hütte fallen, deklamierte ich,
aus dem vollen schöpfend, abhebend vom Konto
der Bank für gegenseitige allgemeine Entschuldigungen.
Aber es gab auch Zeiten, da durften wir kein Wort
äußern. Auch ein Flüstern wurde schon bestraft.
Ein angedeutetes Murren kostete ein ganzes Jahr.
In diesen Jahren lernten unsere Blicke töten.
Aber es gab auch Zeiten, in denen wir uns verstanden,
weil wir uns von Tarnung zu Tarnung halfen und
verständigten. Wir Sklaven sprachen wie Sklaven.
Zur Täuschung der Herrschaft. Vorbereitend die Revolte.
In diesen Zeiten waren wir genau und gut und wahrhaftig.
Denn die Sklavensprache derer, die es nicht mehr
sein wollen, signalisiert den Zeitpunkt des Aufstands.
Wie aber wollen wir zueinander sprechen nach dem Sieg?
In welcher Sklavensprache? In welcher Sklaven Sprache?
In welcher Herren Sklaven Sprache?
Erhard Eppler und Günther Nenning mit Gerhard Zwerenz
Zweite Stimme:
Merkel hatte in der Pleiße gebadet wie Old Siegfried im Drachenblut. Das hilft, das macht dir Löwinnenmut. Sie begann locker als Kohls Mädchen und zeigte den Herren sehr schnell, was eine Harke ist. Alle Kabarettisten leben von ihr. Und sie von ihnen. Sie ließ drei Dutzend Atommeiler entstehen und baute sie ab in einer einzigen langen Nacht. Das ist die Freiheit zur Macht. Wenn Merkel Reden hält, flattern mir die Ohren wie die Flügel der Friedenstaube Picassos beim Atomknall. Über Nacht transformierte sich Merkel zur Frau der Tat. Vom Kurs zum Gegen-Kurs – vom Pro-Atom zum Anti-Atom. Von der Physik zur Metaphysik. Die schwarzlackierten Christen-Herzöge ahnten es voraus und gingen beizeiten von der Fahne. Basta-Schröder und sein vergraugrünter Joschka wurden, von Merkel abgeschlagen, Wirtschaftsmillionäre. Politik muss sich lohnen. Hessens Koch und Co. entflohen in angstvoller Vorahnung. Angela, die vorerst (oder immer und ewig?) Unersetzbare verbreitet Furcht und Schrecken im schwarzen Lager. Die auf Führungsebene kopflos geschlagene Volkspartei schwenkt, murrend und wehklagend den ewigen Antiatommarschierern folgend, in den Zug der Zeit ein. Das hat Folgen. Wenn's glückt, steigt Deutschland zur brüderlichen Friedensindustriemacht neben China auf. Wenn nicht, gibt's einen Supergau nach dem anderen. Merkels Kurswechsel enthüllt die Reden ihrer verbliebenen Parteipolitiker als bloßes Plaperlapapp. Auf die Klassischen Christparteien ist kein Verlass mehr wie zu Adenauers Zeiten. Merkel macht Revolution? Sie hat die Macht. Sie kam von drüben über Nacht.
Erste Stimme:
Meine Sünden sind: Manchmal sprach ich
mit geborgten Worten. Ich erbrach meine
Bibliotheksfrüchte. Mit hohlen Worten
predigte ich einen Glauben.
An den ich selbst, weil zu klug, nicht
glaubte. Oder ich glaubte, weil zu
dumm, daran. Oder ich ließ mich einfach
engagieren von den Kirchengöttern.
Es kam vor, dass ich unachtsam sprach.
Oder achtsam, mit sorgsam ausgewählter
List. Weil ich mich nicht schon wieder
erwischen lassen wollte. Warum auch.
Oder ich sprach meinen Vorgesetzten
zum Munde, weil's das Leben leichter
werden lässt. Und voranbringt.
Statt in diese ewiglangen Schwierigkeiten.
Oder ich salbaderte akademisch in der
Runde. Schliff altes Kauderwelsch zu
neuem Kauderwelsch. Ich schluckte
unverdaubare Halbwahrheiten
Und gab sie als mein Leibgericht
aus, bis sie es wurden. Ich
mästete mich an den Stücken,
die die Aasgeier anziehn.
Ja, ich habe oft in Zeitungen
herumgestottert. Die Menge macht
das Honorar. Da werden kleine Sätze
groß und größer. Das sind so Imagefragen.
Ich habe angestanden in der Schlange,
wo' s die Orden gibt, die Ehrenzeichen
und die Preise. Und wenns verlangt
wird, kann ich flüsternd mich verbeugen.
Ich kann auch meine Lippen fest
verschließen. Andeutend, dass ich
schweigen kann, wenn meine Überzeugung
es verlangt. Die teure.
Oder ich schweige aus bequemen Gründen.
Weil's teurer würde, wenn ich spräche.
Weil's noch bequemer ist, von nichts
zu sprechen und zu wissen.
Als Blinder les' ich dann in meiner
Zeitung. Sehe fern. Vorm Radio
hocke ich, die Ohren fest geschlossen.
Herz + Hirn verrammelt.
Mir fehlt es nicht an guten Gründen.
Zu oft schon riss ich's Maul an
falscher Stelle auf. Die Freunde
haben mich im Stich gelassen.
Aufs Volk ist nie Verlass. Es hinkt
stets mit den stärkren Bataillonen
voran und auch zurück in jene
längstvergangnen Lügensprachen.
So wird aus unsereinem bald ein
Pessimist, der schon aus Vorsicht
spricht, als ginge es um Kunst,
wo es ums Leben geht. Um deinen Kopf.
Zweite Stimme:
Unheil drohte im engsten Kreis. Das
Nachwort 59 blieb wochenlang ohne Fortführung. Ingrids PC verwaiste ebenso wie ich. Hier am Taunus-Feldberg galt es einen Pankreaskopftumor zu eliminieren, den der Hausarzt frühzeitig vermutete und der Chirurg in den Bad Homburger Hochtaunuskliniken rigoros wegschnitt, ganz und gar, wie wir hoffen, nun ist die Chemotherapie dran. Während Ingrids Abwesenheit entdeckte ich, Bratkartoffeln brutzeln noch wie früher, wenn auch mit Rapsöl statt mit Butter. Weibliche und männliche Mediziner unten im Krankenhaus wie auch Pfleger und Helfer sind so herzlich-herzhaft als lebten wir in besseren Zeiten. Mein täglicher Patientinnenbesuch unten im Tal führte am Wandbrett vorbei. Darauf stand zu lesen:
Danach wurde er Wirtschaftsminister.
Als ich Ingrid am 14. März zur Tumor-Operation in die Klinik gefahren hatte und ins Haus am Hang zurückkehrte, fand ich das gelassene Schweigen in der Hausbibliothek unpassend. Es gibt neuerdings sprechende Bücher, Hörbücher genannt. Gern hätte ich von unserer heimischen Buch-Volksversammlung erfahren, was ich denen ersatzweise in die Regale schrie: Ein Tumor ist noch kein Tod. Ein Tumor ist besiegbar. Falls aber nicht, ihr verdammten Bücher, kommt ihr alle mit ins Feuer. Und Hiob wendet sich mit Grausen. Im Jahr 1951 erschien von Georg Lukács im ostberliner Aufbau Verlag
Existentialismus oder Marxismus? Sartre, Frankreich, Existentialismus waren en vogue. An dem Band arbeitete ich mich ab wie Theologen an der Bibel. Dabei fing es gut an. Auf Seite 49, vor nunmehr 59 Jahren grün und rot unterstrichen, ist zu lesen: „Ernst Bloch, der bekannte deutsche antifaschistische Schriftsteller, stellte zur Heideggerschen Theorie des Todes, aus der die Jaspersche Privatmoral durch den einfachen Prozess der Verwässerung hervorgeht, folgendes fest: ›Der ewige Tod als Ende macht die jeweilige gesellschaftliche Lage des Menschen so gleichgültig, dass sie auch kapitalistisch bleiben mag. Die Bejahung des Todes als des absoluten Schicksals, als des einzigen Wohin ist für die heutige Gegenrevolution dasselbe, was für die alte der Trost des Jenseits war.‹ “
Erste Stimme:
Er redete, wie ihm der Schnabel gewachsen war.
Er durchlief Akademien und Universitäten und
drückte sich aus wie ein Gebildeter. Mal ganz
scharf, dann mitten durch die Blaue Blume.
Er lernte das Reflektieren, die Assoziation als
Gepäckmarsch mit Gedanken und auch ohne
durch die Welt der Unterbewusstseinsströme. Er konnte
am Ende sogar lateinisch tanzen.
Er lag zwischen den Schlachtfeldern hingegossen,
sang Liebeslieder zur Laute, dichtete, genoss.
Als sie ihn zwangen, erfand er Tötungsmaschinen.
Meister war er geworden auch in Mathe.
Manchmal an den langen kurzen Abenden betrachtete
er sich in wandhohen Spiegeln, suchte sein Bild.
Es verschwamm ihm ins unkenntlich Kenntliche: Der
Mensch ist etwas, das erst noch erfunden werden muss.
Zweite Stimme:
Ein illustrierter Erbe von
Fichtel & Sachs begeht in der Schweiz Selbstmord und bewegt damit das Feuilleton. Die ARD schließt sich hartleibig und unfair an. Jeder redet über sich, nur der Arzt Peter Juhnke über seinen Vater Harald und Tilman Jens über Walter Jens. Beides läuft fast ein wenig ergreifend ab. Harald ist tot, Walter lebt noch. Aber wie. Privilegiert, abwesend, anwesend. Den Sohn erkennend oder nicht. Zog der Künstler-Playboy Sachs per Revolver das bessere Los? Und weiß Tilman nicht, dass sein Papa Walter die Demenz nur spielt? Die Variante Hölderlin / Nietzsche wird gewählt, nicht von oben angeordnet. Es gibt den freiwillig geistigen Selbstmord, der zum Scheintod führt. Der Delinquent fürchtet die Reaktion seiner Jünger und Liebsten und jene Überdosis Wahrheit, die am Ende der universalen Dekonstruktion steht. Von Albert Camus übrigens war während der langen Sendung nicht die Rede. Von Jean Amery auch nicht.
Erste Stimme:
Manchmal mied ich die Anstrengung
des Gedankens. Zog lässig ein
Gefühl mir ein und sah angestrengt
und guten Gewissens weg.
An manchen frischgebackenen
Samstagen leistete ich mir einen
Ritt über den Bogen der Oberfläche.
Tiefergehen, Leute, macht krank.
Auch redete ich mich auf
irgendwelche Pflichten heraus.
Nur um nicht genauer hinsehen
zu müssen.
Oft gingen wir vorsichtig wie
über ganz dünnes Eis. Um nicht
einzubrechen, hielten den Atem wir
an. Und vergingen.
Ich habe für jede Ausflucht eine
dicke Entschuldigung. Zum
Spinnrad biegen sie sich. Ich
spinne kein Lügengarn.
Ich schaffe Gewebe zum Wegsehen.
Gegen den Durchblick. Flaggen
der Tarnung. Engmaschige Netze,
in denen ich mich fange.
Zweite Stimme:
Albert Camus' Plädoyer galt der Freiheit zum selbstbestimmten Ende des eigenen Lebens. Die Freiheit zur Beendigung eines fremdfinanzierten Wohllebens stand nicht zur Debatte. Es ging um die Revolte. Der Playsachs hinterlässt mit dem Schlusspunkt seiner Kulturgymnastik ein Echo beim Publikum, das ihn lebenslang begleitete, um sich darin zu spiegeln. Durch den letzten Schuss und seine Energie fühlt es sich um den Moment eigener Mitleidensbereitschaft betrogen.
Wie Karola berichtet, war Ernst Blochs Sterben in Tübingen von Tränen begleitet. Ich denke an Blochs Worttränen über den Tod der Else Bloch-von Stritzky, der schon 1918 die 1. Ausgabe
Geist der Utopie zugeeignet war und über die es im Suhrkamp-Band 1964 heißt: „Dem immerwährenden Gedenken an Else Bloch-von Stritzky gestorben 2.1.1921“. Die Erschütterung über den Tod der ersten geliebten Ehefrau, im Gedenkbuch zu Wort geworden, ist Teil einer Haltung, die Freund Lukács als Blochs Strategie gegen den Tod entschlüsselte. Blochs Tränen am eigenen Sterbetag gelten der Niederlage. Die Revolution, groß als Utopie entworfen, endet mit dem Leben, weshalb die Religionen das Leben listig ins Jenseits verlängern. Wir Atheisten tolerieren das Ende als alle miteinander verbindende Gerechtigkeit der einen Natur.
Am 28.4.2011 gab es bei
Illner wegen einer britischen Hoheitshochzeit und infolge etwaiger deutscher Sehnsüchte eine Spätabendrunde mit dem Thema:
Braucht auch Deutschland neue Helden? Welch eine Erfindungsrunde unserer Spaßvögel. Ein Hohenzollernurururenkel war dabei und plädierte für die Monarchie. Joachim Gauck wollte keinen Kaiser, benahm sich aber so spießbürgernett, dass er vom ZDF beinahe als Wilhelm III. engagiert worden wäre. Seine Zustimmung zum
Krieg in Afghanistan hatte der Pastor schon früher brav vaterländisch abgesondert, da agiert sichs ganz entspannt.
Als die Talk-Shows noch nicht zum Stammtisch missraten waren –:
Wir wollen zum Berliner Schloss unsern alten Kaiser Wilhelm wieder haben – leistete ich mir, das sei schamlos eingestanden, auch eine dutzendfache Teilhabe als öffentlicher Maulredner. Maulaffen feilhalten heißt das im Volkswitzdeutsch. Ich erinnere mich dankbar an Gespräche mit Erhard Eppler und Günther Nenning – zuletzt setzte ich einen Schlusspunkt mit erigiertem Zeigefinger. Mehr und mehr entfremden Talks heute zu Regierungserklärungen mit beidhändiger Masturbation
Erste Stimme:
Wenn ich etwas weiß,
das ich nicht sage, kann es ein
Geheimnis sein.
Wenn ich etwas weiß,
das ich verberge,
kann es aus List
geschehen.
Wenn ich etwas weiß
und verleugne,
kann es aus List oder
Angst geschehen.
Wenn ich etwas weiß
und geheimhalte, um
leichter zu leben,
lebe ich sklavisch.
Wenn ich als Sklave
den Zeitpunkt der
Revolte verschweige,
tue ich recht.
Wenn ich den Zeitpunkt
der Revolte
nicht verschlafe.
Zweite Stimme:
Die Sache mit dem Tod und seiner Überwindung war mir zugleich lieb und fremd. Da tummeln sich neben den Pastoren noch die Philosophen. Ich war im Krieg ein paar Mal abgekratzt, der Sachse bleibt existenzbedroht nicht eiskalt, aber nüchtern. Als ich Anfang 1952 nach Leipzig fuhr, (
siehe Folge 7 Reise nach dem verlorenen Ich ) diesen Professor gegen Tod und Kapital aufzusuchen, klemmte ich mir den Lukács-Band untern Arm.
Die Sache mit dem Tod nehme ich verflucht ernst. War ihm ein paar Mal von der Schippe gesprungen und wollte nun vom welterfahrenen Philosophen als einfacher Pleißenjunge und
Mann vom Lande hören, was es damit auf sich hatte. Der Tod ist, dies als guter Rat, ganz persönlich zu nehmen. So reagierte ich auf Ingrids unerwartetes Leiden als wär's eine unverdiente Beleidigung, wenn sich der Kerl, nachdem ich ihn hatte x-mal rausschmeißen können, Ingrid aussuchte statt mich als den Älteren.
Erste Stimme:
Als ich gelernt hatte, die Dinge und
Menschen so scharf zu betrachten, dass
sie bald als durchschaut bezeichnet
werden konnten, war ich stolz.
Ich zerlegte Dinge und Menschen in
Einzelteile, Motive, Absichten, Stück
für Stück. Beobachtet, analysiert
und auseinandergenommen. Ein Schlachtfeld.
Spät erst lernte ich das Kreativieren.
Man hatte es mir in der Schule
verboten. Wir waren zu bleichgesichtigen
Anatomen erzogen worden.
Unsere Tätigkeit war Vivisektion.
Wir rechneten mit astronomischen Zahlen.
Wir zerteilten, zersägten, zerschnitten.
Mit Lebenden gingen wir um wie mit Toten.
In den bildenden Künsten ist die
Seele als Form vorhanden. Unsere
Seele heißt Mathematik, Computer,
elektronische Operation: Analyse.
Umgeben von immer mehr und weiter
zerlegbaren Einzelteilen vegetieren
wir dahin vorwärts ins Reich der
Freiheit. Angetrieben von Zwängen.
Unentwegt singe ich das Lied meiner
schönen Irrtümer.
Zweite Stimme:
Bloch war 32 Jahre alt, als er aus dem Kaiserreich in die Schweiz emigrierte. Er zählte 48 Jahre, als er aus dem Hitlerreich zum zweiten Mal in die Schweiz entwich. Ich ging mit 19 Jahren von der Wehrmacht zur Roten Armee und mit 32 Jahren aus der heimatlichen DDR in die fremde BRD. Vier Jahre später folgte Bloch in die letzte Fremde. Beim vielfach verfolgten Philosophen entdeckte ich die Entschlüsselung meiner eigenen Lebens- und Kriegserfahrung. Generation folgt auf Generation. Blochs Hoffnungsdenken aber mündet in einer subversiv-trotzkistischen Philosophie:
Die Mutter der Freiheit heißt Revolution. Dieser Satz und seine Interpretation von 1956/57 ist heute noch nicht wieder in Leipzig angekommen, obwohl es dort eine Karl-Marx-Universität gegeben hat.
Freiheit ist stets Befreiung von Bedrückung. Die primäre Freiheit ist Befreiung vom Zwang zur Sklavensprache. Ihre Aufkündigung erst ermöglicht offene unverstellte Artikulation. Als Kalenderblatt verdeutlicht: Die deutsche Sozialdemokratie verstieß 1914 ihren Karl Marx, zog in den Krieg, sabotierte 1918 ihre eigene Revolution und ermöglichte 1923 die Konterrevolution. Die KPD verfehlte im Gefolge der SU die Weltrevolution, besiegte auf Umwegen Hitlerdeutschland und versagte infolge Stillstand, ergo linkem Konservatismus, ergo linker Sklavensprache.
Neuerdings möchten Sozialdemokraten Mitglieder der changierenden Linkspartei aufnehmen. Wer hat Lust, ein Noske-Genosse zu werden? Die heimatlose Linke braucht keine neuen SPD/KPD-Käfige. So wenden wir uns den Freiheitsfreunden zu, die uns bisher mit Rat und Tat begleiteten. Gehen wir der Reihe nach. Am 27.5.2011 druckte die
junge Welt Wilhelm Liebknechts Text: „Die Pariser Kommune hat das Recht auf Selbstverteidigung“ ab. Fazit: Wilhelm Liebknecht wäre heute längst aus der SPD ausgeschlossen. Am 28./29.5.2011 ebenfalls in der
jW: „Von Ulbricht zu Erhard – Buchrezension: Sahra Wagenkechts neues Plädoyer für eine andere Wirtschaftsordnung“ – Autor Georg Fülberth, Prof. in Pension. Also reaktiviert, ironieschwanger wie nur Rentner sein dürfen, mit dem Knall der Boshaftigkeit zum guten Schluss, denn, nun ja, Genossin Sahras jüngste Einsichten gefallen nicht: „Dass daraus wohl nichts wird, steht auf einem andern Blatt …“ Ich finde Sahra viel schöner. Bereits 1999 erschien im Dingsda Verlag
Die grundsätzliche Differenz – Ein Streitgespräch in Wort und Schrift zwischen Sahra Wagenknecht und Gerhard Zwerenz. Da war Prof. Fülberth noch ein rechtgläubiger KP-Aktivist und Sahra schwankte zwischen Lenin und Stalin herum. In den seither verflossenen 12 Jahren kam sie tüchtig voran. Mehr als einen Schuss Ironie sollte das wert sein, meint der Beobachter aus dem weiten Feld der heimatlosen Linken.
Vergiss die Träume Deiner Jugend nicht
Womit wir bei Barbara Kalender und Jörg Schröder anlangen, von denen soeben in der Reihe
Schröder erzählt der Titel
FUNKLOCH erscheint, knappe 50 explosive Seiten aus dem schrumpfenden Schriftsteller-Reservat der letzten Unbedingten. Wir kommen auf die Texte zurück. Und was hat es auf sich mit unserem Buch im Heiner-Müller-Archiv, über das uns die beiden am 2.7.2010 informierten?
Vergiss die Träume deiner Jugend nicht aus dem Jahre 1989 enthält den Erstdruck der 22 Teile meiner
Sklavensprache-Gedichte, die jetzt die
Bloch-Oper in Kapitel unterteilen. Mit Heiner Müller gibt's dazu einen Briefwechsel, inklusive seines einfältigen Besuchs bei Ernst Jünger und ihrer gemeinsamen Front gegen Wolfgang Harich.
Näheres dazu und über andere Freunde demnächst in dieser Bloch-Oper gegen den Tod. Während wir dies schreiben, findet in Dresden der Evangelische Kirchentag statt. Sicherlich wird dort noch Pastor Schorlemmer auftreten und Schwerter zu Pflugscharen umschmieden
nach dem Motto: S' ist Krieg und keiner geht hin …