Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
Stell dir vor, sagte ich zu meiner Frau, die Stern-Redaktion möchte, dass ich über meine schönste Liebesgeschichte oder mein erstes Liebeserlebnis schreibe.
Und wo ist da der Haken? fragte meine Frau.
Mein schönstes Liebeserlebnis bist natürlich du. Sonst hätten wir ja schließlich nicht geheiratet und es so unendlich lange Zeiten miteinander ausgehalten.
Ich fände es aber ziemlich indiskret, sagte Ingrid. Außerdem kann man eine so lange Ehe nicht gut als ›schönstes Liebeserlebnis‹ ausgeben. Ein Erlebnis, ob mit Liebe oder nicht, ist immer nur kurz.
Stimmt, gab ich zu, über so was kann man höchstens einen Roman schreiben, wo es hurtig auf und ab geht, mit viel Liebe und Kummer und mit Langeweile.
Das wäre dann ein realistischer Eheroman, aber kein Liebeserlebnis, meinte Ingrid.
Wetten, sagte ich, dass die Kollegen trotzdem über die Liebe zu ihren Ehefrauen schreiben werden? Erstens liegt das nahe, zweitens macht es einen guten Eindruck, wenn einer sein schönstes Liebeserlebnis mit seiner eigenen Frau hatte.
Erwartet der STERN denn ›schöne‹ oder ›schönste‹ Liebeserlebnisse?
Im Brief steht ganz exakt, sie wollen mein ›schönstes Liebeserlebnis‹. Schöne Erlebnisse kann es viele geben, aber es kann nur ein einziges schönstes Erlebnis geben. Und da muss ich passen, mir fällt die Wahl zu schwer.
Wenn es nicht dein schönstes Liebeserlebnis sein kann, dann schreib' ihnen deine erste eigene Liebesgeschichte auf, die akzeptieren sie doch genauso.
Zwei Tage lang dachte ich nach; eine schwere Gedächtnisübung, die ohne Erfolg blieb. Meine Frau hielt unbeirrt zu mir: Vielleicht hilft es dir, wenn du mir davon erzählst?
Gut. Ich will's versuchen. Im ersten Schuljahr blieb ich auf dem Schulweg immer an der Eisenbahnüberführung stehen.
Da kam der Schnellzug Berlin-Rom durch, und ich habe mich in die mächtige Schnellzuglokomotive verliebt. Es war eine faszinierende Maschine, ein Wunderwerk moderner Technik, riesengroß, fauchend und schwer unter Dampf. Wenn wir mittags in der Schule das Abc übten, war sie mindestens schon in München.
Die Liebe zu einer Schnellzuglokomotive werden sie dir im STERN kaum abkaufen, fürchte ich, wandte meine kluge Frau ein.
Okay, dann schreib' ich über meinen ersten Wellensittich, er war blau und gelb und hieß Hansi. Eines Tages ...
Menschenskind, Gerhard, die wollen eine Geschichte mit einer Frau oder mit einem Mädchen.
Das steht nicht in ihrem Brief! Ich schwenkte triumphierend den Brief. Ingrid las ihn noch mal Wort für Wort durch. Tatsächlich stand da nur was von der ersten eigenen Liebesgeschichte oder dem schönsten Liebeserlebnis drin. Kein Wort von einer Frau.
Sie meinen es aber so, beharrte Ingrid.
Das können die gar nicht! protestierte ich. Wenn ich zum Beispiel schwul wäre, dann handelte meine erste Liebesgeschichte auch nicht von einer Frau, sondern von einern Mann.
Du bist aber nicht schwul!
Hm. Du magst es wissen, aber die von der Redaktion wissen es schon weniger genau. Darauf Ingrid: Das ist doch sonnenklar: Der STERN will nichts anderes haben als eine richtige Liebesgeschichte zwischen Mann und Frau oder Frau und Mann. Und ich: Dann wären die aber ganz schön repressiv!
Als ich das sagte, sah mich Ingrid derart an, dass klar wurde, unser schönstes Liebeserlebnis fände an diesem Tage nicht statt. Ich ging in mich.
Meine erste eigene Liebesgeschichte mit einer Frau? Eigentlich ist das ja ziemlich einfach, dachte ich, so nette Kinderlieben hat es doch gegeben damals, kleine Anbändeleien mit großem Herzklopfen. Unschuldiges Gerede, flüchtige Berührungen, wie aus Versehen, dann erstes Streicheln. Also darüber ließe sich gewiss ganz unschuldig und unverfänglich schreiben. Jeder hat schließlich mal so klein und arglos angefangen.
Ich erklärte das meiner Frau.
Und wo bleibt der Sex? fragte sie. Mir blieb die Spucke weg.
Sex? Wer verlangt denn so was? Wo steht denn in dem Brief etwas von Sex?
Aber eine moderne Zeitschrift, die eine Liebesgeschichte bestellt, erwartet natürlich auch etwas Sex dabei – oder meinst du etwa nicht?
Wieder dachte ich zwei Tage und Nächte angestrengt nach. Dann erklärte ich resolut: Liebe ja, meinethalben auch Erotik, aber keinen Sex!
Noch in dieser Nacht schrieb ich die Geschichte nieder.
Ob man jemanden wirklich geliebt hat, schrieb ich, weiß man erst, wenn man am Grabe seiner Liebe steht. Die Nachricht vom Tod vieler Menschen erreicht uns, ohne uns zu berühren. Selbst nahe Verwandte, gute Bekannte und liebe Freunde gehen dahin, wir trauern ein wenig oder geben uns den Anschein, innerlich aber bleiben wir kühl. Es ist auch zuviel Fremdheit unter den Menschen. Und immer mehr Feindschaft. Von der Angst nicht zu reden, die den Lebenden ergreift, bis er am Ende auf die Toten neidisch wird. Sie haben alles hinter sich gebracht.
Ja, wir sind Meister in der Technik, von jeder wirklichen Trauer unberührt zu bleiben. Nur wenn eine Liebe im Grabe liegt, ändert sich alles mit einem Schlag. Wir stehen davor, fassungslos nur noch aus Gewohnheit nach Fassung ringend und der Schmerz rast und bohrt, dass wir uns schämen und es nicht zeigen möchten und es endlich doch zeigen müssen. Was gehen uns die anderen an, was soll die Form, die es zu wahren gilt, sie gilt es gar nicht zu wahren, wir haben einen Schlag abbekommen, eine furchtbare Niederlage erlitten.
Die ganz einfachen, geradezu simplen Gefühle wühlen in uns, wir setzen uns mit dummen, trotzigen Fragen zur Wehr: Warum gerade jetzt? Weshalb so früh? Es ist uns dabei immer zu früh. Es hätte doch nicht sein müssen! Warum ausgerechnet er oder sie ... Der Gedanke, diesen lieben Menschen nie mehr, also im ganzen Leben nicht mehr sehen zu können, macht uns rasend vor Verzweiflung. Das bringt nur die Liebe zustande.
Ich war zwölf, als wir am Grab der Frau standen. Es war das erste Begräbnis meines Lebens. Und ausgerechnet sie! Die erste Begegnung mit der Liebe ähnelt der ersten Begegnung mit dem Tode. Bei mir fiel beides zusammen. Es war die Frau, die ich liebte, die da begraben wurde. Hätte man nicht irgendeine dieser vielen anderen Frauen begraben können?
Warum musste ausgerechnet sie sterben? Diese Frau und keine andere irgendwo? Möglichst eine, die ich nicht kannte. Jedenfalls eine, die ich nicht liebte. Aber nein, mich, ausgerechnet mich musste es so voll und hart mitten hinein ins Herz treffen.
Ich habe sie gekannt wie keine Frau später. Wir waren Tag und Nacht zusammen. Weder sie noch ich verließen das Haus.
Wenn aber doch, so nur für kurze Zeit. Jeder kehrte bald zurück zum anderen. Sie sorgte für mich. Stand frühmorgens, wenn es noch dunkel und kalt war in der Wohnung, auf und machte Feuer an im eisernen Ofen. Wenn ich mich aus dem Bett rappelte, stand das Frühstück fertig auf dem Tisch.
Mittags kochte sie für mich die erlesensten Speisen. Sie war eine ausgezeichnete Köchin, und sie aß selbst gern und gut, denn sie hatte schwere Zeiten durchstehen müssen mit Krieg und Hungersnöten. Da hatte sie gelernt, worauf es ankam.
Eine warme Stube, ein warmes Bett, ein Wohlsein bei Speis und Trank. Zank kannten wir nicht. Streit und Hass zwischen uns gab es nicht. Neid, Eifersucht, Häme, Missgunst und was es sonst an normalen Dummheiten und Bösartigkeiten gibt im Leben, sie blieben ausgeschlossen.
Sie war eine große, leibstarke Frau. Energisch, wenn es galt, sich durchzusetzen oder mich zu verteidigen. Liebevoll, wenn wir allein waren. Ich ging meist zuerst ins Bett. Sie kam später nach. Ich lag mit dem Gesicht zur Wand und dem Rücken zu ihr. Sie schmiegte sich an meinen Rücken. Ihre Vorderseite war warm und weich, sie hatte mächtige Brüste, gegen die ich meinen Rücken lehnte. Wir schliefen sechs Jahre miteinander im seIben Bett.
Als ich mit meiner Geschichte so weit gekommen war, trat meine Frau ins Zimmer, blickte mir über die Schulter auf die Schreibmaschine und sagte: Bist du verrückt?
Wieso verrückt?
Erst willst du über eine Schnellzuglokomotive schreiben, dann über einen Wellensittich, und jetzt schreibst du über deine Großmutter?
Zwischen uns beiden kommt es heute sowieso nicht mehr zu unserer schönsten Liebesgeschichte, sagte ich, also lasse ich mich nicht davon abbringen, meine erste wirkliche große Liebesgeschichte niederzuschreiben.
Ingrid verließ das Zimmer.
Ich tippte weiter.
Es gibt Elternkinder und Großelternkinder, je nachdem, wo man aufwächst. Ich lebte die ersten sechs Jahre bei meinen Großeltern mütterlicherseits. Meine Mutter weinte, wenn sie mich zum Wochenende abholte und mitnahm in die elterliche Wohnung. Meine Eltern waren jung und arm und hatten schwer zu arbeiten die ganze Woche über, so mussten sie mich zu den Großeltern geben. Meine Großmutter nannte ich Mutter.
Meine wirkliche Mutter nahm mich am Samstag beiseite und sprach beschwörend auf mich ein: Ich bin deine Mutter! Das konnte ich nicht glauben. Sie war mir eine fremde Frau. Ich nannte sie Mama. Aber was war das schon gegen Mutter. Nichts war das, verglichen mit der Frau, bei der ich die ganze Woche Tag und Nacht lebte, mit der ich wachte und schlief, sprach und schwieg, spielte, spazieren ging, von der ich die wunderbarsten alten Geschichten aus dem Land erzählt bekam, aus dem sie herstammte, aus Bayern.
Sie war die Tochter einer Leichenfrau gewesen. Sowas gab's damals in jedem Ort, eine Frau, die die Leichen wusch und herrichtete. Ich hörte davon und von Blitzschlägen, den Arbeiten zur Hopfenernte, den Wallfahrten nach Vierzehnheiligen. Von Bauern, Mägden und Kühen erzählte die Frau, vom Krieg, der zurücklag und in dem man immer nur Hunger litt und die Männer draußen im Feld totgeschossen wurden.
Der Mann meiner Mutter-Großmutter war nicht totgeschossen worden, er lebte auch mit bei uns, und ich mochte ihn sehr, denn er war ein guter Mann mit Zauberhänden, der aus Holz Figuren zu schnitzen verstand und Burgen bastelte und kleine Pferdewagen zum Spielen. Ich mochte diesen Großvater, seine Frau aber war nicht wirklich seine Frau, sondern meine, sie war auch nicht meine Großmutter, sondern eben meine Mutter, und als Mutter war sie zugleich meine Frau und meine erste große Liebe.
Als sie starb, wurde alles ganz anders. Ich war zwölf und kam in die Pubertät mit all diesem unvermeidlichen Kram wie den Mädchen nachlaufen und heimliche Küsse tauschen und den Mädchen an die Brust fassen und darüber Erfahrungen austauschen, welche hat eine größere und welche eine kleinere. Seltsame Dinge gingen vor, wo man gar nicht Bescheid wusste, man musste es eben probieren.
Es gab Liebeleien und Verliebtheiten. Aber es gab wieder einen großen Krieg mit vielen Toten und Hunger und Elend wie noch nie oder wie schon immer.
Als ich aus dem Krieg heimkehrte, war ich fünfundzwanzig Jahre alt. An wie vielen Gräbern ich gestanden habe, weiß ich nicht. Der Tod jener Frau, die ich Mutter genannt hatte, lag mehr als ein Jahrzehnt zurück, als ich ihr Grab wieder aufsuchte.
Und die Jahre kamen mir vor wie ein Tag. Von heute an, so dachte ich, bist du frei, auch für die Liebe. Wenigstens bis zum nächsten Krieg.
Soweit meine schönste Liebesgeschichte, die am 13. Mai 1982 im STERN stand. In der Woche darauf schrieb Helmut Heißenbüttel über sein schönstes Liebeserlebnis unter dem Titel: 1941 im Feldlazarett. Daran sieht man, wir waren und sind, soweit überlebend, eine dahinschmelzende Kriegsgeneration, sogar in der Liebe vom Tod geprägt.
Als ich achtzehn Jahre zählte, es war Anfang 1944, steckte ich in den Bergen südlich von Gaeta in einem engen Schützenloch. Seitwärts von uns fuhren zwei Panzer auf, die unsere Stellung Stück für Stück erledigten. Der Unteroffizier befahl Rückzug. Ich hakte ihm das Sturmgepäck auf dem Buckel ein und bat ihn um die gleiche Hilfe. Jetzt ist keine Zeit! schrie er und kletterte aus dem Loch. Ich stolperte hinterdrein. Mein Gerümpel auf dem Rücken pendelte, der Karabinerhaken war in der Eile nicht richtig eingerastet. Wirf den verdammten Dreck weg! dachte ich, aber auch: Behalte das Zeug! So hetzte ich atemlos den anderen nach. Wenige Schritte vor der Waldgrenze kriegte ich zwei Schläge in den Rücken und flog zwischen Bäume und Büsche. Neben mir der Unteroffizier auf dem Bauche liegend. Das Sturmgepäck auf seinem Rücken war zerfetzt wie der Rücken darunter. Ein Matsch von Rippen, Blut und Lungenhaschee. In der neuen Stellung angelangt, fand ich in meinem Sturmgepäck zwei kleine Granatsplitter. Die größeren hatten den anderen erwischt. Wer gesteht sich schon ein, dass er sich tief im Inneren des anderen Tod gewünscht hat? Ein disziplinierter Soldat denkt sowas nicht. Meine Disziplin begann Schaden zu nehmen. Indem ich mir das eingestand, verschwand sie in den Orkus, woher sie kam und wohin sie gehört. Ein Sachse wird nur aus Versehen Soldat.
Ich bin einer der letzten Überlebenden der Un-Zeit und Un-Welt. Umgeben von Nachgeborenen, die kaum etwas begreifen und immer begriffsloser werden. Ich erlebe sie als sanfte, schöne Kinder und frage Jahrzehnte später ihrer verlorengegangenen Unschuld nach. Als großgewachsene Unerwachsene blicken sie ungnädig auf unsereinen herunter und mäkeln: Der lebt ja noch! Ich schicke dann mein Pseudonym vor, das sie mit zeitgemäßen Witzen unterhält. Oder ich bitte die Frau um ein paar passende Worte. Notfalls spielt mein Chow Billy mit ihnen, falls sie nicht nach Alkohol riechen, was er genausowenig wie menschliche Dummheit und Herzensträgheit ausstehen kann, die seine Tierseele beleidigen.
Nicht leicht zu ertragen ist das Besichtigen alter Fotoalben. Mit allen Vor- und Nachteilen antiker Technik behaftet, blicken dich vergangene Gesichter an. Aus stupiden Fischaugen die Herren Väter, in jungen Jahren uniformiert und behelmt für irgendwelche vaterländischen Kriege oder bereit dazu vor Kasernentoren, in Eisenbahnwaggons, meist Viehwagen, Fotos mit historischer Transparenz.
Umgeblättert ins harte Frauenleben. Die Bilder blieben in mir haften. Vor einem Dreivierteljahrhundert, ich war im Vorschulalter, sah man an Fluss-, Bach- und Teich-Ufern befestigte Podeste. Frauen knieten dort, seiften und schrubbten Bettbezüge, Unterzeug, Tischtücher. In umfänglicheren Siedlungen gab es dann Häuser, wo Frauen sich zur »großen Wäsche« anmeldeten, bis der Siegeszug von Waschmaschinen die Mühen und Lasten der Handwäsche erübrigte. Ich sehe in den auf Brettern Knienden das Gegenbild betender Frauen. Sich aufzurichten war der Wunsch ganzer Frauen-Generationen und es wurde ihnen schwer genug gemacht.
Wäsche säubern in Bach, Teich, Fluss. Zum Bleichen auf die Wiese, zum Trocknen auf die Leine, in den Hof, Garten, auf den Spitzboden. Wäsche sortieren, mangeln, bügeln. Männer ertragen, Kinder kriegen. Sechs bis zwölf Schwangerschaften, die Hälfte dann Frühgeburten, Totgeburten. Säuglingstod, Frauentod im Kindsbett. Mann in der Kneipe, in der Kaserne. In den Krieg. Das Kreuz mit den Namen und Daten. Getötet wann und wo.
Als Fünfjähriger ging ich an der Hand meiner Großmutter durch den Ort. Mit dem Finger wies sie auf einzelne Häuser, die Namen von »Gefallenen« nennend, da hatte eine Frau ihren Mann, dort ihren Sohn verloren. Warum standen die Männer nicht wieder auf, wenn sie gefallen waren, fragte ich und erfuhr, »gefallen« bedeutete im Krieg getötet worden zu sein.
Diese Frauen und Mütter wussten mehr als wir wissen durften. Ich nahm mir vor, nie zu den Gefallenen zu gehören. Und wenn, stünde ich wieder auf.
Am Montag, den 7. Januar 2008, erscheint das nächste Kapitel.