Dies hier war Deutschland Am 14.9.2010 präsentierte sich in Menschen bei Maischberger am späten Abend eine vollmundige Runde. Peter Michael Diestel, letzter DDR-Innenminister (Ost), CDU-Revolutionär und heute gestandener Rechtsanwalt im Dauerclinch mit dem listigerweise neben ihm plazierten Hubertus Knabe, ein Stasigedenkstättendirektor, und Gauckscher Zwilling, der statt Hirn eine Knebelkette im Kopf trägt, die er gravitätisch entnahm, feierlich auf den Tisch legte und der DDR die Erfindung von Folter, Dunkelhaft und sämtlichen anderen Martern zuschob. Wir dürfen sicher sein, Hubertus wird nach dem 3. Weltkrieg unbeschädigt seinen Beamtenbunker verlassen und der Stasi die Schuld am globalen Untergang zuteilen. Mit im Gesprächskreis General a.D., Ministerpräsidentenstellvertreter a.D. in Brandenburg Jörg Schönbohm, der dreieinhalb Mal vor Wut explodierte, weil ein Gottseibeiuns, also zum Teufel mit ihm, der Linkenpolitiker Klaus Lederer zugeschaltet wurde und dem General unehrerbietig verriet, dass er trotz all seiner christlichen Ritterrüstungen nichts mehr zu bestimmen habe, abgewählt ist und draußen steht. Platzeck gab den Platzverweis. Als Heinrich Graf Einsiedel und ich, für die PDS im Verteidigungs-Ausschuss des Bonner Bundestages sitzend, den jeweils nächsten Feldzug noch zu verhindern suchten, wuselten die Bundeswehr-Generäle gern um unsere Stühle herum, sodass wir nicht rankamen, bis ich den eifrigen Schönbohm militärisch diszipliniert anherrschte: Platz, Herr General! Die Uniformierten können noch gehorchen, wenn man ihnen richtig Bescheid sagt. Falls aber nicht, ergreifen sie sofort das Kommando. Krieg ist ihre Klassen-Natur.
Der in unserem Arbeiterviertel übel beleumdete Polizist, bullig, stets in Lederjacken-Montur, nahm auf dem Heimweg von der Polizeiwache oft eine Abkürzung durch die „Hohle“, ein unbebautes Stück mit Feld, Wiese, Bäumen und einem Steinbruch. Ich war auf den höchsten Ast einer Eiche geklettert und schmetterte aus voller Herzenslust das Westerwald-Lied. Den sich nähernden Wachtmeister erkennend, sang ich um so lauter. Er blieb stehen, brüllte: Halt die Schnauze, komm sofort runter oder ich hol dich … Ich verstummte, kletterte hinab und lief weg. Wie alt war ich – acht oder neun Jahre? Ich überlebte weitab, als die Russen einmarschierten. Das überstand der Polizist nicht, wie ich später hörte und als ich es hörte, dachte ich: du holst mich nicht mehr runter vom Baum. Das kleinliche Rachegefühl war mir eine halbe Seligkeit wert, obwohl ich nicht religiös bin. Nachdem ich in Krieg und Gefangenschaft dem Tod einige Male mit Glück und viel Schwein gehabt von der Schippe gesprungen war, verfiel ich auf die verrückte Idee, mein Leben mit Büchern zu vervielfältigen, wozu ich mir aus wirtschaftlichen Gründen noch ein paar Pseudonyme als Mitarbeiter ausdachte. So ernannte ich mich zur multiplen Person und stellte erstaunt fest, das war ich schon von Geburt an. Dazu ließ ich mir noch einige Novitäten einfallen, die von den Doktoren der Psychopsychiatrie bis dahin nicht entdeckt worden waren. Kurzum, ich brauchte für meine Absichten eine so revolutionäre wie kreuzfidele Poetik, da kam mir der Leipziger Philosoph mit seiner Trotz- und Hoffnungs-Idee gerade recht, fühlte ich mich doch seit dem Krieg und meinem individuellen Entschluss, die Knarre ein für allemal wegzuwerfen, sowieso als der geteilte Deutsche, der sich mit der Desertion selber abgeteilt hatte und sich auf Kommando auf keinen Fall weiterteilen lässt. Als Christa Wolfs Der geteilte Himmel erschien, war für mich längst die Erde geteilt. Am 16.9.2010 donnerstagüblich Maybrit Illner mit ihrer Runde. Erika Steinbach darf mit einer Jereminade eröffnen, die von Frau Höhn sowie den Herren Geißler und Markwort entschieden kritisiert und zurückgewiesen wird, bis gegen Ende des Polittalks die Diskussion in die gewohnte Schwafelei mündete. Ihr Jesulein bleibt ein Gutmensch.
Leicht gekürzt zitiere ich hier aus dem 5. Nachwort unserer Sachsen-Serie: Deutsche Teilung – Lyrik – Lesebuch aus Ost und West, so lautete der Titel eines Buches, 1966 im Limes Verlag herausgegeben von Kurt Morawietz , Nachwort Reimar Lenz. Darin aus meiner Leipziger Phase ein Auszug aus Unablässig und einsam, hier die letzten 12 Zeilen. Du willst nach Eger? Die zwölf Zeilen wurden nachgedruckt von regionalen Zeitungen wie Nürnberger Nachrichten bis zur damaligen radikaloppositionellen Anderen Zeitung, die von einem „Poem und … erschütterndsten und wahrhaftigsten Gedicht“ sprach. Warum? Die 3 Strophen sind seither vergessen gemacht worden. Was ist mit einer Lyrik, die vom Herzschmerz kommend auch noch den Umweg über den nicht schmerzlosen Verstand nimmt? Das kleine Poem widme ich ganz unvergessen Erika Steinbach, die mit ihrem Vater, dem Besatzungssoldaten aus Polen vertrieben wurde. Nehmen Sie's als Trost, Frau Vertriebenen-Präsidentin. Was ist ein Gedicht? Ein vorrevolutionärer Zustand? Was ist ein Gedicht? Der Daumenabdruck einer fragilen Befindlichkeit. Dechiffriert es deine tragische Konfliktsituation oder deine lachhaften egozentrischen Eitelkeiten. Hinter die Tür geblickt. Am Türsteher vorbei. Oder davor gehorsam verreckt wie der Mann vom Lande in Kafkas Tür-Parabel. Die zwölf Zeilen tragen ihre letzte Zeile als Titel wie eine Fahne voran. DIES HIER WAR DEUTSCHLAND. Was ist ein Gedicht? Den drei Strophen fehlt das lyrische Ich. Sie sind ein Tatbestand. Lakonie als Bekenntnis. Kein Wort zu wenig und keins zuviel. Den Schmerz der Vertriebenen nutzte die Bonner Republik zur Forderung nach Grenzkorrekturen. Gegen Willy Brandts Unterzeichnung der Ostverträge liefen sie Sturm. Die Präsidentin der Vertriebenen scheut den Blick darauf. Deutschland dreigeteilt niemals? DIES HIER WAR DEUTSCHLAND: 65 Jahre nach 1945 ist jedes einzelne Wort, das über die 48 Worte in 12 Zeilen hinausgeht, ein Wort zuviel und eine ehrenhafte Selbsterkenntnis zuwenig. Der Deutschen Teilung ist überwunden? Der Rest wird auch noch gesunden? An jedem Montagmorgen setz' ich der Frau Janus eine Laus in den Pelz. Sie kratzt sich am Anus und mir gefällts. Das ist ein sanfter Witz. Kein Witz ist, was ich in der Debatte zur Sache am 29. Mai 1998 im Bonner Bundestag sagte: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach den toleranten, verständnisvollen Worten von FDP-Seite fällt es nicht besonders schwer, die Linie der Toleranz und Liberalität fortzusetzen. Betrachten wir rückwirkend die Debatte über die Situation und Stellung der Vertriebenen in der Bundesrepublik Deutschland, so darf und kann ich mir nicht ersparen, mit einer Kritik an der Linken zu beginnen. Aufgeschreckt durch die Tatsache, dass vielerlei Vertriebenenverbände sehr oft revanchistische Gebietsforderungen aufstellten, ist es insgesamt gesehen der Linken nur unzulänglich gelungen, zwischen der Kritik an diesen chauvinistischen Forderungen und dem schweren tragischen Schicksal der Vertriebenen insgesamt zu unterscheiden. (Beifall bei der PDS und dem Bündnis 90/Die Grünen sowie bei Abgeordneten der SPD) Die Antwort von Frau Steinbach lautete: Herr Zwerenz, was die DDR und die Leistungen für Vertriebene anbelangt: Es hat in der DDR keine Leistungen für Vertriebene gegeben. Die Vertriebenen durften sich nicht einmal zusammenschließen, ihr Schicksal miteinander bereden. Sie wurden schlicht und einfach als nicht existent betrachtet. Aber heute wollen Sie uns hier vorschreiben, wie wir mit dem Thema umzugehen haben. Sie haben überhaupt kein Anrecht darauf. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP. – Joseph Fischer, Frankfurt Bündnis 90/Die Grünen: Ei der Daus!) Auf mein freundliches Angebot ging Frau Steinbach gar nicht ein. Konterte mit Polemik gegen eine DDR, die ich vier Jahrzehnte früher hatte verlassen müssen, abgesehen davon, dass sie die in der DDR wohnenden Vertriebenen einfach für ihre Ansprüche usurpierte. Meine Erwiderung ist abgedruckt in Ossietzky vom 13. Juni 1998. In den folgenden Jahren beschirmten CDU/CSU samt FAZ noch immer ihre stellvertretende Ostvertriebene Erika:„Vertriebene sprechen Polen EU-Reife ab … Polens Parlament kritisiert Entschließung des Bundestages … Union erhöht den Druck auf FDP …“ dröhnte es gestern und dröhnt es heute aus der kohlschwarzen Frankfurter Lokalredaktion. Nietzsche: „Die Menschen erbrechen ihre Galle und nennen es Zeitung.„ Das Jahr 2010 ist wiederum ein Steinbach-Jahr geworden. Nach Gauck und Sarrazin kündigt sie soeben als Dritte im Bunde ein Buch an. Dabei zielte Nietzsche mit seinem Apercu nur auf Zeitungen als gallige Endprodukte. Die Dreier-Delegation der Stalingrad-Gefallenen trödelt noch immer im Land herum. Da ich bekanntlich Auerbachs Keller seit und mit Goethe, Nietzsche und Kafka für die Urzelle deutscher Zauberei alias Kulturgeschichte halte, nahm ich die drei Kameraden mit an die historische Stätte. Goethe? brummte der verhungerte Hans, haben wir in der Schule durchgenommen. Sarrazin souffliert ihm: Über allen Gipfeln ist Ruh'. Nietzsche? lacht der erschossene Heinz, trug ich im Brotbeutel herum, ein Buch von dem, das hieß so ähnlich wie Zarah Leander. Kafka? fragt der Exekutionsfeldwebel Michel, klingt fast wie Kaffee – kann ich einen haben? Ehrlich gesagt, die wiederauferstandenen Toten gehen mir so langsam auf den Keks. Soll ich die Wiedergänger wirklich reinlassen? erkundigte sich Kafka vor der Tür. Ist Nachwuchs für die Bundeswehr, gab ich ihm Bescheid. Als ich in Leipzig vor einem Halbjahrhundert meinen Vertriebenen-Text auf 12 Zeilen mit 48 Worten kürzte, bis kein einziges Wort mehr zu streichen und keins anzufügen blieb, war der Begriff der Dekonstruktion unbekannt. Als die Version 1966 in dem Band Deutsche Teilung – Lyrik – Lesebuch aus Ost und West erschien, sah ich darin eine Aufforderung zum eingreifenden Denken. Die exemplarische Dekonstruktion ging mir erst später wegen Heidegger und dessen Nachwirkungen auf. Tatsächlich bringt der kurze Text die Universalie „Vertreibung“ als deutsche Mischung von historischer Tragödie und epischer Politposse infolge Partei-Ideologie durch Verknappung auf den Punkt. Der Schock, den die Lektüre beim Betroffenen auslösen kann, führt zum Fluchtreflex, weshalb die wenigen Zeilen bis 1966 weite Verbreitung fanden, bald danach aber verübelt, gemieden und vergessen gemacht wurden. Die Politik braucht Gefühle und falsche Gefühle mehr als echte. Die semantische Dekonstruktion wirkt als chirurgischer Eingriff. Verlangt wird jedoch Homöopathie. Wer den deutsch-polnischen Konflikt, durch Steinbach immer wieder angeheizt, in Leserbriefen und Artikeln nachliest, staunt über eine Aggressivität, die der Feuerwehr bedürfte. Die lapidare Feststellung deutscher Kriegsschuld provoziert pünktlich den Einwurf, Deutsche seien nicht nur Täter, sondern auch Opfer, und wo dieser Einwurf kollektiv wird, beginnt der nächste Krieg. Das zählt zur deutschen Geschichte von 1918 bis 1945. Meine Erfahrung ist: Brechts Kürzest-Gedicht über das große Karthago, das drei Kriege führte, bis es unauffindbar wurde, ist unseren irrationalen Nationalen Hekuba. Meine Erfahrung ist: Sarkastische Lakonie ist eine lyrische Kunstform des Exils. Aber Undank ist der Welten Lohn. Meine Erfahrung ist: Die Mutter der Freiheit heißt Revolution. Der Satz paraphrasiert das philosophische Prinzip der Dekonstruktion plus. Soeben lese ich in den Werbeseiten Metropolregion Rhein-Neckar die Aufforderung „Tanz die Revolution!“ Mag sein, sie will getanzt werden. Als Totentanz ins Chaos. Bei Brecht heißt das Kleinbürgerbluthochzeit. In unserem Nachwort 38 ist zu lesen: „Vor die Frage gestellt, ob Friedrich Nietzsche, Martin Heidegger, Ernst Jünger oder Carl Schmitt in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am häufigsten genannt werden, sehe ich mich etwas ratlos angesichts der rechtsnationalen Traditionslinie.“ Die Antwort des Blattes folgte schnell, und tapfer geilt die Kompanie der Nachfolgedichter sich an ihrem Pour le Meritterknecht auf, sein zerschossener Heldenkampfhelm ist ihr Zuhause. „Die Infamie wird zelebriert wie eine Messe, weil sich in ihr im tiefsten Grunde das Mysterium der Pöbelmacht verbirgt,“ (Strahlungen I Ernst Jünger) Mir fällt eine Geschichte ein. Gefangene. Wächter. Ein Fluchtversuch. Wer flüchtet vor wem? Egal. „Wer seinem Herrn entläuft, gibt ihm das Recht, ihn einzufangen und zu ermorden: Der Mord am wiedergefangenen Entlaufenen ist straffrei, denn er heiligt das Recht. Dle jungen Soldaten mit den rotwangigen Unschuldsgesichtern schlugen uns nieder, als die Distanz zwischen ihnen und uns auf Armlänge geschrumpft war, und brachten die Beute ins Lager ein. Wer es wagt, die Herrschaft zu beleidigen, wer sich ungebührlich abwendet von ihr und die Regeln des menschlichen Anstands verletzt, erhält die geziemende Antwort mit Fäusten, Gewehrkolben, Bajonetten. Alle acht Stunden löste die Lagerwache sich ab; jeder Wachmannschaft stand das Recht zu, sich einmal für die Beleidigungen schadlos zu halten. Man einigte sich darauf, gleich zu Anfang anzutreten. Hatte der neue Wachhabende dem alten die Papiere übergeben, waren die Zweierstreifen aufgezogen, erschien schon der Dreiertrupp und führte uns ins Freie zur Wasserpumpe. Am Pumpschwengel stand ein kräftiger Soldat mit nacktem Oberkörper bereit, ein halbes Dutzend anderer eilte uns auf halbem Wege lachend entgegen. In den offenen ehrlichen Gesichtern der jungen Männer feierte die Mordlust Triumphe, und unser Blut leuchtete ihnen voran, doch war ihnen strengstens untersagt zu schießen oder tief zuzustechen. Mit bloßen Fäusten und Kolben hatten sie die ihnen zugefügte Schmach zu rächen, die Fahne Rot verhüllte unseren Blick, es sprudelte aus Kopfschwarte, Stirnhaut, Nase, Mund und Ohren, das Prasseln und dumpfe Aufprallen klang wie ferne Kanonenschüsse, wir fielen und fielen, und wischte ein mitleidiger Schlag das Blut vom Auge, erkannte ich den kräftigen Bauernburschen, der am Brunnenschwengel emsig sich abmühte; dann schmetterte es die beiden Körper, wer wusste, welcher Leib wem gehörte und welcher Schmerz welchem Leib zuzuzählen sein mochte, in die eisige Kälte des Wasserstrahls, der armdick dem Rohr entsprang, den blutenden Fleischpartien kenntliche Formen zurückgebend; wie weiß und blass die Haut aufscheint, spült Wasser die Sprudelbäche Blut fort. Eiswasser aus der Tiefe der Erde geholt und mit frischen Platzwunden vereinigt, nie war der Wille zu überleben so frisch und deutlich, Wasser salzt das Leben auf. Unterm Pumpenstrahl liegend, auf dem Rücken, wenn es endlich gelang, die Augen zu öffnen und unter den von Schlägen aufgeschwollenen Wülsten hervorzublicken, sah man die Runde beleidigter, geschmähter, im tiefsten Innern verletzter Soldaten; schweigend umstanden sie einen, und ihre Stiefel dampften, ihre Fäuste glänzten im Sonnenlicht. Unser Blut zierte ihre Knöchel, die Spitzen ihrer Stiefel und Absätze, das siegreiche, glatte, kalte Holz der Gewehrkolben. Jetzt, da die Soldaten befriedigt einhielten, lag ein Ausdruck sonnigen Glücks über den erschöpften, unschuldigen Gesichtern, die Kameradschaftlichkeit der beleidigten Folterer mit den gestraften Beleidigern war es, die ihnen einzuhalten gebot. Unterm kühlen Pumpenstrahl ruhend, zum bewussten Leben zurückgebracht, erhielten wir das Geschenk achtstündiger Lebensverlängerung, bis die nächste Wache bereitstand, ihr Mütchen zu kühlen und ihren getarnten Seelen den tiefen Frieden der Rache zu schenken.“ (Kopf und Bauch) Jorges Luis Borges über E J: „Ein Zug von strenger Logik: Jüngers kriegerische Mystik schließt den Hass, nicht aber die Grausamkeit aus. Wie kann denn auch der Soldat seinen notwendigen Feind hassen?“ Im vorstehenden Text vom eingefangenen Entflohenen, der brutal bestraft wird, fehlt jeder Hass. Ich widme die Geschichte im Nachhinein Ernst Jüngers soldatischen Qualitäten des Sadomasochismus. „›Wussten Sie?‹ fragt Michael Klett, ›dass, wenn etwa Schlimmes geschah, als seine Frau starb, als sich sein Sohn erschoss, dass da sein Hemd am linken Arm immer völlig blutig war?‹ ›Wieso das denn?‹ ›Er trug stets eine Nadel unter dem Revers. Und wenn eine Schmerzwallung in ihm hochkam, hat er sich diese Nadel in den Unterarm gestochen, durch das Jackett hindurch, um sich vom psychischen Schmerz durch einen physischen abzulenken.‹“(Er war nicht kalt, nur gepanzert – Ein Gespräch von Thomas Hettche mit dem Verleger Michael Klett über seinen Autor Ernst Jünger – FAS 19.9.2010) Die Selbstpeinigung gedieh inzwischen zum Volkssport, Mädchen und junge Frauen ritzen und schneiden sich in Arm und Bein, um Stress und seelischen Kummer zu bewältigen. Jünger, der Pionier, wurde ihr Klassiker. In der FAS vom 19.9.2010: „Die Stimmung war fidel … Aus den Kriegstagebüchern von Ernst Jünger … Abends sehr lange im Kasino … In einer Mischung von Gefühlen hervorgerufen durch Aufregung, Blutdurst, Wut und Alkoholgenuss gingen wir im Schritt auf die feindlichen Linien los …“ Leutnant Jünger in der Schlacht, die erstmals gedruckten Kriegstagebücher als Stilproben typischer Landserhefte, aus denen der heimgekehrte Landsknecht, der sich als Künstler entdeckt, die große deutsche Kriegskunstprosa entwickeln wird, denn: „Die Sprache ist noch vielfach zu trocken …“ Keine Angst, die FAZ verflüssigt die Sprache zum Kunsthonig, was dort im Feuilleton als „Gesteigerte Poesie“ firmiert. Als Jünger zu Weimars und Hitlers Zeiten Auflage machte, nahm ihn sich Kurt Tucholsky vor. Daran dachte ich, als ich 1968, drei Jahrzehnte nach Tucholskys Suizid in Horst Bingels steiler Streit-Zeit-Schrift unter dem Titel Ernst Jüngers Überlebenskunst schrieb: „1. Die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde beherrscht von einem Idol: dem Führer. Er trat auf als gottgewollt und Sendbote irgendeiner Vorsehung, zu ihm zählte notwendig das Volk, die Masse, die Summe der Untertanen. Ernst Jünger war es, der, weil diese Ordnungen rational nicht zu vertreten waren, ihre Mythe schuf: den in tausend Gefechten und Grabenkämpfen, den in erbitterten, blutigen Nahkämpfen gehärteten und seiner inneren Substanz nach unverwundbaren Stoßtruppführer .Ein Führer auch er, aller rationalen Bezüge enthoben und zur Fabelgestalt verdichtet. Dieses Idol im Herzen, wuchsen nachfolgende Generationen zu Grabenkämpfern heran. Sie sahen den Jüngerschen Helden ab, dass man zu kämpfen, nicht aber zu denken, nicht zu zweifeln, zu fragen habe. Ob Ernst Jünger ein Nazi war, steht für mich nicht zur Debatte. Aber seine Grabenkämpfer-Mythologie war eine Fahne des absoluten Gehorsams und inneren Befehls. Seine Bücher trieben Legionen junger Menschen in Kampf und Opfertod. 2. Hitler mochte Ernst Jünger und schützte ihn. Jünger mochte Hitler weniger, aber er ließ zu, dass Hitler ihn mochte und schützte. Und er war, bei aller Distanz, fasziniert von diesem Führer. Dagegen blieben die Marmorklippen und die Friedensschrift nur episodisch. Die Kampfmythe der Stahlgewitter im Herzen, kämpften junge Deutsche in Hitlers Stahlgewittern. Ernst Jünger war ein großer, geistiger Mobilisator für Hitlers Armeen. Diesen Führer nebenhin ›Kniebolo‹ zu nennen, wiegt hiergegen soviel wie ein Mistkäfer. 3. Ernst Jüngers Irrtum entstammt seinem Konservatismus. Seine Kriegshelden, für Dinge kämpfend, die vernünftigerweise nicht mehr vertretbar wären, verzichten auf Vernunft und Logik und erheben den Kampf selbst zur letzten Größe. Seine Stoßtruppführer werden somit zu Landsknechten, wenn auch mit dem Luxus innerer Herrenmoral. Seine Helden sind gehorsam. Sie fragen nicht nur nicht wem, sie wissen auch nicht mehr zu fragen. Ernst Jüngers Frontkämpfer sind Einzelkämpfer, doch beschränkt sich ihre Vereinzelung auf den Kampf selbst. Sonst sind sie typische Massenmenschen: aufbietbar, folgsam, manipuliert mithin und also nichts weniger als individuell. Gehorsamkeitstiere.“ Heute würde man dem jungen Leutnant Jünger glatt eine PTBS attestieren, vom posttraumatischen Belastungssyndrom seiner feuilletonisierenden Nachfolge- Die Schreibstuben-Stoßtruppführer kämpfen an ihren PC's inzwischen für den totalen Weltreligionskrieg weiter. Vom Kameraden Schnapphahn übern Schnapshahn zum Spritsäufer Tornado = 80.000 € die Flugstunde. Das Wählervolk zahlt jeden Blutpreis. Der Krieg als Landserslust und Herrenwitz. Der Refrain ein Loblied auf die Schlachtbank. Söldner ziehen in jeden Krieg, in dem der Feind die Toten zu liefern hat. In Stahlgewittern kommandieren Generäle mit Schädelknochenerweichung: „War es Blut oder Wein?“ (E J) Der Krieg als Ehrenmord. Die Jünger Jüngers halten die Front bis zum jüngsten Tag. Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht? Pazifisten, Revolutionäre? Mordbuben in die vorderste Linie: Noske & Pabst, Wilhelm & Adolf, Mölders & Rommel. Sie und ihre Nachfolger haben nichts anderes zu verlieren als Blut & Ehre. Jünger: „Abends sehr lange im Kasino.“ Die Kameraden hocken noch heute tief in der Flasche. Wie unsere Stammleser wissen, legen wir hier Fragmente aus meinem unfertigen Bloch-Roman vor, der wiederum Teile des Welttheater-Stückes enthält, das in Auerbachs Kelle spielt, wo Brecht Regie führt. Während der gestrigen Vorbesprechung mischte sich Kafka prustend vor Lachen ein: Ihr wollt Ernst Jünger heute auftreten lassen? Brecht: Es ist mir kein Vergnügen, doch eine dialektische Orgie! Kafka: An der Tür verlangt einer Einlass, der hat ein Gewehr dabei und will Jünger erschießen. Brecht: Nein, den Jünger brauchen wir noch für die Kriegsszene. Ich: Warum will er den Ernst totmachen? Kafka: Er behauptet, Hauptmann Jünger hätte bei seiner Exekution kommandiert. Brecht: Dann lass' den Mann rein, Franz, das macht unsere Kellerbühne zu einer wahrhaft realistischen Folge von SOKO Leipzig. (Die Originaldialoge zwischen den Toten und Untoten sind zehnmal so umfangreich, können aber aus urheberrechtlichen Gründen nur gekürzt wiedergegeben werden.) Ein weiteres Nachwort ist für Montag, den 04.10.2010, geplant.
|
Gerhard Zwerenz
Serie
Nachworte
Aufsatz
|