Das Unvergessene im Blick und erstes Nachwort
Die Frage lautet: „Warum so viele Berater um Bush so große Probleme hatten, die vielen Lügen – über den Irakkrieg etwa – öffentlich einzugestehen.“ Die Antwort darauf lautet: „Nach dem Verständnis ihrer Schule, die Strauss, der von 1949 bis 1969 in Chicago politische Philosophie lehrte, begründet hat, taten sie nur, was notwendig ist, wenn man regieren will.“
Das luzide Frage-Antwort-Spiel ist in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung vom 11.10.2009 nachzulesen. Über den genannten Strauss, gemeint ist Leo Strauss, weiß FAS-Autor Cord Riechelmann mitzuteilen: „Offen Faschist konnte man in Amerika nach 1941 nicht mehr sein. Wie man aber Faschist bleibt, ohne es zu schreiben, davon handelt Strauss' Kunst des Schreibens auch. Und es ist wirklich interessant, wie ein in Deutschland geborener jüdischer Philosoph zum Faschisten werden konnte. In Briefen hat Strauss davon erzählt. In einem Brief, den er aus dem Pariser Exil 1933 an den noch in Deutschland lebenden Philosophen Karl Löwith schickte, hieß es: ›Das ganze deutsch-jüdische intellektuelle Proletariat befindet sich hier.‹ Es sei furchtbar, fügte er hinzu, ›am liebsten liefe ich fort nach Deutschland.‹ Das deutsch-jüdische intellektuelle Proletariat bestand in Paris u.a. aus Hannah Arendt, Walter Benjamin und Günther Anders. Für den Geistesaristokraten hieß bis 1941 die Alternative zu diesen Proleten Mussolini.“
Die Tatsache, dass der jüdische Mussolini-Faschist und Philosoph Strauss als Hochschullehrer der Kriegsverbrechergruppe um Bush junior noch im 21. Jahrhundert weithin wirksam sein konnte, wird in der FAS mit einer Rezension der Strauss-Schrift Kunst des Schreibens (Merve Verlag 2009) legitimiert, was uns weniger interessieren muss, obgleich es als Spezialfall faschistischer Sklavensprache nicht nur für die USA relevant ist. Das deutet Rieschelmann in seinem Schlusssatz über Strauss auch an: „Dass heute viele seiner politischen Ideen in liberalen Programmen für Staat und Ausbildung wieder auftauchen, macht seine Kunst des Schreibens zur lohnenden Lektüre.“
Was sagt uns das? Erstens ist es für Wissende keine Neuigkeit. Zweitens wird im Organ der Frankfurter Neokonservativen selten so offen über die Kameraden vom rechten Flügel der US-Republikaner geurteilt. Drittens war Strauss mit Arendt, Benjamin, Anders u.a. befreundet. Seine schroffe Abwendung von diesem linken, „deutsch-jüdischen intellektuellen Proletariat“ konstatiert einen innerjüdischen Konflikt, den wir nur deshalb nicht als letzten jüdischen Krieg bezeichnen, weil es zu den heute üblichen verbalen Übertreibungen gehörte. Eher könnte es der vorletzte jüdische Krieg sein. Der letzte deutet sich offensichtlich im Konflikt um Israel und Palästina an, eingrenzbar auf Israel selbst, wo die Macht von der Art der Straussianer in den USA ist, während die schwächelnde Krtitik den jüdisch-deutschen Linksintellektuellen vor 1933 ähnelt, wo nicht gleicht.
Im Gegensatz zur Chicagoer Leo-Strauss-Schule, die den US-Präsidenten rechte Ideologen und Kriegspraktiker lieferte, bildeten sich in den USA nach 1945 verschiedene links- und liberalintellektuelle Kreise heraus. In der Bonner Republik wurden außer den Theorien von Anders, Benjamin und Arendt auch andere Linke, meist jüdische Remigranten aktiv. Spiegelbildlich zu Adorno-Horkheimer in Frankfurt am Main entstanden in Ostberlin und Leipzig linksintellektuelle Zentren. Meine 99 Folgen zur Verteidigung Sachsens im poetenladen sind auch Teil einer Marx-Verteidigung, denn der linksintellektuelle Klassiker wurde in Leipzig erst von seinen entfremdeten Nachfolgern missbraucht und dann von deren bürgerlichen Nachfolgern verleugnet, indem sie der Leipziger Universität seinen Namen entrissen. Der Chemnitzer Marx-Kopf erinnert als „Nischel“ daran. Die innerdeutsche Völkerschlacht ist nicht beendet.
Die letzten zweihundert Jahre ließen Sachsen analog zu Belgien zum kontinentalen Glücksfall einer kontinuierlichen sozialrevolutionären Entwicklung heranreifen. Industrie wie Arbeiterbewegung brachten das Land voran. Störungen kamen nur von außen. Sachsen war rot, bevor es braun wurde, und es war rot, bevor es schwarz wurde. Walter Ulbricht als König der DDR und Herbert Wehner als Kurfürst von Bonn sind nur die Konsequenzen und Deformationen der Tatsache, dass die deutsche Sozialdemokratie 1914 mit ihrem Kaiser in die Schlacht gezogen ist, 1918 ihre eigene Revolution verriet (Sebastian Haffner) und 1933 erneut versagte. Und dieser sozialdemokratische Neandertaler müsste heute nicht nur hinter Godesberg zurück, sondern bis ins Jahr 1914 zurückgehen, bevor er wieder vorankommen könnte.
In der DDR sammelten sich nach 1945 von Hitler verfolgte Genossen. Aus den USA kamen Linke wie Kantorowicz, Bloch, Brecht, Eisler, aus der Bundesrepublik bedrängte Wissenschaftler und Schriftsteller. Gemeinsam war allen ihr Antifaschismus, ob jüdisch oder nicht. An der Leipziger Universität entstand ein linkes loses Netzwerk, das 1957 von der Parteiführung zerschlagen wurde, weil sie Konterrevolution bis hin zum Erbfeind Trotzkismus fürchtete.
Im pervers ideologisch-politischen Sinn traf das sogar zu. Im Sinne des Karl Marx handelten die Parteioberen unmarxistisch. Die erzwungene Rückkehr zu Stalin programmierte das Ende. Dass es sich erst drei Jahrzehnte später realisierte, ist entweder ein göttliches Wunder oder der unvergleichlichen Energie und Leidensbereitschaft der Ostdeutschen zu verdanken. Dennoch oder gerade deshalb respektiere, nein liebe ich meine Genossen und Landsleute inklusive der aparten Stalin-Gläubigen. Sie taten eben, wie und was Prof. Strauss seine Boys in Chicago lehrte, nämlich alles „was notwendig ist, wenn man regieren will.“ Dabei kam nur der verteidigte Sozialismus abhanden wie in den USA unter Bush junior Freiheit und Demokratie.
Im schönen Vorschulalter wurde ich von meinem Vater oft in die Kantine der unweit gelegenen Schrebergärten mitgenommen, wo die Arbeitslosen einander zum Skatspiel trafen, den letzten Pfennig in Bier umsetzten und auf die Revolution oder einfach bessere Zeiten hofften.
Von den politisierenden Männern ein Stück abgetrennt hockten zwei junge Typen, über die es anzüglich hieß, sie seien Trotzkisten. Was in einer Mischung von lauernder Distanz und Verwunderung behauptet wurde, meist leise. Mir gefielen die beiden, sodass ich in ihrer Nähe das spielende Kind vortäuschte, das die Erwachsenen erwarteten.
Was die zwei beredeten, verstand ich nicht. Doch gefielen sie mir desto mehr. Der eine beeindruckte durch selne dunklen Augen, der andere, ein Boxer mit dem Spiel seiner Muskeln, die den gebräunten Oberkörper einfassten und nie stillhielten, sodass eine Vielzahl Leberflecke zu Gruppen antraten und tanzten.
1936, im Jahr der Berliner Olympischen Spieler kam meine Tante Hilde aus New York zu uns in die Ziegelei auf Besuch. Ihre neugierige Frage, was ich denn einmal werden wolle, beantwortete ich kurz und freudig mit dem Ausruf:
„Trotzkist!“ Ich erinnere mich nicht genau, wie ich darauf verfiel. Wahrscheinlich stieg die frühere Kindheitsszene in mir auf, und der Zehnjährige tat Bescheid mit der Erfahrung des Fünfjährigen. Es war meine besorgte Mama, die, vom Sippenrat beauftragt, mich anschließend darüber aufklärte, dass Trotzkist kein Beruf sei, überdies gefährlich und verboten, denn wir lebten bereits im dritten Jahr des Dritten Reiches.
So erfuhr ich ganz nebenbei von der ausschweifenden Existenz der Unworte und Unpersonen. Es dauerte nochmal fünf Jahre, bis ich 1940 in der Zeitung die kurze Notiz las: Trotzki in Mexiko ermordet. Ich zählte jetzt fünfzehn Jahre, stellte mir die beiden Trotzkisten meiner frühen Kindheit als Tote vor und betrauerte sie in Ermangelung genauerer Kenntnisse.
Im August 1944, auf meinem langen Marsch von der deutschen Wehrmacht durch die Fronten in Ostpolen und Weißrussland war mir als müsste ich den in Mexiko Erschlagenen in Moskau lebend auffinden und besuchen, sei es auch nur, um ihm zu berichten, dass ich ihm vierzehn Jahre früher in Gestalt zweier junger sächsischer Arbeitsloser begegnet war. Tage lang marschierte ich nächtens ostwärts Richtung Moskau, das ich mir immer heftiger als Trotzkis Heimat vorstellte, denn fixe Ideen begründen wunderbare Reiche.
In fast fünf Jahren Lagerleben erfuhr ich über Trotzki nur, dass er der ärgste Feind Stalins gewesen sei, ein Renegat, Verbrecher und Faschist, ja noch schlimmer, ein Trotzkist, d e r Trotzkist eben. Du bist ihm auf dem Weg nach Moskau nicht nähergekommen, dachte ich enttäuscht, entfernt hast du dich von ihm, und nichts schmeckt bitterer als selbstverschuldeter Irrtum, denn du musst befürchten, das alles sei ein überflüssiger Umweg gewesen. Die folgenden neun Jahre in der DDR fügten meiner Trotzki-Kenntnis nichts hinzu, außer dass der Teufel nun Kinder bekommen hatte, die hörten auf Namen wie Renegat, Verräter und, natürlich und immerzu: Parteifeind. Ab 1957 im Westen lebend nahm das Bild Konturen an. Freunde der 4. Internationale legten den Beitritt nahe. Ich beschloss keiner Partei mehr beizutreten und meinen SED-Ausschluss von 1957 als endgültig zu bewerten. Lernte jedoch bei Trotzki die Idee der permanenten Revolution sowie die Pflicht zur unbedingten Analyse kennen, bis hin zur Feinanalyse, wo die Zustandserkenntnis zur Prognosefähigkeit führt. Den Endpunkt aber setzte der Agent Stalins mit dem Eispickel, der den Kopf Trotzkis zertrümmerte, denn der Mensch des scharfen Gedankens muss sterben, erinnert er doch, solange er atmet, an das Ziel, das verfehlt wurde und nun durch Mord vernichtet werden muss. Auf dass die gefälschte Revolution weiterfahre, bis sie endgültig entgleist.
Auf der Heimfahrt von Niedernhausen mit der Regionalbahn zog jemand kurz vor dem Frankfurter Hauptbahnhof die Notbremse, die Wagen hielten außerhalb und wir gingen zu Fuß wie einst bei unseren Ostermärschen.
Im Bildungszentrum verkauften sie für 3 € die Broschüre Jakob Moneta – Solidarität im Zeitalter der Skepsis. Ich entrichtete brav den Preis, später wollte mir ein netter Mensch das Druckwerk schenken, weil ein kurzer Text von mir darin enthalten sei. Ich schlage nach und finde, was ich 10 Jahre früher für den damals 80jährigen Jakob dichtete und die SOZ in Nr. 23 des Jahres 1994 veröffentlichte:
Unbeugsam aufrecht die Lust zu
leben 80 Jahre lang und weiter die Stirn nicht gesenkt. Da ist einer, hat nichts zu verbergen und trügt nicht, klagt nicht. Die Wunden nicht mit Klagen zu beantworten, die Künste der Listigen, sie haben Dauer, wenn die Affen öffentlicher Gewalt längst in alle Winde verstreut. Keinen Menschenfeind unbenannt lassen, die Tür offen, kein Eintritt verboten. Kein Freund soll im Regen stehen zu Ende des brutalsten Jahrtausends. Auf den ist Verlass. Das ist einer von den Seltenen, der Letzten EINER. Oder der ERSTEN.
Das Prosagedicht hatte ich vergessen. Beim Wiederlesen gefällt es mir trotzdem. Ich beschließe, es auch dem 90jährigen Jakob zu widmen. In 10 Jahren sollte es auf den dann hundertjährigen letzten trotzkistischen deutsch-jüdischen unverdrossen aktiven Moneta noch passen und auf eine hoffentlich unverwüstliche IG Metall. Im Getümmel traf Ingrid die ewig jungen Altmetaller Friederike Heinzel und Günter Sanné, sie fanden heraus, in Kürze schwömmen wir alle vier vor der Insel Lanzarote herum. Früher war es Jugoslawien, das ist dank deutscher Beihilfe abgebrannt, Mallorca von schweißhirnigen tv-Moderatoren samt kameraverseuchten Moderierten besetzt, außerdem im Winter zu kalt zum Schwimmen, was bleibt, sind die Kanaren, wo wir Weihnachten uns ersparen.
Zurück zur Geburtstagfeier. Ein junger Schwarzhaariger will mir das Büchlein Trotzkismus-Einführung in seine Grundlagen – Fragen nach seiner Zukunft geben.
Ist es der Autor Manuel Kellner selbst? Ich kenne den Text, hab ihn gerade kritisch und beifällig gelesen. Dazu noch: Was ist Trotzkismus? vom französischen Autor Daniel Bensaid. Seine Schriften sind kurz und bündig, in kluger moderner Distanz, doch engagiert. Die Neuerscheinungen verdanken wir Jakob, der sie uns zukommen ließ, nachdem wir ihm unser Buch Sklavensprache und Revolte geschickt hatten. In der Frankfurter Rundschau wurde mitgeteilt, Moneta lese unseren 550-Seiten-Wälzer ohne Brille. Das ist keine Anti-Sehhilfen-Werbung. Es geht um das Rätsel, weshalb Bloch so lange für den bösen Wissarionowitsch votierte. Dagegen hilft Trotzki-Lektüre. Selbst die werten letzten KP-Genossen loben jetzt ihren (unseren) Moneta. Annäherung an Trotzki, den Väterchen Stalin fürsorglich ermorden ließ? Der Schlag mit dem Eispickel, mitten in den Schädel, das Gehirn spaltend. Wie die Arbeiterbewegung. Daran aber ist Stalin nicht allein schuld.
Jakobs 90. wurde erstaunlich breit an prominenter Stelle abgefeiert, mit Ausnahme der FAZ, die versteckte ihren Artikel vom 10.11.04 so sorgfältig, dass ihn kaum jemand aufspüren kann. In FR, taz, junge Welt, im ND und Tagesspiegel fanden sich hervorragend plazierte Würdigungen. Moneta, Trotzki und die liebenswerte IG-Metall stecken den fleißigen Ex-Sieburg- und Ex-Adorno-Adepten im FAZ- Feuilleton eben quer im Hals. Sie kotzen mit Verhaltung.
Die 99 Folgen unserer Sächsischen Autobiographie sind fragmentierte Erlebnisse, Vorlesungen, Märchen, Träume und Verfluchungen. Anfang 1954 hatte ich für die Ostberliner Weltbühne zu schreiben begonnen. Da ich im September 1957 von hinnen musste, darf ich seit dem 10. September 2007 jeden Montag über den Leipziger poetenladen wiederkehren. Dazwischen erstreckt sich exakt ein kleines halbes Jahrhundert. Heute, am 26.10.09 liegt die letzte der zugesagten 99 Folgen vor. Da bleiben nur ein paar lässliche Fragen offen, z.B. die nach dem Tode. Stirbt weiterhin jeder für sich allein oder gelingt es den herrschenden Universal-Regierungs-Chaoten, die bedrohte Tierart Mensch noch in diesem Jahrhundert auszulöschen? Mühe geben sie sich gewiss. Die westliche Wertegesellschaft zieht tüchtig mit. Warum soll sie wie das alte Rom separat untergehen. Wenn schon, darf die ganze Welt in Scherben fallen. Der Müll wird dann von Marsmenschen für ihre Museen eingesammelt. Kurzum, es gibt allerhand laszive Argumente dafür und dagegen.
Drohend drücke ich das Bajonett auf den Bauch des alten Mannes. Ich bekomme Brot, greife zu, laufe davon. Zwei Schüsse fallen. Zum Wald hetze ich, brotkauend, mein Gewehr schwenkend. Im Unterholz such ich nach Beeren. Ich höre Schritte. Ein russischer Soldat nähert sich. Vielleicht hatte er mich bemerkt und sucht nach mir. Keine zehn Schritt entfernt, unter einer ausladenden Eiche, zieht der Soldat seine Litewka über den Kopf, breitet sie sorgfältig am Boden aus und setzt sich still, den Rücken zu mir, nieder. Ich seh seine Nackenmuskeln spielen. Der Mann kaut. Irgend etwas in mir ist dafür, ihm eine Chance zu geben. Aber wenn ich ihn anriefe, wendete er sich um, und ich müsste schießen. Er könnte schreien. Es müsste lautlos zugehen. Er hört noch etwas, zieht die Schultern hoch und will sich umwenden, ich stolpere auf dem letzten Stück und renne ihm im Fallen das Bajonett in den Rücken; knirschend bohrt es sich in die linke Seite und zerschneidet durch die Rippen das Herz.
Du glaubst nicht, wie lautlos es zugehen kann, wenn Menschen einander töten. Er sagt nur laut und erstaunt: Warum. ... – und wie ich seine Litewka untersuche, find ich das deutsche Soldbuch, die Erkennungsmarke und eine Brieftasche mit Bildern. Auf den Bildern erkenne ich den Toten. Er steht, mit Frau und Kindern – zwei Töchtern – vor einer Laube, den Hut schwenkend. Auf einem andern Foto sitzt er am Steuer eines DKW, lacht mit blitzenden Zähnen. Ich ziehe ihm Hosen und Stiefel aus. Das blutige Hemd wasche ich am See. So als eingekleideter Russe wage ich mich nun offener hervor. Dabei ist es mir unangenehm, dass ich einen Deutschen umgebracht habe. Andererseits konnte ich es ihm nicht ansehen, er hatte einem Russen geglichen. Nun glich ich einem Russen. Es ist eine Verwechslung. Das ganze war ein Unglücksfall. In ruhigen Zeiten kannst du lange darüber philosophieren; wenn es erst um deinen eigenen Kopf geht, wehrst du dich deiner Haut, und die angespannten Dinge wie Schuld und Unrecht machen dich nur wehrlos. Die Frage ist nur, ob ich den Vorfall melde, wenn ich zurückkomme. Aber es ist wohl nicht gut für die Familie, wenn sie hört, er wurde von den eigenen Leuten umgebracht. Ich werde nichts sagen, oder ich werde bloß melden, dass ich ihn hab liegen sehen; er war tot. Nach dem Krieg werden sie seinen Namen daheim ins Kriegerdenkmal stemmen, und alljährlich zum Heldengedenktag werden die Angehörigen Blumen und Kränze an das Denkmal legen. Ich werde nicht sagen, wie er gestorben ist. Übrigens habe ich ihn mit meinen eigenen Sachen bekleidet und ihm im Gebüsch ein notdürftiges Loch gegraben, damit wenigstens nicht die Ratten an ihm fräßen. Auch ein Gebet wollte ich sprechen. Doch fiel mir keins ein. Was lehrt uns das? Soldaten sind Mörder und Ermordete. Der Rest sind Kollaterale.
Am 18. Februar 1996 gab ich in Bonn als Bundestagsabgeordneter und Mitglied im Verteidigungsausschuss folgende Kriegswarnung als Presseerklärung heraus:
Der CSU-Abgeordnete und Oberst der Reserve Kurt J. Rossmanith wurde als Nachfolger des in den Staatssekretärsrang aufgerückten CSU-MdB Dr. Klaus Rose zum Vorsitzenden des Verteidigungsausschusses im Deutschen Bundestag bestellt. Damit wird die verhängnisvolle Annäherung der Bundeswehr an die Wehrmacht weiterbetrieben, denn für Rossmanith ist und bleibt z.B. der Hitlerfreund und Hitlerprotege Generaloberst Dietl ein „Vorbild in menschlichem und soldatischem Handeln“.
Dies ist ein weiteres Indiz für die Gefahr, vor der ich in meinem Brief vom 26.08.1996 an den Bundeskanzler warnte und in dem ich auf 38 Seiten die Belege für den verhängnisvollen Kurs zurück zu Wilhelm II und vorwärts zu kriegerischen Aktionen in aller Welt dokumentierte: „Es wäre ...unklug, sie (die Bundeswehr ist gemeint) nicht für den brutalen kleinen Krieg gegen die kleinen bösen Männer auszubilden. Deutschland wird um eine Beteiligung an diesen Kriegen gebeten werden.“
(Oberstleutnant Reinhard Herden in Truppenpraxis I Wehrausbildung 2 und 3/96) So militaristisch also soll die deutsche Zukunft aussehen, die politpsychologische Vorbereitung darauf wird bereits programmiert.
Da der Bundeskanzler das Angebot, meinen Brief an ihn „intern“ zu halten, über ein Vierteljahr unbeantwortet ließ, gab ich ihn am 1. Dezember 1996 für die Zeitschrift UTOPIE/kreativ zum Abdruck frei. Inzwischen liegt das Schreiben in den Heften Januar und Februar 1997 öffentlich vor. Die verspätet am 06.12.1996 eingetroffene Antwort des Bundeskanzlers, die deshalb nicht mehr berücksichtigt werden konnte, ging überdies leider auf die gestellten konkreten Fragen und Belege nicht ein.
Weil eine öffentliche Diskussion über die neue Militärpolitik dringend notwendig wäre, wiederhole ich die Sätze aus dem Brief, auf die ich eine Auskunft erwarte:„Gibt es eine Alternative zu dem Kriegsdrama, das einige Ihrer Politiker, Militärs, Professoren an die Wand malen und das alle Züge einer sich selbst verwirklichenden Prophezeiung aufweist? Wenn ja, müsste jedes Parteiinteresse vor der Friedens-
suche zurückstehen. Wenn nein, artikulierte sich zum Ausgang des Jahrhunderts eine neue Existenzfrage, deren tendenzielle Analogie zu den dreißiger Jahren eine Entscheidung zwischen Widerstand und Kriegsschuld verlangte.“
Als Tucholsky Mitte der zwanziger Jahre vor einem neuen Krieg zu warnen begann, blieb das unerhört. Wenn heute einer seiner dringlichsten Warnsätze zensiert, verboten und bestraft werden soll, deutet sich ein krimineller Wiederholungszwang an, dem nicht zu begegnen neue Kriegsschuld begründen kann. Wer sich jetzt vor der offenen Diskussion drückt, der kann tatsächlich bald „um eine Beteiligung an diesen Kriegen gebeten werden“, die der eingeschlagene Kurs mit Sicherheit produziert.
Mit dem Oberst d.R. Rossmanith jedenfalls hat jemand den Vorsitz im Verteidigungs- ausschuss eingenommen, der, indem er dem Hitlergeneral Dietl menschliche und soldatische Vorbildfunktion bescheinigt, den Gehorsam gegenüber Hitlers Kriegsbefehlen legitimiert. Da der vormalige BW-Generalinspekteur Naumann seinerseits die deutsche Beteiligung 1900 an der Niederschlagung des Boxeraufstandes in China und den Völkermord 1904 an den Hereros in Deutsch-Südwest-Afrika als legitime Befriedungsaktion bewertete, schließt sich damit ein verhängnisvoller Kreis. In seiner letzten Ausgabe vom 17.02.1997 ließ der Spiegel, sonst recht regierungsfromm geworden, den Washingtoner Historiker Gerald Livingston die Bundesdeutschen vor US-Kriegswünschen warnen: „Washington drängt die deutschen Verbündeten zu größerem Engagement – auch durch häufigere Militäreinsätze“. Wenn es soweit sein wird, soll niemand sagen, er habe davon nichts gewusst. Es ist alles in klarer deutscher Kommandounternehmenssprache vorbereitet worden.
Soweit die Bonner Presseerklärung vom 18. Februar 1996, mit der das erste Nachwort schließen sollte. In der vorangehenden Folge 99 aber ist zum Ende hin eine Kriegsszene eingebaut, zu der ein Nachwort zum Nachwort taugt, weil der eine Soldat den Mörder und der zweite den Ermordeten gibt. Gefragt, ob die Story autobiographisch sei, antwortete ich, ja, ich sei der Ermordete. Tatsache ist, jeder Leser fühlt sich im ersten Schrecken als Täter wie Opfer, und jeder Soldat ist beides zugleich und möchte doch allein Täter sein, um zu siegen. Es siegen nur die Toten.
Da ich dies schreibe, melden Fernsehen und Presse, nahe Kursk wurde eben ein neuer deutscher Soldatenfriedhof eingeweiht. Von der deutschen Großoffensive „Zitadelle“ am Kursker Bogen 1943 liegen dort 21. 000 Gefallene, es sollen bald 40.000 sein. Wie viele Opfer die Rote Armee bringen musste, ist nicht exakt festzustellen. Kann sein Hunderttausende. Die Kriegsgräberfürsorge kümmert sich um den Friedhof.
Wer kümmert sich um die künftigen Gefallenen? Zuerst fallen die Politiker und Generäle aus der friedfertigen Nachkriegsrolle in die tapfren Vorkriegsrollen. Meine Kriegswarnung von 1996 ging als Presseerklärung eines MdB ihren Weg ins übliche Vergessen. Für mich bleibt sie das schwer genug errungene Resultat der Erfahrungen im Verteidigungsausschuss. Im Abstand von anderthalb Jahrzehnten ist die Transformation der Bundeswehr von einer Verteidigungsarmee in eine Interventions-, also Angriffstruppe für jeden erkennbar. Im Grundgesetz las sich's anders. Erst die deutsche Einheit von 1989/90 führte zu neuen Kriegsbeteiligungen. Die Sowjetunion kommandierte die Volksarmee nicht zu ihrem Krieg in Afghanistan. Anders die USA/NATO. Der Bundestag billigt brav den Ruf an die fernen Fronten.
Jeder ist nur für sich selbst verantwortlich. Als Obergefreiter verließ ich 1944 die Wehrmacht. Als kleiner Schriftsteller verließ ich 1957 die DDR. Als gealterter und nach wie vor machtferner und machtloser Autor distanziere ich mich von jenem Einheits-Deutschland, das erneut Kriege führt. Meine Heimat ist die DDR bis zum Jahr 1957, als sie mich verstieß. Trotzdem sagt mir ihre friedfertige Hymne heute noch zu.
Auferstanden aus Ruinen und der Zukunft zugewandt,
lass uns Dir zum Guten dienen, Deutschland, einig Vaterland. Alte Not gilt es zu zwingen, und wir zwingen sie vereint, denn es muss uns doch gelingen, dass die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint, über Deutschland scheint. Glück und Friede sei beschieden Deutschland, unserm Vaterland. Alle Welt sehnt sich nach Frieden, reicht den Völkern eure Hand. Wenn wir brüderlich uns einen, schlagen wir des Volkes Feind. Lasst das Licht des Friedens scheinen, dass nie eine Mutter mehr ihren Sohn beweint, ihren Sohn beweint. Lasst uns pflügen, lasst uns bauen, lernt und schafft wie nie zuvor, und der eignen Kraft vertrauend steigt ein frei Geschlecht empor. Deutsche Jugend, bestes Streben unsres Volks in dir vereint, wirst du Deutschlands neues Leben. Und die Sonne schön wie nie über Deutschland scheint, über Deutschland scheint.
Es waren einmal 12 kleine Sachsen. Der erste blieb in Wilhelms Krieg. Der zweite machte Revolution und wurde erschossen. Der dritte wählte Hitler und verreckte in Stalingrad. Der vierte ging ins Exil. Der fünfte kehrte aus der Gefangenschaft zurück und wollte alles besser machen. Der sechste machte alles besser und siegte unverdrossen bis zur nächsten Niederlage. Der siebte protestierte heldenhaft bis zum Verlust seines Arbeitsplatzes. Der achte arbeitet seither in der Fremde. Der neunte hockt daheim bis zur Rente und gibt an allem den Nazis die Schuld. Der zehnte den Kommunisten. Der elfte hat den Durchblick, doch nimmt er, weil ihm keiner glaubt, solange am tv-Ratespiel teil, bis er Millionär wird. Anschließend versäuft er die ganze Kohle. Der zwölfte schafft als Politiker die Verhältnisse, unter denen alle leiden.
Jetzt sagen wir die Sätze nochmal auf, nehmen aber statt der 12 kleinen Sachsen 12 kleine Gesamtdeutsche. Wer dann noch an Deutschland über alles denkt, statt an Auferstanden aus Ruinen, hat den 3. Weltkrieg schon begonnen und verloren, denn, heißt es in der Presseerklärung vom 18.2.1996, es gibt erneut „eine Entscheidung zwischen Widerstand und Kriegsschuld“. Legitimiert der Bundestag weiterhin Kriege, werden deutsche Mütter ständig neue kleine bewaffnete Heldenbabys produzieren, wie wir sie in großen Zeiten schon mal in die weite Welt schickten.
Ein zweites Nachwort ist für Montag, den 02.11.2009, angekündigt.
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Gerhard Zwerenz
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