Chronometrische Kunststücke, antwortete mein Alter. Unser Wecker geht pünktlich jeden Sonnabend kaputt, da reparier ich ihn übers Wochenende. Oder hast du nen andren Vorschlag? Deine Frau lässt sich nicht sehen. Ist zum Berg rüber, den Wagen auftanken, und dabei kauft sie gleich ein. Ich dachte, du bist mitgefahren. Nein, Bär, ich bin nicht mitgefahren. Das seh ich, Hilde, dass du nicht mitgefahren bist. Siehst dus wirklich, Bär? Wer dich übersieht, Hilde, ist ganz schön blind auf beiden Augen, denk ich, was? Und ich denk, du wirst den Schraubenzieher nie mehr aus den Händen kriegen. Das denk ich. Was? Der Schraubenzieher – da liegt er, und was denkst du nun? Wenn der Wagen zurückkommt, das hört man, denk ich. So, sagte mein Alter, das denkst du also. Und was denkst du sonst noch? Das denk ich! Und das! Und das ! Ich beugte mich vorsichtig zum Fenster hinaus und sah die Tante. Ich sah ihren Rücken und ihr Hinterteil, eine Brezel, einen hellblauen Flecken Kleid, und was ich nicht sah und was mir verdeckt war, war für den Bär nicht verdeckt, denn die Tante stieg einfach durchs Fenster zu ihm hinein. Komm her! murmelte der Bär, und dabei war die Tante schon drin bei ihm. Wir hören den Wagen bestimmt, du? sagte die Tante. Wir hören den Wagen, sagte er heiser, gewiss hören wir den Wagen, nur runter mit dem Zeug! Ja, sagte die Tante, nur runter mit dem Zeug. Nur runter damit. Ja. Ah – das tut gut! Ah – du tust mir gut! Ah. Inzwischen näherte sich die Herrscherin auf dem Weg von der Stadt. Sie kam zu Fuß und schleppte Taschen und Beutel. Ich sah sie kommen und versteckte mich hinter der Gardine. Geh langsam, ruh dich aus, Herrscherin, bat ich inständig, aber sie kam gleichmäßig und lautlos näher. Als sie fast am Haus war, trat ich schnell ganz nahe ans Fenster und zeigte mich, aber die Herrscherin hatte schwer zu tragen, sie hielt den Kopf gesenkt. Ich wollte rufen, der Ruf blieb mir im Halse stecken, der Laut klebte mir in der Kehle fest. So betrat die Herrscherin das Haus, stand in der Tür zum Wohnzimmer und bewegte sich nicht. Ganz starr stand sie, sah in das Zimmer hinein. Ich stürzte hinzu, zwängte mich daneben. Auf den Dielen, zwischen Tür und Fenster, mit den Köpfen halb unter dem Tisch, lagen sie ineinander verschlungen, sahen nichts und hörten nichts, keuchten und waren ein Rhythmus schweißglänzender Nacktheit. Die Herrscherin stieg vorsichtig zum Tisch, stellte ihre Taschen darauf, griff aus dem Gewimmel von Weckerteilen und Werkzeug den Schraubenzieher, stach in das wogende, bebende Fleisch, das rot aufplatzte und aufquoll und noch immer nicht zur Ruhe kam. Der mächtige Hintern des Mannes arbeitete, den wippenden Schraubenzieher in einer Backe, weiter, und unter ihm lag, wie in Krämpfen, die Tante, die sich entgegenstemmte, aufbäumte und zurückgeschleudert wurde. Das Blut! schrie ich, das Blut! Die Herrscherin nahm mich gar nicht wahr. Das Blut – echote sie, das Blut! Und dann murmelte sie atemlos: Rumgestrichen ist er die Nächte durch; aber jetzt ist er schön dageblieben, seit es den Speck daheim gibt. Die beiden weißen Leiber waren zum Stillstand gekommen und lagen aufeinander wie im Schlaf. Unaufhörlich quoll Blut aus der Wunde, bänderte sich in breiten Spuren tiefer, umgürtete Schenkel, spann Fäden rot von ihm zu ihr, Flatterbänder, die sich mattglänzend auf der Frau ausbreiteten, ein sanftwebendes Gespinst, das Purpurkleid der Liebe. Mir wurde übel. Der Bär lag im Wohnzimmer auf dem Sofa. Er lag auf dem Bauch, lag reglos abweisend abwesend unter Verbänden und Kissen und Decken. Die Herrscherin kam aus der Küche herein. Sie trug die große Kaffeekanne und das Tablett mit drei Kaffeetassen. Hilde! rief die Herrscherin. Die Tante huschte lautlos durch die andere Tür. Ja, Mienchen? Setz dich! Die Herrscherin goss die Tassen voll. Sie und die Tante hoben die bis an den Rand gefüllten Tassen und tranken. Trink du auch, Rudl! sagte die Herrscherin. Der Bär regte sich nicht. Trink! befahl die Herrscherin. Der Bär hob den Kopf, griff, ohne hinzusehen, auf den Tisch, nahm die Tasse und kippte sie um. Die Herrscherin füllte die Tasse nach. Trink! Er nahm seine Tasse, führte sie an die Lippen, bog den Kopf zur Seite und schluckte. Sanft sagte die Herrscherin: Ich musste den Wagen bei Senke stehen lassen. Jetzt können wir ihn zurückholen. Sie trank ihren Kaffee und erhob sich. Dann hole ich den Wagen jetzt. Die Tante stand gleichfalls auf. Ich komme mit, bitte – Sie traten vors Haus und gingen, eng nebeneinander. Der Bär lag auf dem Bauch und schwieg. Ich lief in meine Kammer hinauf und suchte den Revolver. Ich hatte die Waffe nur die erste Zeit mit mir herumgeschleppt. Später hatte ich sie manchmal mitgenommen und manchmal daheim gelassen. Seit die Tante im Haus war und der Bär seine nächtlichen Ausflüge eingestellt hatte, war die Pistole ganz in Vergessenheit geraten. Ich rannte die Treppe hinab und vors Haus. Das Fenster, durch das die Tante am Nachmittag eingestiegen war, stand offen. Ich feuerte einen Schuss ab und blickte ins Zimmer. Der Bär lag reglos und schweigend. Pa, sagte ich, und gab mir Mühe, ein Schluchzen zu unterdrücken, das ist doch alles nicht so schlimm; der Arzt meint, in drei Tagen bist du schon wieder ganz gesund. Die Wunde ist tief, aber nur im Fleisch. Das heilt ziemlich schnell. Noch immer antwortete der Bär nicht. Und da spürte ich seinen Kummer und seine Verzweiflung in meiner eigenen Brust, wo es sich regte und zusammenschnürte und zum Hals hin drückte. Und nirgendwo geschah etwas, das uns hätte trösten können, denn eine unwirkliche Stille und Reglosigkeit lag über der Welt.
Die Zusammenfügung des Casanova-
Als ich den stern Nr. 34 vom 16.8.01 aufschlug, fiel mir eine ganzseitige Farbanzeige direkt ins Auge. Gedruckter Hinweis: »Die EG-
Das Foto zeigt 1 Mann und 1 Frau, er ist nackt, sie trägt ein weißes Tuch als Haube und 1 gehauchtes Tüllgebilde samt Kettchen um die Hüften. Er steht zwischen ihren gespreizten Beinen, sie sitzt vor ihm in demonstrativer Erwartungshaltung, gebräunte Haut und signifikante Brüste vorzeigend, ganz klar, die beiden sind kurz davor, es zu treiben, doch da ist noch das menschenfreundliche Anliegen der »EG-Gesundheitsminister«, also nimmt sie ihm mit erotisch gespreizten Fingern den glimmenden Giftstengel aus den Lippen, was mich in tiefes Nachdenken stürzt, Sinn und Nutzen der ganzseitigen EG-Annonce betreffend. Wollte der nackichte Prachtjunge, frage ich mich verdutzt, die vor ihm ausgebreitete junge Dame tatsächlich besteigen (amtlich: Geschlechtsverkehr mit ihr ausüben) ohne nach Hemd und Hose auch die Zigarette abzulegen? Sind wir schon soweit, dass unsere Jugend direkt beim Poppen raucht, statt wie ihre Vorfahren nur davor und danach? In seriösen tv-Filmen paffen sie immer hinterher, besonders die Frauen, das muss einen tieferen, evtl. tiefenpsychologischen Grund haben. Falls aber auch die junge Generation nicht direkt beim Bumsen raucht, wäre die teure EG-Anzeige für die Katz und die Partnerin nähme dem Partner die gefährliche Lulle nur höflicherweise aus dem Mund, um ihm diese Anstrengung zu ersparen. Oder wäre ihm spätestens beim Küssen, falls das dabei noch stattfinden sollte, die Unbequemlichkeit des glimmenden Sargnagels aufgefallen? Die Frau fürchtete mit Recht, sich beim Akt die Lippen zu verbrennen.
Soweit gelangt mit unseren Überlegungen, unwillig wegen verschiedener Hirnrissigkeiten, möchten wir unsere EG-Gesundheitsminister höflich fragen, weshalb sie ihre hochpreisige Werbekampagne gegen das Rauchen beim Sex nicht mit einer logisch naheliegenden Warnung vor Aids koppelten. Offensichtlich plant das junge glanzvolle Paar der Annonce einen ungeschützten Geschlechtsakt. Wäre es da nicht angebracht, die rechte Hand der Schönen, die dem Herrn die Zigarette mundraubt, durch ihre linke Hand, die jetzt unbenutzt am Bildrand verschwindet, zu vervollkommnen, mit der sie ein Dutzend prächtiger Präservative offeriert? Dann machte sich der Text bezahlt: Rauchen und ungeschützter Verkehr gefährden die Gesundheit …
Die 45. Folge unserer menschenfreundlichen Saxonia-Serie enthielt eine erotische Story. Jetzt nach der Sommerpause erinnern wir uns mit dem 47. Kapitel an diese schönen jugendlichen Abenteuer der Vergangenheit, als Cybersex noch ins Reich der Sciencefiction-
Vor einigen Wochen wiederholte Arte den französischen Erotik-Schocker Die Ausgebufften mit Gérard Depardieu, Miou-Miou, Patrick Dewaere, Jacques Chailleux, Brigitte Fossey, Isabelle Huppert und der liquidatorischen Selbsttöterin Jeanne Moreau, Regie Bertrand Blier. Der Film entstand im Jahr 1973. Von diesen wilden Seventies wenigstens zu träumen, braucht es Arte.
Ebenfalls aus Frankreich stammt Simone de Beauvoir's pessimistisch-
Während hier von schönen erotischen Vergangenheiten die Rede ist, bricht die Politpornographie in unsere Gegenwart ein. Wir Deutschen sind schon Prachtkerle. Kaum sind wir vereinigt worden, geht's Richtung Osten und Asien voran. Der FAZ-Leitartikel am 13. August 2008: »Die Opfer früherer russischer und sowjetischer Aggressions- und Expansionspolitik haben ein sehr viel feineres Gespür für das Wiedererstarken der imperialen Triebe in Moskau als die Länder im Westen, die niemals das sowjetische Joch ertragen mussten.«
Wir kommen, wir Opfer des sowjetischen Jochs? Am 14.8. eskaliert die Hetze gegen Russland noch. Am 15.8. geht es gegen den deutschen »Schuldkomplex aus dem Zweiten Weltkrieg«, man solle nicht weiter »dem Kreml um den Bart gehen«, denn das »Russland Putins … will nicht, dass seine Vergangenheit vergeht«. Spricht hier Ernst Nolte? Die Kanzlerin wird aufgefordert, der »russischen Führung zu verdeutlichen, dass deren Härte künftig auch im Westen Härte erzeugt.« – »Gerade die Deutschen, die wie keine zweite Nation aus der Geschichte lernen wollten, sollten am wenigsten zum Appeasment neigen. Die bequemen Jahre der nahezu konfliktlosen Sonderbeziehung zu Russland sind vorbei. Das ist der letzte Akt der außenpolitischen Emanzipation des vereinten Deutschland.«
So also donnert ein klassischer FAZ-Krieger und der Pulverdampf heldischer Vergangenheit erfüllt wieder die Räume: Ende der »konfliktlosen Sonderbeziehungen mit Russland«! Dazu also soll die deutsche Einheit gut sein? Das schwafelt von der »roten Linie«, die von den bösen Russen in Georgien überschritten worden sei und kapiert nicht, dass durch ihn und seinesgleichen dort die Grenze Richtung Stalingrad verletzt wurde. Das Kalb von der Kuh, die den Ochsen Napoleon und Hitler nach Moskau folgen möchte, sollte auf die heimatliche Weide zurückgeholt werden, bevor es Winter wird.
Merkelchen, die du in Leipzig Physik studiertest, so greife doch zum Schraubenzieher und stoße ihn den anglogermanischen Triebtätern dorthin, wo Arschtritte offenbar nicht mehr genügen.
Ausgleich Wenn wir für jeden Mord,von dem wir Kunde kriegen, einen Menschen neu erschaffen müssten – mein Gott, wie lange müssten wir im Bette liegen. Wieviel Liebe wär zu schaffen. Welche Nähe. Das Intime, das geschähe, scheuchte uns zurück zu unsern Vorfahrn, diesen friedensvollen Affen. Am Montag, den 15. September 2008, folgt das nächste Kapitel.
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Gerhard Zwerenz
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