Goethe bei Anna Amalia und Herr Matussek im Krieg
Vor dem Hintergrund der Geschichte betrachtet ist Sachsen heute nur noch der Schatten seiner Vergangenheit. Von der schrumpfenden, überalternden Bevölkerung bis zur reduzierten Wirtschaft herrscht der Mangel, den auch der Zulauf von Wölfen aus den Karpaten nicht ausgleicht, zumal Dresdens Politiker nicht genau wissen, ob sie im Sumpfe leben oder auf August des Starken Diamantberg. Die Wölfe sind Höhen und Hügel gewohnt, ganz wie Erzgebirgler und Vogtländer, von denen es immer weniger gibt. Sachsen ist Deutschland im kleinen. Als die Gelegenheit günstig war, schickte ein Gott namens Stalin seinen garantiert echt Leipziger Sachsen Walter Ulbricht nach Berlin, wo er mit dem Fleiß des Pleißeaners die Geburt der DDR betrieb, ein Teil-Deutschland zwar nur, doch immerhin als Groß-Sachsen das Gegenstück zu Adenauers Geständnis, ihm sei ein halbes Deutschland ganz lieber als ein ganzes Deutschland halb. Weil keine ehrliche Verhandlung stattfand, handelten zwei Obrigkeiten, eine jede Halbheit gegen die andere. Der Konrad war schon immer westseparat, der Walter ostrevolutionär. Konrad wollte sogar Atomwaffen dazu.
Ulbricht agierte als geschichtsbewusster Leipziger. Bei der Völkerschlacht anno 1813 hatten die Sachsen, die mit Napoleon gen Moskau gezogen waren, die Fronten gewechselt und statt mit den Franzosen gegen die Russen mit den Russen gegen die Franzosen gekämpft. Das kostete sie zwar einiges Land, wurde aber zum Beginn ihres wirtschaftlichen Aufschwungs. Walter Ulbricht knüpfte 1945 bei 1813 an. Wer das heutige Sachsen seiner Schwäche wegen mit der DDR begründet, macht es sich zu leicht. Die DDR war wie Sachsen hochleistungsfähig, der Untergang hat andere Ursachen. Das Land war seiner Struktur nach ein Erfolgsmodell. Vom Reichtum des Silbers aus dem Erzgebirge zeugen Dresdens Schatzkammern. Vom prachtvollen Meißner Porzellan nicht zu reden. Von Stein- und Braunkohle lebte die Industrie. Chemnitzer Maschinenbau, Zwickauer Autowerke, westsächsische Textilfabriken waren nicht totzukriegen, bis 1990 eine kapitalgeile Westkamarilla die in Ostberlin dahindämmernde Politbürokamarilla überrumpelte. Fatalerweise lizensiert von Moskauer politbürokratischen Traumtänzern, die plötzlich Sozialdemokraten sein wollten und dabei die DDR als letztes Hemd verspielten. Alles nicht so schlimm? Schlimm aber: Es musste nicht so kommen. Kann sein, das Ende des sowjetischen Sozialismus-Modells diskreditiert jeden neuerlichen Versuch einer Alternative zum End-Desaster der Kapital-Welt Die DDR jedoch hatte eine reale Alternative – es gab den 3. Weg von Brecht-Bloch-Behrens. Brecht die Poesie-Poetik. Bloch die Philosophie. Behrens die Ökonomie. Die DDR mit dem sächsischen Reformationsmotor. Die Leitungs-Eliten beider deutscher Staaten befanden sich nicht auf vergleichbarer Höhe mit jenen alten chinesischen Weisheiten, die den eigenen 3. Weg wiesen, auf den die gelben Roten einschwenkten. Wer vom Kapital nicht stranguliert werden will, schafft sein eigenes Wunder: Kapital unter marxistischem Kommando. Davon können Russen und im besoffenen Stolz vereinte Deutsche nur träumen, wenn ihnen die Trümmer ihrer emsig gepflegten Fehlspekulationen um die Ohren fliegen.
Ich behaupte, Schwangerschaften sind eine Stilfrage. Beim Betrachten von Neugeborenen wird ersichtlich, sie wären lieber dringeblieben. Laut protestieren sie gegen das unwirtliche falsche Leben, in das sie gestoßen werden. Wer alt genug geworden ist, kann sich gut erinnern. Das Langzeitgedächtnis hilft flott auf die Sprünge. Im Krieg war ich ein guter Soldat, die schlechten trifft's zuerst. Wer desertieren will, muss gut schießen können. Im Lager, Winter 44/45 Bobruisk, den Verwundeten fressen Maden den Eiter von den Wunden, in den Verbänden wimmeln Läuse und Wanzen. Verstopfungen, die Toten haben knochenharte Bäuche. Ich grub mir den Kot mit Fingern und Löffelstiel aus dem After, das Blut vom Darm an den Fingerspitzen, der Kot zu klirrenden Stücken und Splittern gefroren. Mir wird klar, es ist vergeblich gewesen, ich werde draufgehen – kommt nicht ein Wunder. Das Wunder kommt, ich marschiere täglich im Kommando zur Schnapsfabrik. Man muss den Wundern nur weit genug entgegengehen, ich versorge den Schwarzmarkt mit Schnaps, bin ein reicher Gefangener, mäste mich, besteche Friseur und Lagerleitung, trage langes Haar und gute Kleider. Im Jahr drauf wieder ganz unten. Die Administration brennt, an dem Bau arbeiten wir seit Kriegsende. Er ist fertiggestellt, wird eingeweiht mit einem Freudenfeuer, in dem an die hundert hohe Funktionäre braten. Babschek, der Bessarabier, erzählt im Lagerlazarett davon, wo ich liege, die Schusswunde am Unterschenkel hat sich geöffnet, Babschek hat ein Stück Fleisch mitgebracht, das gebratene Fleisch legt er auf meine Bettdecke. Dreck musst du schlucken! Das Fleisch duftet. Das Feuer ist an mehreren Stellen zugleich ausgebrochen. In allen Stockwerken brannte es, berichtet Babschek. Die Herren saßen im Kinosaal und weihten ein. Feierlichkeit hatte von ihnen Besitz ergriffen, sie schmorten an, da merkten sie erst, es brannte, und die Türen des Kinosaals waren von außen verschlossen. Danach fand man Plakate angeschlagen: DIE SCHWARZE HAND. Eine konterrevolutionäre Geheimorganisation. Oder waren es faschistische Kriegsgefangene gewesen? Das Stück Fleisch auf meinem Bett duftet köstlich. Man tischt gebratene Russen auf. Ich hab seit Wochen kein Fleisch zu sehen bekommen. Dreck musst du fressen, willst du davonkommen. Was ist das für'n Fleisch, Babschek? Herrlich riechendes knuspriges Fleisch. Wunderbares Fleisch. Du wirst deine Zähne in das Fleisch schlagen, willst du davonkommen. Ich schlag die Zähne in das Fleisch. Ich ahne, was es auf sich hat mit dem Bratenstück. Dreck musst du fressen, wenn du davonkommen willst. Ich werde mich nicht im Panzergraben vor der Stadt beerdigen lassen. Ich habe Russland nicht im Kriege überstanden, es nach Kriegsende nicht zu überstehen. Fleisch musst du bleiben, willst du entrinnen. Ich weiß, was es damit auf sich hat. Mich überrascht nicht, was über das Lager hereinbricht, die Verhaftungswelle, auch Babschek wird weggebracht, alle sind abtransportiert worden, die mit Knusper-Leichen Koch spielten. Den Leichen ganze Fleischbrocken herausgeschnitten. Im Lazarett liege ich, Eiter und Wasser produziert meine Wunde, weißt du, wie das Fleisch schmeckt, das dich rettet: Man handelt im Lager damit, die Razzien verfehlen ihr Ziel, man kauft und verkauft gebratenes Russenfleisch, tranchiert, man lebt und überlebt, zahlt und malmt, Blutwasser und Eiter treten aus meinem Bein, während ich schlinge: Schließe dich Wunde, schließe dich – wohin kann man den Menschen bringen, daran, an all das und das andere, das noch nicht geschrieben wurde, denke ich, wenn ich die Bürgerblätter lese und sehe, was die Bürgersöhnchen und Bürgerväterchen schreiben. Meist langweiliges dummes Zeug. Manchmal, wenn sie sich giften, wird's amüsant. Wie sie sich mühen, einem hinter den Rücken zu gelangen, das Messer dort zu landen - wie sie sich anschleichen, die süßen Heuchler, Giftmischer, mein Gott, der es dich nicht gibt, kannst du nicht wenigstens ein ganz klein bisschen existieren und eine Landschaft mit besseren Figuren schaffen? Die Abtreibung durch Verbrennen ist etwas aus der Mode geraten. Früher zählte der Feuertod für Abweichler in Glaubensfragen zum Alltag. Inzwischen wurde der Scheiterhaufen per Napalm industrialisiert. Einzelfälle erledigt man durch gezielte Tötung, soweit die westliche Wertegemeinschaft reicht. Die östlichen Wertegemeinschaften antworten darauf mit Terror. Den betrieben im 2. Weltkrieg die Partisanen. Wie der Feuertod wurde auch die kalte Abtreibung modernisiert. Einst benutzte man Stricknadeln, schluckte Chinin, sprang vom Tisch oder verprügelte den anschwellenden Bauch. Wer trotzdem nicht wich, kehrte bald um, weil's zu kalt war, Hunger herrschte, Masern grassierten oder die Pest, Cholera, Tbc. Übern Daumen gepeilt dürfte etwa die halbe Menschheit vor oder nach der Geburt abgegangen sein. Mit den lebend gebliebenen Massen hatten die Eliten der Völker noch genug Last und Ärger, sodass sie ihr Volk wenigstens durch Kriege auf ein ertragbares Maß reduzierten, wie es sich gehört in gläubigen Klassengesellschaften. In postmodernen Zeiten werden die Lebensfragen der Bevölkerung demokratisch geregelt. Beliebt ist die Separation. Zur Maifeier 2010 separiert sich Dresdens CDU durch ihren Stadtchef Lars Rohwer von der Teilnahme, weil die Gewerkschaft den „bekennenden Marxisten“ Klaus Ernst reden ließ. Zwischen Hof- und Frauenkirche sei so was gegenüber den Gläubigen gefühllos. Gerhard Besier attestiert dem kleinen Christenführer ein „Hassverhältnis“ zum politischen Gegner. Der Mann weiß Bescheid. War mal Chef des ungelüfteten Hannah-Arendt-Instituts, lüftete es aus und ging und sitzt jetzt für Die Linke an der Elbe im Landtag, wo er den Freistaat zu entprovinzialisieren hilft, was weltläufiger Mehrheiten bedarf. Landtage sind offensichtlich Brutstätten gestriger Helden, die als Gespenster irrlichtern. In Niedersachsen will eine couragierte neue Sozialministerin die obligatorischen Kruzifixe aus den Klassenzimmern abtreiben und kapituliert am Tag darauf vorm abendländischen Hofstaat. Ein halbaufgeklärter Kirchenbruder redet vermittelnd von den 3 Buchreligionen und verschweigt die 4. der Marxisten, dazu die ganz und gar alphabetisierten Glaubenslosen, weil: Für eure Religionskriege wurden schon genug Köpfe eingeschlagen. Bertolt Brecht: Volk ist Pöbel, Gott ist ein Faschist. Auf den Koppelschlössern des deutschen Heeres stand geschrieben Gott mit uns. War der Herr dagegen? In Düsseldorf tobt ein Landtagswahlkampf: Alle gegen die Kommunisten, die gar nicht beteiligt sind.„Das Duell der Köpfe“ dichtet am 30. April die FAZ, obzwar der Weltuntergang doch erst zum 30. Mai angesagt ist und es nur um die feindlichen Fußballtrainer von Schalke und München geht. Da sei zugestanden: Soviel Grips und Energie wie beim Fußball in die Politik – das liefe alles verdammt viel flotter. In Crimmitschau erschien von 1870 bis 79 die erste sozialdemokratische Tageszeitung Deutschlands. Für mich war Crimmitschau ein durch die Pleiße verbundener Vorort von Leipzig. Mit der Kriegsteilhabe von 1914 und dem Revolutionsverrat von 1918 spaltete die Arbeiterbewegung sich überall in Sozis und Kommunisten. Was tun, Genossen? Im Dreißigjährigen Krieg wurde Crimmitschau besetzt, geplündert und abgebrannt. Im Siebenjährigen Krieg schlugen sich hier Preußen und Österreich die Köpfe ein. 1813 blickten die Crimmitschauer neugierig nach Leipzig, von wo Napoleon wie vordem aus Moskau fliehen musste. 1824 gab es in Crimmitschau die erste Dampfmaschine. Die Kontinuität Sachsens begann mit Industrie, Arbeiterbewegung und Handel. Am 30. April 2010 fragte die FAZ tief besorgt:: „Was soll nur aus unseren Gehirnen werden?“ Was aus kaputten Organen werden kann, ist unser Ding nicht. Was Sachsen betrifft, werden die Einwohner sich entscheiden müssen. Am Beginn unserer Serie fragten wir: Wie kommt die Pleiße nach Leipzig? und etwas später: Wird Sachsen bald chinesisch?
„Knaben liebt ich wohl auch, doch lieber sind mir die Mädchen,
Hab ich als Mädchen sie satt, dient sie als Knabe mir noch.“ (Venezianische Epigramme Nr. 144, erst seit 1914 bekannt)
„Dich betrügt der Staatsmann, der Pfaffe, der Lehrer der Sitten,
Und dies Kleeblatt, wie tief betest du, Pöbel, es an. Leider lässt sich noch kaum was Rechtes denken und sagen, Das nicht grimmig den Staat, Götter und Sitten verletzt.“ Diese Nr. 112 wie Kaviar genießend denke ich, der Pfundskerl war ja so modern, der könnte glatt von heute und morgen sein. Von heute ist ganz und gar Hartwig Runge aus Leipzig, der mein Pseudonym Gert Gablenz vor kurzem auf einen Gaul des Karl May setzte. (22. Nachwort) und mich höflichst an den Juni 2005 und die Folge 4 unserer Sachsen-Serie erinnert:
Korrektur: Am Ende vom Nachwort 24 wunderten wir uns, dass die Journalistin Barbara Supp im Spiegel (26.4.2010) eine ganze Seite gegen unseren Freiheitskrieg am Hindukusch schreiben durfte. Der Fehler wurde bereits im nächsten Heft (3. 5. 2010) ausgemerzt. Aus Supps Schmutziger Wahrheit wurde schnurstracks Matusseks Gerechter Krieg. In Hamburg heißt es, der tapfre Gala-Matthias plane, an der Spitze einer nationalen Katholiken-Brigade den heiligen Krieg am Hindukusch selbst zu Ende zu führen. Zur Vorbereitung empfehle ich die Lektüre der Spiegel- Ausgabe Nr. 41 aus dem Jahr 1986, wo ein gewisser Rudolf Augstein über das Buch Zweierlei Untergang von Andreas Hillgruber anmerkte: „Wer so denkt und spricht, ist ein konstitutioneller Nazi, einer, wie es ihn auch ohne Hitler geben würde.“ Na da spielt mal wieder schön Krieg, ihr Krisenweltmeister. Ein weiteres Nachwort ist für Montag, den 17.05.2010, geplant.
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Gerhard Zwerenz
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