Gerhard Zwerenz
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte
Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | 78. Nachwort
Dies ist eine sächsische Autobiographie als Fragment in 99 Fragmenten. Schon 1813 wollten die Sachsen mit Napoleon Europa schaffen. Heute blicken wir staunend nach China. Die Philosophen nennen das coincidentia oppositorum, d.h. Einheit der Widersprüche. So läßt sich's fast heldenhaft in Fragmenten leben.
78. Nachwort |
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Die Heldensöhne der Urkatastrophe
Antonio Gramsci | Karl Napp Leiter des früheren Frankfurter Chaos-Theaters
Links, rechts oder einfach eine Mitte zu sein reicht nicht mehr. Es fehlt an Substanz. Der Sozialismus als ungefähres Ziel leidet analog zum Christentum an horrender Begriffsschwäche. Selbst das honorige Alleinstellungsmerkmal der Linkspartei, die einzige radikalsoziale Friedenspartei im Bundestag zu sein, führt nicht zum Ausbruch aus der 10%-Falle.
Der naive Populärmarxismus verleitet die Genossen zu Äußerungen, die den optimal antilinken Medien Gelegenheit zu wirkungsvollen Querschüssen geben. Was also tun? Die Frage ist zwar richtig, die Antworten aus dem Moskauer Mausoleum aber sind irreal, wo nicht panoptikal. Sie tarnen nur Rat- und Hilflosigkeit. Die vielen Stolpersteine der Linkspartei sind konstituierende Teile vom bürgerlichen Untergangsszenario. In den Anfangszeiten der Grünen gab es in der Main-Metropole zunächst das kabarettistische
Karl Napps Chaos Theater und dann das
Vorläufige Frankfurter Fronttheater. Die Grünen verkommen inzwischen zur 3. Westvolkspartei, das übliche Umfaller-Gelaber bildet den Berliner Überbau. Der besteht nicht mehr wie die Marx-Plapperer meinen, aus Ideologie, sondern aus Chaos und Panik. Anders gesagt, das Dach hat einen veritablen Dachschaden.
Die alerten Linken entdecken nun die schönen Hegemonie-Ideen des Antonio Gramsci. Die galten in der DDR wenig, als die werten Genossen dort noch die Hegemonie innehatten. Kaum ist die Macht im Eimer, soll Gramsci helfen. Marx bleibt zeitgemäß. Der Marxismus hat Verspätung eingebaut.
In der
Freitag-Community veröffentlichte das aparte Pseudonym
apatit am 31.1. 2012 um 9:25 Uhr diesen Text: „ein schöner Artikel dazu von Gerhard Zwerenz:
Die Verteidigung Sachsens und warum Karl May die Indianer liebte. Sächsische Autobiographie in Fortsetzung | Folge 81 ›Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein‹.
Dieser Tage brachten ein paar mediale Eierköpfe wiedermal den hausbackenen Streit in die Schlagwerkzeilen, ob die DDR ein oder kein Rechtsstaat gewesen sei. Ein letztes Mal zum Mitbuchstabieren auch für Lese-Anfänger: Die DDR war kein Rechtsstaat, sondern ein angefangener, abgetriebener Linksstaat. Die Bonner Republik war ein rechter Staat in der Nachfolge des Dritten Reiches. Der Führer ging, zu viele seiner Generäle und Beamten blieben. Die DDR begann als Diktatur der siegenden Sowjetarmee und entwickelte sich zur Diktatur über das Proletariat, wie Trotzki die angestrebte, aber missratene Diktatur des Proletariats beizeiten nannte, bevor das Proletariat als Prekariat verstummte.
Vordem hatten deutsche Arbeiter in Wehrmacht- und Waffen-SS-Uniform die als Rotarmisten verkleideten russischen Arbeiter zu vernichten gesucht. In Wahlkämpfen und je länger die DDR vergangen ist desto lauter geben sich immer mehr tapfre Widerstandskämpfer zu erkennen. Hinzu kommen West-Knaben, die als beamtete Schriftsteller getarnt, ihre Leser mit Büchern malträtieren, indem sie mit diesen auf gefesselte Köpfe einschlagen, was als chinesische Folter bekannt ist. Inzwischen begreifen wir, Kommunisten sind Nazis, Hitler irrte, als er Thälmann erst jahrelang einsperrte und dann erschießen ließ, bevor der Gröfaz selbst zu einem Opfer des Kommunismus wurde.“
Der Verweis in der
Freitag-Community auf unsere
Folge 81 „Der Stolz, ein Ostdeutscher zu sein“ erfreute. Kopf hoch, auch wenn's schwerfällt und alles säuerlich dahinvegetiert, schimpft, alten Feindseligkeiten neue anfügt, weil's gut honoriert wird oder zur Lage besser passt als die Mühen der intellektuellen Revolte gegen die bequeme Rückkehr in alte Zeiten und erstarrte Fronten. Der
Spiegel am 14.5.2007:
Kriminalität – Sächsischer Sumpf. Als wenn's nur das wäre. Der
Spiegel am 11.8.2011:
Sachsen – Die Härte des Systems ... Aus dem Sumpf zur Härte? Ein Deutschland ohne traditionell linkes Sachsen gleicht einem Bayern ohne CSU-Schwarze. Es fehlt die
Welle der Wahrheit –
Spiegel vom 2.1.2012. Es ist sonst zuviel
Brauner Bluff dabei –
Spiegel 17.10. 011. Der
Spiegel spiegelt, aber zu spät. Vor mir häufen sich Dutzende Ausgaben des Hamburger Nachrichtenmagazins mit Artikeln zu Ernst Bloch seit den fünfziger Jahren. Das bedarf der Entschlüsselung wie Blochs Person und Werk. Dabei dreht es sich nicht um den bloß historischen Vorgang, sondern um die Abfolge von Fehlern. Das Ende von DDR und SU sowie die Misere des 21. Jahrhunderts sind Folgen der Urkatastrophe von 1914 – 18.
Weder Ingrid noch ich können überschauen, wie oft wir zusammen oder jeder von uns separat mit Bloch in eine interne Gesprächssituation geraten sind, wie ich die Konstellation nenne, in der Bloch nicht monologisierte, sondern lage- und themenbedingt reflektierte, d.h. bei ihm dekonstruierte und auf ein anderes Surplus zusteuerte als erwartet wurde, falls er sich nicht selbst überraschte, weil die Spurensuche auf neue Spuren führte. Die Spurensuche wird zum Erzählprozess. Rainer Werner Fassbinder, begann er einen Film, geriet in diesen Sprachmodus, wenn er über das Projekt redete, nach-, nein, vor-denkend, es wird etwas entstehen, ist etwas aufzufinden, das noch herausgearbeitet werden muss. Von Prozesshaftigkeit sprechen die Philosophen, doch der Begriff stellt nur logisch und formal zufrieden, ermangelt er doch des Phantastischen. Anders gesagt – des Faustischen.
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Alfred Kurella
Peter Hacks
Beide Autoren in saueren Frontpositionen gegen Bloch und Zwerenz
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Bei einem der ersten nächtlichen Privatgespräche in Blochs Haus in der Wilhelm-Wild-Straße beschwerte er sich über die „Lücken im Marxismus“. Hans Pfeiffer hakte nach und Bloch wich erst aus, dann lieferte er aus dem Stand Extra-Lektionen über Aristoteles und Kant. Auf dem nächtlichen Rückmarsch zur Stadtmitte rätselten Hans und ich über die Motive und kamen überein: Der weise Alte hatte mehr zu sagen als er (öffentlich) sagte. Zum Fachbegriff Sklavensprache gelangte ich erst später. Bei der Wahl meines Buchtitels
Aristotelische und Brechtsche Dramatik stand Aristoteles allerdings doppelt Pate. Blochs nächtliche Lektion hatte die Fährte gewiesen. Zaghaft schlug ich noch Nebenpfade ein, also Kunst-Theater-Dramaturgie, was mir sofort Kontroversen mit Hacks und Kurella eintrug. Hacks verübelte mir eine nicht vorhandene Brecht-Gegnerschaft, in die er kurze Zeit später, zum BB-Feind eskalierend, selbst verfiel, und Kurella suchte mich gegen Bloch einzunehmen, was ich mir verbat. So entstehen und verfestigen sich total irre Frontpositionen. Die reale Sprengkraft der aristotelischen Sprach-Logos-Philosophie ging mir erst auf, als es für den Verbleib in Leipzig zu spät war, weil Ulbrichts Politbüro Bloch für einen Konterrevolutionär halten wollte und mich für sein Sprachrohr. Deswegen die Siegfried-Wagner-Oper am 30. Januar 1957 in der Leipziger Kongresshalle. Obwohl der heute im Schwange befindliche
Stolz nicht mein Fall ist, Stolz wächst oft auf krummen Holz, fühle ich mich wohl, denke ich an zwei Abschiede, auch wenn sie mich teuer genug zu stehen kamen: Da ist die Wehrmacht, als sie mich im August 1944 östlich von Warschau vermisste, und da ist meine Partei, die im Juni 1957 endgültig nicht mehr meine Partei sein wollte und mich begründet ausschloss. Vielleicht sollte ich als dritten Punkt noch Papiere des Verfassungsschutzes beiziehen, doch das führte nur ins Land des Lächelns, wie wir gutartig dieses unser Land der Lächerlichkeit einmal nennen wollen.
Bereits die
Folge 2 dieser Serie fragt: „Wird Sachsen bald chinesisch?“ Mehr ist von keinem Land zu verlangen, ausgenommen Tibet. Die Serie hier ist ein Weltroman, in dem die Chinesen die Rolle der Indianer bei Karl May spielen. Er liebte die Roten. Unsere Chinesen wurden als Gelbe zu Roten und haben trotzdem Kapital geschaffen. August der Starke suchte einst die Nähe der Polen. Heute geht es nicht um Königsherrschaft. China ist keineswegs, was Polen gestern war. Sachsen braucht die Öffnung zur Welt. Russisch und Chinesisch sind verlangt. Sachsen ließ seine Slawisten und Sinologen austreiben. Es ist nicht auf der Höhe seiner Möglichkeiten. Unser Weltroman spielt in Leipzig exakt in
Auerbachs Keller. Alles drumherum gehört dazu. Die Pleiße spielt den Mississippi, den Nil und Jangtsekiang, die Wolga noch obendrein. Wenn ihr wollt. Das werte Abendland muss nicht untergehen, nur weil Fernost aufgeht. Die
15. Folge unserer Serie steht unterm Titel „Mein Leben als Prophet“. Sahra Wagenknecht, tv-erprobte Auswendig-Kennerin des
Faust sei gefragt, wo und was der Herr über die Abenteuer der Semantik dichtete. Prof. Korff, Goethes Nachfahre an der Leipziger Universität im 20. Jahrhundert, soll darüber Vorlesungen zelebriert haben. Zauberhafte Vergangenheit? Inzwischen eskaliert der Karneval von Köln bis Irgendwo zur letzten Weltrevolution.
Die DDR stand 1956 also vor der Frage Entstalinisierung oder Restalinisierung. Ersteres verlangte nicht nur nach Reformen, sondern nach einer revolutionären Reformation an Haupt und Gliedern, was in Berlin und Leipzig wegen Halbherzigkeit wie in Moskau misslang. Die Betroffenen, soweit sie noch am Leben sind, erinnern sich ungern ihres Versagens. Die Historiker wissen's nicht besser. Das Jahr 1956 war die letzte Chance des sowjetischen Modells. Die nächste Frage ist, wurde Marx mit Stalin begraben oder überlebt er im modifizierten Kapital, wie die Exempel China und Vietnam nahelegen können. Gibt es also einen kommunistischen Kapitalismus? Falls nicht, ist China nur Zeitgewinn. Wenn ja, eröffnen sich neue Horizonte.
Blochs Linksstellung war original. Das Engagement für die Sowjetunion folgte dem des Freundes Georg Lukács nach. Seine Differenzierung modifiziert sich jedoch in zwei Besonderheiten: Loyalität zu Moskaus Kurs bei camouflierter Originalität zur Theorie und Philosophie. Das war 1956 nicht mehr möglich. Also Trennung in Abstufungen. Blochs Sohn Jan Robert zog daraus die Konsequenz, seinen Vater als gänzlich eigenständigen Denker zu sehen. Dafür gibt es bisher unerörtert gebliebene Gründe. Blochs Werk bedarf schon ab
Erbschaft dieser Zeit (1935) der Entschlüsselung. Die Partei ahnte das und bagatellisierte es zugleich, indem sie Bloch aus Imagegründen aus dem amerikanischen Exil nach Leipzig holte, das Erbschafts-Buch aber in der DDR nie drucken ließ. Meine frühen Entschlüsselungsversuche fanden im Parteiausschluss-Protokoll vom 6.5.57 ihren aus Sicht der Herrschaft berechtigten Ausdruck: Das Gegenteil ist zutreffend. Es ist wie ich für die Lektüre des Bandes
Ernst Blochs Revision des Marxismus 1957 vorschlug, das Gegenteil der feindlichen Schlussfolgerungen richtig. Wo aber nicht richtig, so doch näher am Subjekt – Objekt.
Die Vorgänge von 1956/57 um Bloch – und Lukács – in Leipzig und Berlin wurden in all den vergangenen Jahren nie gänzlich aufgeklärt und abgearbeitet. Das hat seine Ursachen. Inzwischen leben nur noch wenige direkt Beteiligte und Betroffene. Alles spielte sich in kleinen Kreisen ab. Intensive Kenntnisse gab es nur am Leipziger Philosophischen Institut. Das waren einige Dutzend Eingeweihte. Bei der Partei verliefen die Informationen abgeschottet über die Führungsgremien bis zu Walter Ulbricht im Politbüro, wo die Entscheidungen fielen. Mit dem Ungarn-Aufstand von 1956 gerieten Lukács und Bloch an die Spitze der verdächtigen Linksintellektuellen. In Budapest und anderen Orten bereinigte die Rote Armee die Lage. In der DDR erledigte das Walter Ulbricht. Ungern zwar und leicht verspätet und bald inkonsequent, indem er einen Teil unserer Ideen übernahm. Ich schrieb mir die Finger wund und alles auf. Wozu? In unsere Hausbibliothek hinabsteigend schreie ich die Bücher an, meine von mir verfassten und die 300 geretteten aus der Gablenzer Bodenkammer-Bibliothek. Ihr Untoten mit eurem ewigen Schweigen, ihr maulfaulen Last-Esel. Sinnlos ist es, den Hiob zu spielen, denn euer Gott ist tot. Ach du kleines Nietzschelein, der Friederich, der Wüterich, der Liederlich, und wo beschwert sich einer wie du und ich? Bei der Polizei? Der Regierung? Der Feuerwehr? Beschwer dich bei dir selber, du Nerventrampel. Hast du betriebsbedingte Störungen? PTBS – Posttraumatisches Belastungssyndrom – Belustigungssymptom. Der Briefträger bringt die Post immer später. VEBS – Volkseigene Belastungssymptome. Was brauchen wir Gott, wenn wir Übermenschen haben bei den Parteien, die wissen, wo's langgeht. Und wo geht es lang, ihr Über-Iche? Inzwischen wissen alle alles und gar nichts. Aber sie reden pausenlos darüber. Ein alleinziges Talkgedröhn von lauter Übermenschen und ergo Über-Ichen, solange sie nicht aus der Rolle und Reihe fallen. Doch unsere klugen Bücher wagen auch keine Revolte. Außer der Sprachrevolte, die der Übersetzung bedürfte.
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Harich – Seidel – Zwerenz | Treffen im Aufbau Verlag 1956
Im Sommer 1956 machte Wolfgang Harich mich in seinem Arbeitszimmer im Berliner Aufbau-Verlag mit Helmut Seidel bekannt. Der komme eben vom Studium in Moskau zurück, geht zu euch nach Leipzig. Ein Halbjahrhundert später spreche ich Seidel beim Erinnerungstag an Blochs 120. Geburtstag im Leipziger Mendelssohn-Haus auf die Begegnung an. Er erinnert sich nicht. Kein Wunder. Richard Ritterbusch, einer der frühesten E.-B.-Studenten, erzählte mir vor kurzem: Seidel kam 1956 aus Moskau ans Leipziger Philosophische Institut und begann gleich auf Bloch zu schimpfen. Nun ja, der Karriere wäre es nicht förderlich gewesen, hätte Helmut S. eingeräumt, Harich habe ihn in Berlin mit Zwerenz bekanntgemacht. Sowas vergisst sich besser. Jahrzehnte später saßen wir in Leipzig mit Seidel beieinander, was Blochs Sohn nicht mochte, der sich zu genau an Seidels Anti-Bloch-Periode erinnerte.
Seidel wollte sich korrigierend annähern. Wir verabredeten uns. Als er wegen eines Termins telefonierte, musste Ingrid ihm sagen, ich sei gerade mit Herzinfarkt auf dem Weg in die Klinik. Monate später rief ich in Leipzig an und hörte von Frau Seidel, ihr Mann sei eben verstorben. Hörst du Mephisto flüstern? Der Tod hat bei ihm Station gemacht? Wir wollten einiges bereden. Er wusste etwas. Hatte es an der Pleiße bis zum Lehrstuhl gebracht, den Vorgänger klammheimlich gelesen, war auf den ursprünglichen Marx gestoßen, sah sich urplötzlich angefeindet von den universitären Ochsenknechten, die den Vorgänger schon ausgetrieben. Ihre 12. Feuerbach-These verordnet den Sieg bis zum Untergang. In den sie verliebt sind.
Professor Seidel wusste mehr als er hatte sagen dürfen. Nach dem Ende mit Wende moderierte er eine meiner Lesungen in Leipzig. Ich deutete meinen Plan an: Goethes
Faust-Szene in
Auerbachs Keller. Kafka als Türwächter aus seiner eigenen Erzählung
Vor dem Gesetz – doch nicht vor dem Gesetz postiert, sondern vor
Auerbachs Keller, drinnen streiten Faust, Mephisto und Nietzsche um die Szene mit der Erschießung Ernst Jüngers, Regie Bertolt Brecht. Seidel: Ernst Jünger in Leipzig erschießen? Ich: Er kommandierte in Paris die Exekution eines Wehrmacht- Deserteurs. Seidel: Das lässt sich hier nie durchsetzen. Ich: In Leipzigs Straßen demonstrierten 1953 Zehntausende,1989 waren es hunderttausend, was glaubst du, was passiert, wenn dreißigtausend zum Tode verurteilte Wehrmachtdeserteure die Straße bevölkern, nach Freiheit verlangen und rufen: Wir sind das Volk?
Hier war ich auf dem falschen Dampfer. Der Fall Jünger bewegte Heiner Müller, nicht Helmut Seidel. Er war bereit und intellektuell in der Lage, den gesamten Komplex Bloch samt Eskalation von 1956/57 neu zu erfassen. Wir konnten gemeinsam damit beginnen. Jan Robert hielt mich zurück. Ich verstand ihn. Obwohl Ingrid in unserem Sinn auf Blochs Sohn einzuwirken versuchte, vermochte er seine Leipziger Jahre nicht zu vergessen. Für ihn blieb Seidel ein Feind seines Vaters. Als 1961 die Mauer errichtet wurde, befanden Ernst und Karola Bloch sich auf einer Westreise. Jan Robert, bereits in der BRD lebend, wurde nicht die Ursache, doch der Anlass zum Verbleib der Blochs im Westen. Seidels Lehr- und auch Leidensjahre in Leipzig begannen erst. Ich bedaure sehr, ihm nicht näher gekommen zu sein, als es endlich möglich gewesen wäre.
Wäre das Leipziger Bloch-Institut nicht Anfang 1957 mit der Aussperrung des Philosophen abgeschafft worden, könnte es heute noch existieren – so etwa unsere Intention und Idee im Oberreifenberger Hochtaunus-Haus. Unser historischer und zugleich futuristischer Versuch der Stellvertretung ist nicht ohne Vorgänger. Felix Mendelssohn-Bartholdy wohnte in Leipzig, Goldschmidtstraße 12, inzwischen als Mendelssohn-Haus auch Museum, ich schrieb u.a. schon in der autobiographischen Sachsen-Serie darüber, denn meine Studentenbude befand sich zu Blochs Leipziger Zeiten über der Mendelssohn-Wohnung. Von Johann Sebastian Bach über Richard Wagner und Friedrich Nietzsche, von Goethe, Faust, Mephisto nicht zu reden bevölkerten luftige Kulturmärchengestalten die Stadtlandschaft, als Walter Ulbricht die Ringbebauung per Hammerschlag – ohne Sichel, die gehörte in die Sowjetunion – in der DDR gab's den Zirkel – eröffnete. Zum Taunus: Felix Mendelssohn reiste von der Pleiße gern und oft in den Vordertaunus zum Komponieren. So wird Landschaft heimathaft.
Unser Haus-Archiv im Taunus ist unsre Antwort auf meinen Partei-Ausschluss von 1957 und die Haftbefehle, ganz so, wie sie die Folge meiner Weigerung waren, bei Blochs Austreibung mitzutun. Ein halbes Jahrhundert lang stemmte ich mich von Westdeutschland aus weiter dagegen. Ständige Mitarbeit: Ingrid Zwerenz, die es aus Liegnitz über die Mark Brandenburg nach Leipzig verschlug. Ich brauchte nur der Pleiße zu folgen. So dementierten wir Blochs Austreibung samt allen Konsequenzen, die uns trafen und viele andere auch, die wir ebenfalls Auskunft geben lassen können. Die gesammelten Papiere und Artikel häuften sich über Jahrzehnte hin, es gibt Briefe von Harich, Janka, Kantorowicz und wer alles 1957 begriffen hatte, dass sich Chancen zur Veränderung boten, wofür sie repressiert wurden. Das private Archiv auf dem Oberzuckerberg kann sich öffnen.
Gratulation nach Dresden, das im Februar 2012 die Stadt endlich erfolgreich gegen neue Besetzungsversuche verteidigte. Bloch in Leipzig und Klemperer in Dresden sind auferstehungsfähig im Widerruf der vielerlei Austreibungen. Das längst fällige Bloch-Zentrum Ost hat eine Dependance im Taunus und erwartet den Zweitsitz in Leipzig. Zielpunkt ist die revolutionäre Reformation im reformatorischen Stammland mit einem nazifreien Dresden als Vorstufe. Hannah Arendt lässt grüßen? In Chemnitz beraten der große Marx-Nischel und Nachbar Karl May die Strategie. Blochs Feinde, die eifrigen Stalinisten erhalten ihre Chance zur Rehabilitation. Sie müssten sich nur bemühen.
Titel-Auszüge aus der Gablenzer Bodenkammer-Bibliotheks-Liste
Zoom per Klick
Heute antworte ich so, wie es mir ab 1957 in der sächsischen Universitätsstadt unmöglich gemacht worden ist. Ein Halbjahrhundert lang drangen unsere Antworten nicht bis nach Leipzig durch. Mir ist, als säße ich noch im Mendelssohn-Haus und traktierte meine kleine patente
Erika-Schreibmaschine für die
Weltbühne in Berlin. Die Vertreibung aus Leipzig erscheint mir wie eine Analogie zur Vertreibung des Leseratten-Schuljungen aus seiner unvergesslichen Bodenkammer-Bibliothek in Gablenz.
In der großen Krise von 1956 ließ die SU ihre Sowjetarmee den Aufstand in Ungarn niederschlagen. Georg Lukács in Budapest wurde verhaftet und Ernst Bloch in Leipzig zum Konterrevolutionär erklärt. Von Fritz Behrens bis Walter Janka kamen alle möglichen Alternativdenker dran. Wie damals die Ost-Macht, so heute die West-Mächte. Philosophen zu verhaften erübrigt sich mangels Masse. Keiner gibt was anderes von sich als die Mächtigen vorlabern. Pastor Gauck wirbt indessen bei seinen vier Einheitsparteien um den höchsten Posten für sich und ist nachhaltig ergrimmt wegen der Theologie-Kollegin Margot Käßmanns Satz, nichts sei gut in Afghanistan. Er ist lauthals für den Krieg, in dem ja laut Peter Struck (SPD)
die Sicherheit der Bundesrepublik auch am Hindukusch verteidigt wird. Fragt nun jemand den künftigen Bundespräsidenten, wie er's damit halten wird? So seht ihr aus. Eine Elite von leuchtenden Nebelkerzen hält fest am Marsch ins heilige Unheil. Die US-Army ist im Rückzug begriffen von ihren NATO- und sonstigen Kriegsschauplätzen. Heilige Schriften fliegen auf den Scheiterhaufen. Afghanistan im landesweiten Aufruhr – wohin mit der Bundeswehr? Ein wenig Stalingrad gefällig? Was nun, Bu-Prä-Kandidat Gauck? Als die Ost-Macht 1956 ihr Ende einleitete, setzte sie als erstes ihre Panzer in Marsch und ihre Philosophen fest. Die West-Macht kann tun, was sie tun muss. Auf Denker braucht sie nicht zu achten, sie bestellt ja einen der letzten
Heldensöhne der Urkatastrophe zum obersten Repräsentanten im glücklich vereinten Nachfolgedeutschland. Bertolt Brecht in seinem Drama
Schweyk im Zweiten Weltkrieg: „Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihr Schlächter selber.“ Präsident Gauck wird beim Kälbermarsch gewiss eine zu Herzen gehende Predigt halten.
Im
stern vom 23.2.2012 finden sich die Sätze: „Zu tief steckt in ihm wohl immer noch die Erfahrung von 1989, die Angst vor einem dritten Weg. Er hat nicht viel übrig für das, was er ›linke Flausen‹ nennt ...“ Nachdem der Kalte Krieg entschieden ist, beschwört Gauck in seinen Reden landauf landab die Freiheit von ›linken Flausen‹. Als es 1956/57 tatsächlich um den 3. Weg ging, schrieb ich in Leipzig das Gedicht
Die Mutter der Freiheit heißt Revolution, was mir Attacken und Verfolgung eintrug. Heute hieße ein dritter Weg, man wird am Untergangskapitalismus mindestens soviel verändern müssen wie die Chinesen es mit ihrem Maoismus hielten. Die Befreiung von Gauck und seinem so verquasten Freiheitsbegriff gehört zur gelebten Freiheit dazu. Erst wurde Sarrazin gefeiert, dann Guttenberg bejubelt, jetzt vergöttern sie den Dritten im Bunde der Republik. Vom Lob der GENE übern Kratzfuß vor der Adelskopie endlich zum Pastor von gestern als deutschen Christen von morgen. Wenigstens auf 5 Jahre, wenn's bis dahin reicht. Macht doch eure Mutter Maria zur Bundespräsidentin. Als Fremdgängerin mit dem Heiligen Geist stünde sie wenigstens als Model für die Emanzipation der Frau.
Hier sollte das
78. Nachwort enden, doch die Festivitäten um einen gewissen Pastor J.G legen einen Rückgriff auf einen kurzen Text aus dem
32. Nachwort nahe, damit der Wahn nicht weiter wuchert, konstatiert doch selbst der
Spiegel am 27.2.2012 eine „besinnungslose Überhöhung Gaucks“:
Gauck mit seinem Klagelied vom braven Papa, der als Marineoffizier fahnentreu Hitlers Krieg führte und von der SU durch vier Jahre Sibirien ungerecht behandelt wurde, liefert dem christlichen Mittelstand das aufrechte Ideal für seinen Ablösungsprozess vom ungeliebten Antinazi zum altvertrauten Antikommunisten. Da fühlt man sich gleich bürgerlich heimisch und wohlanständig. Und ein Herr Pastor ist der tüchtige Antikommunist auch noch. Zugegeben, ich war auch schon Antikommunist, wenn es gegen Stalinisten ging. Wenn es gegen Kommunisten (Sozialisten usw.) geht, stehe ich für sie wie für mich selbst ein. Das ist eine Frage der Freiheit zur Gerechtigkeit, die ich in Gaucks hohem Predigerton vermisse. Ein Unrecht am Vater und alles Unrecht der Welt, inklusive des von Christen verursachten, schmilzt wie Schnee in der Sonne. Märtyrertum? Der deutsche Christ überlässt es dem kommunistischen Widerstand. Den er danach, ist die Gefahr vorbei, vergisst oder mit Hitler gleichsetzt. Das nennt sich Bürgerrechtler. Ich denke an Gaucks Versuche, Stefan Heym als Stasi-IM zu verunglimpfen. Der verfolgte junge Jude und Kommunist, der als US-Soldat zurückkehrte und sich auch als DDR-Schriftsteller nicht den Mund verbieten ließ, sollte als Alterspräsident im Bonner Bundestag verhindert werden. Gaucks Rufmord scheiterte zwar, reichte jedoch als Grund dafür, dass Kohl und seine CDU-Fraktion sitzen blieben, als der Alterspräsident das Plenum betrat. Heym, Graf Einsiedel und ich saßen am Abend zusammen – drei DDR-
Bürger auf Zeit und auch DDR-Geformte und -Geschädigte, die erfahren hatten, was gaucken heißt. Ich sagte mir, wenn so etwas von Bürgerrechtlern stammt, bin ich zur Verteidigung des Grundgesetzes ein Bürgerlinksler, der den Elitenwechsel vom Antinazi zum Antikommunisten nicht akzeptiert, auch wenn die kapitalunterfütterten Kriegstreuen der Presse samt tv-Plappermäulern ihren geistigen Notstand zur nationalen Pflicht erklären. Der Rufmord an Heym misslang. Dafür erkoren SPD und Grüne den eifrigen, doch zum Glück gescheiterten Rufmörder zu ihrem Bellevue-Kandidaten. Schöne Aussichten? Camus: „Alle modernen Revolutionen haben mit einer Verstärkung der Staatsgewalt geendet.“ Gauck als Bundespräsident mit der Kampfparole Der Feind steht links wäre die personell beglaubigte Rückkehr zum rechten Unrechtsstaat geworden.