Der Mann an der Kasse trägt sein Sonntagsgesicht, die Wärter binden farbige Krawatten um: es ist Feiertag. Man hat die Tiere frisch gewaschen und den Kies auf den Wegen neu verteilt. Sogar die stolzen Störche stehen zur Abwechslung auf beiden Beinen.
Endlich ist Frühling, sagt die Reinemachfrau vom Vogelhaus, und der dicke Kakadu mit dem Federschopf nickt und meint, es sei auch höchste Eisenbahn. Bei uns daheim, sagt er, kommt so'ne Schlamperei nich vor. Wo gibts denn sowas, im Mai noch Kälte! Europa, du sollst dir was schämen! Aber er regt sich nicht richtig auf, heute sind immerhin zwanzig Grad plus. Die Löwen haben über Nacht nicht geschlafen. Sie spüren die Wärme zuerst und lugen sehnsüchtig hinüber ins Freigehege. Jumbo, der Elefant grinst übers ganze verrunzelte Gesicht. Der Rüssel legt sich in Falten, die Stoßzähne zittern. Es muss doch Frühling werden, sagt Jumbo und fängt mit dem Schwanz die erste Fliege. Die Herren Krokodile gähnen wieder, ohne dass ihnen der Speichel im Mund gefriert. Sie liegen in der Runde und klönen, natürlich über Politik. Ein Ehepaar tritt ans Gitter. Das sind die Krokodile, sagt der Mann zu seiner Frau. Die Frau ist rosig. Schick mir mal deine Dicke rein, wendet sich ein Krokodil an den Ehemann. Doch das Paar hat erst vorige Woche geheiratet. Sie trollen sich. Die Herren Krokodile lächeln sachte. Inzwischen lässt der Frühling das Gras wachsen. Grillen lernen das Zirpen, Maikäfer das Fliegen. Menschenkinder das Staunen. Die Tiere liegen friedlich auf dem Bauch und übersehen aus Höflichkeit die Gitter. Den flammigen Tiger beobachte ich am liebsten. Er stinkt nicht ganz so entsetzlich wie die lieben Löwen, und wenn er gähnen muss, hält er die Hand vor den Mund. Er ist fast ein höflicher Mensch, der Tiger. Er kann nicht sprechen, und so unterhaIte ich mich großartig mit ihm. Dann kommt die Fütterung. Klatsch, liegt da ein Fleischbrocken. Ein Hieb mit der Pranke – ach, und keine Serviette? Enttäuscht gehen wir weiter. Hinter den Vogelhäusern weidet ein Esel. Er spielt seine Rolle prächtig. Ich habe den Verdacht, es handelt sich um einen gelernten Esel. Die Zuschauer sind sehr mit sich zufrieden. Aufregung bei den Flusspferden. Einer Frau ist die Handtasche ins Bassin gerutscht. Drei Anderthalbtonner gurgeln unter Wasser herbei, aber die Herren sind typische Vegetarier. Enttäuscht beriechen sie die Handtasche. Krokodilleder! Von der Konkurrenz! Immerhin, der Zoo erzieht seine Insassen. Anstand und Würde! Höflich reicht ein Flusspferdbulle die Tasche hinaus. Bitte sehr, die Dame! Das Publikum staunt. Die Verliererin freut sich. Der Gatte atmet auf. Er hatte schon das Jackett abgelegt, um selbst zu tauchen. Man geht dankbar davon. Die Flusspferde tuscheln. Wir lassen unser Bassin nicht verunreinigen. Verhalten grunzend tauchen sie weg . Am Affenhaus herrscht der obligatorische Krawall. Im Frühjahr sind die Menschen immer so laut, sagt eine stramme Affenmama. Lasst euch nicht aus der Ruhe bringen, mahnt ein Affenpapa die Affenbabys. Und dann sagt er: Vor den Menschen braucht ihr euch nicht zu ängstigen, zu uns kommen sie nicht, sie sind hinter Gittern. Er weiß natürlich, der gute alte Affenpapa, welchen archaischen Witz er da loslässt. Macht nichts, die Babies kennen ihn nicht. Plötzlicher Aufruhr vor dem Affenkäfig. Ein Lama ist aufgetaucht. Werft nicht mit Steinen nach den Affen, fordert das Lama. Warum nicht? Vielleicht entwickeln sie sich noch zum Menschen zurück! Man lacht. Das Lama wird wütend und spuckt. Unterdessen steigt die Sonne. Das Thermometer hält mit. Männer betupfen ihre Glatzen mit zierlichen Taschentüchern. Frauen werden unruhig. Der Zoo ist an der Nase empfindlich. Eine Delegation Dromedare beschwert sich beim Direktor. Wenn wir die Besucher rausschmeißen, sagt der Direktor, habt ihr morgen nichts zu fressen. Die einhöckrigen Tiere erkennen, wie mangelhaft die Welt ist. Kein Ideal ist zu verwirklichen. Wie hat man sich aufs Frühjahr gefreut und nun stinkt es. Eine Giftschlange schleicht kleinlaut vorüber. Es ist Feiertag, da beißt sie nicht. Mantelpaviane ziehen unterdes die Mäntel aus und nehmen sie übern Arm. Riesenschlangen häuten sich und liegen in Unterwäsche herum. Wölfe geben ihre Schafspelze in der Kleiderkammer ab. Vogeleier beginnen zu qualmen. Eisbären wälzen finstre Emigrationspläne. Am Abend, wenn die Sonne in den Westen sinkt und programmgemäß untergeht, reckt sich der ganze Zoo und schüttelt die Beklemmung ab. Die Löwen holen tief Luft, dem gähnenden Krokodil gafft kein Mensch ins Maul, der Tiger wird gemütlich und steckt die Beine untern Tisch, die Flusspferde trocknen sich ab, die Affen benehmen sich wieder normal. Die Menschen sind endlich eingesperrt, die Tiere haben Feierabend, und Überstunden verlangt die Direktion nicht. Man hat seine Pflicht getan und erhält morgen sein Fressen. Zwischen Affenhaus und Löwenfreigehege, da wo der Löwenwärter manchmal mit der Reinemachfrau vom Vogelhaus plauscht, sitzt eine Spatzenfamilie an einer Pfütze und macht Toilette. Das Kleine sträubt sich. Es ist wasserscheu! sagt der Spatz. Morgen kommen wieder die Menschen, da musst du sauber sein! sagt die Spätzin streng zu dem Jungen. Ja, nickt der Spatz nachdenklich, nun drängeln sie wieder jeden Tag und bestaunen uns. Wie wichtig wir doch sind. Indessen ist die Sonne ganz weg. Die lieben Tiere gehen zur Ruh und träumen vom Paradies, wo man sich noch nicht für Geld anschauen lassen musste. Waren das Zeiten – denkt der alte Löwe. Diese kleine Tiergeschichte wurde im Frühjahr 1956 in Leipzig geschrieben und 52 Jahre danach im Archiv aufgefunden. Der späte, doch nicht verspätete Erstdruck sei dem Leipziger Zoo gewidmet. Er ist der schönsten einer, denn die Tiere sprechen dort mit ihren Pflegern ein so klares Sächsisch wie zu Lessings Zeiten. Unsereins aber, um ein Halbjahrhundert gealtert, bestaunt heute die glückhafte Naivität vergangener Zeiten. Im Gedächtnis-Schließfach kramend versuche ich mir selbst auf die Schliche zu kommen. Wie wird verstehbar, dass ich im Frühjahr 1956, auf meiner Studentenbude im Leipziger Mendelssohn-Bartholdy-Haus hockend, dem lieben Getier im Zoo diesen Strauß flirrender Maiglöckchen anbot? Das Mephistophelchen im Ohr, dieser Goethe-Floh aus Auerbachs Keller, flüstert: Blas dich auf und nenn' es hochwissenschaftlich Dekonstruktion, so bauen die postmodernen Blattläuse heutzutage ihren Doktor! Da fiel mir doch glatt und gleich Ilja Ehrenburgs Roman Tauwetter ein und wie damals – 1956 – das Eis aufbrach. Was waren wir doch für frühe Dekonstruktionisten! rufe ich mir aufmunternd zu und sehe mich urplötzlich auf der Leipziger Buchmesse 2008 stehen. Ein Wunder? Kein Wunder! Im vorigen Kapitel dieser Serie versprach ich, demnächst »an der Pleiße etwas dazu« zu »sagen«, und zwar gegen die »inneren und äußeren Besatzungstruppen der Unwissenheit, Inferiorität und Geschichtsvergessenheit«. Mit Ingrid und 10000 Frühaufstehern schlendern wir am Sonnabendmorgen, dem 15. März 08, durch die bereits gut gefüllten Messehallen – freie Kostümwahl herrscht ringsum, zu bestaunen sind schwarz- oder weißgekleidete Gespenster, unzählige Mangas, die heftig importierte japanische Comic-Variante und alle übrigen bunten Comic-Figuren mit oder ohne Larven, dazwischen Ritter samt Burgfräulein – eine Jugend ohne Gegenwart auf angestrengter Suche nach irgendeiner Identität. Nach und nach rücken immer mehr Grufti-Gruppen an, auch Satanisten und zum Ausgleich Engelshaarengel in züchtigen Gewändern. An der Seite Scharen von Mädchen und Jungen, die Gesichter gepudert, das Gebein frisch geweißt, die Nabel babyhaft intakt als wäre die Schnur grad abgezwackt und alle zusammen präsentieren eine friedfertige, singvogelhaft zwitschernde Jugend Sachsens im Aufbruch zum Märchenland Ichweißnichtwo. Der blutige Leipziger Disco-Krieg scheint weit entfernt auf einem anderen Planeten. Gegen Abend heben sich all die Phantasie-Kostüm-Gestalten in die Lüfte. Die Buchmesse befreit von jeglicher Erdenschwere, ich erblicke Goethe, Faust, Mephisto beim Kartenspiel, zu dem sie das schwangere Gretchen als Partnerin an den Tisch bitten. In der Realität tausche ich mit Hermann Kant unsere polnischen Kriegserfahrungen aus, rede mit Friedrich Schorlemmer über die blutige Christenliebe zwischen Martin Luther und Thomas Münzer und dann mit Jürgen Reents von seinen unabweislichen Fragen, mit denen er mich überzog, um daraus ein Buch zu fertigen, und als ich mich mit dem Recht des sächsischen Methusalem ins Nirwana zu verabschieden schien, hielt er mich am Kragen des letzten Hemdes fest und so gelangte der Interview-Band Weder Kain noch Abel doch noch in die Welt. Begleitet von Karlen Vesper kam Stefan Jerzy Zweig in die Runde, heute ein raumfüllender Mann, das einstige weltberühmte »Buchenwaldkind«, weithin bekannt durch den Roman von Bruno Apitz Nackt unter Wölfen, der die Geschichte des kleinen, in Krakau geborenen Jungen erzählt, den die Häftlinge reihum und mit höchsten Risiko vor den KZ-Wachen versteckten und ihm so das Leben retteten. 2005 veröffentlichte Zweig seine Autobiographie unter dem Titel Tränen allein genügen nicht. Enttäuscht und voller Zorn registriert er darin, wie die Unterschiede zwischen Opfern des Faschismus und den Nazi-Tätern mehr und mehr verwischt werden. Symptomatisch für den Zustand unserer Gesellschaft ist, Zweig gelang nicht, einen Verleger für sein Werk zu finden, er publizierte es im Eigenverlag. Da kann es nur gut sein, dass Martin Walser, mit seinem Altersliebe-Goethe-Buch auf der Messe unübersehbar vorhanden, anderweitig beschäftigt war. Er wollte ja von Auschwitz nichts mehr wissen, wie er in seiner Paulkirchen-Rede verkündete, warum also von Buchenwald. Eine Begegnung mit dem Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels von 1998 blieb Stefan Jerzy Zweig erspart. Der Besucherstrom spült interessierte Leserinnen und Leser zum ND-Stand. Ein Berliner Religionslehrer schwärmt von meinem Schulbuch-Klassiker Nicht alles gefallen lassen, in Kriegszeiten wie den unsrigen wimmelt es im Netz von Verweisen auf die pazifistische Story, erschienen vor Jahrzehnten und leider immer wieder zutreffend. Noch ein Berliner meldet sich, Prokurist von Beruf, er las eben Sklavensprache und Revolte und schüttelt mir erfreut die Hand. Es fehlt nicht an Reaktionen auf aktuelle Veröffentlichungen. Nutzer von www.poetenladen.de geben sich zu erkennen, ganz neue Wege der Kommunikation werden wahrgenommen. Indessen lese ich in der Zeitung: »Es ist völlig klar, dass die SPD, aber auch die Union, die FDP und weite Teile der Grünen mit der klaren Unterstützung des Afghanistan-Einsatzes gegen den Mehrheitswillen der Bevölkerung stehen. Dennoch bleibe ich dabei: Die Interessen Deutschlands werden auch am Hindukusch verteidigt.« Das ließ sich der SPD-Genosse Peter Struck also wiedermal einfallen. Ein Wiederholungstäter und Kriegstrommler gegen den Mehrheitswillen des Volkes. Bevor ich in der nächsten Folge meine Lobreden in patriotischer Saxomanie auf diese ewigkeitliche Leipziger Mammutveranstaltung fortsetze, verabschiede ich mich mit einem zünftigen Feiertagsgruß:
Kassandras Gesänge zum Osterfest Am Montag, den 31. März 2008, erscheint das nächste Kapitel.
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Gerhard Zwerenz
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