Als ich den Römer verlassen wollte, kam ein Kerl durch die Tür hereingestürzt und rannte mich um. Wir gingen beide zu Boden, doch stand der Eilige gleich wieder auf den Beinen und sprang die Treppen hinauf
Oben erklangen laute Stimmen. Jetzt polterte eine Menge Leute die Stufen herunter, an mir vorbei und zum Portal hinaus. Ich erkannte den Mann, der mich eben umgerannt hatte, und dicht hinter ihm Atom-Riki. Auch Lugstieber war dabei, der Referent für Zukunftsfragen. Ich packte ihn rasch am Ärmel und fragte, was denn bloß los sei. »Das weißt du noch nicht? Menschenskind, im Main fließt das Wasser stromaufwärts!« Und schon sausten wir alle miteinander Richtung Main. Dort waren beide Ufer schwarz von Menschen. Der Eiserne Steg voll von Neugierigen. Zum Glück rückte jetzt eine Hundertschaft Bereitschaftspolizei an, die dem Oberbürgermeister und seinen Begleitern den Zugang zum Strom freiknüppelte. AIs wir die Stufen zum Eisernen Steg hochstiegen und forschend ins Wasser schauten, ließ sich auf den ersten Blick nicht genau feststellen, wohin es floss. »Der Main fließt stromabwärts!«, meinten die einen. »Nein, der Main fließt stromaufwärts!«, schrien die anderen. »Werft ein paar Zuschauer ins Wasser!«, ordnete das Stadtoberhaupt an. Die Bereitschaftspolizisten taten wie ihnen befohlen. Jetzt sahen alle, die Hineingeworfenen trieben nicht Richtung Westhafen ab, sondern umgekehrt nach Osten, stromaufwärts also, nach Offenbach zu. Die Strömung musste ziemlich stark sein. Die Nichtschwimmer gingen sowieso schnell unter. Die anderen sah man bald in weiter Entfernung treiben. »Das halt ich im Kopf nicht aus!«, sprach der Oberbürgermeister, »jetzt fließt der Main tatsächlich stromaufwärts.« Ratsuchend blickte er sich in der Runde um. Als er mich sah, lief sein Gesicht zornrot an. »Das war Ihr Freund, dieser verdammte Corian, dem verdanken wir unser ganzes Unglück! Wär der doch in Leipzig geblieben!« Er schimpfte und schimpfte und ich machte mich aus dem Staube. Denn ich bin von Natur ein ängstlicher Mensch aus Sachsen. Wie nicht anders zu erwarten, bringt ein umgekehrt fließender Fluss allerhand Überraschungen mit sich. Wer weiß, wohin das in Zukunft alles führen wird. Ich kriegte Corian nicht zu Gesicht, nur einige Male seinen auffälligen Sportwagen im Straßengewühl, doch wenn ich endlich hinkam, war das Auto schon weg. Kurze Zeit nach der Flussumkehrung fand die Buchmesse statt, zu der neben den üblichen lebenden Dichtern erstmalig auch die verstorbenen anreisten. Nachdem das Wasser stromaufwärts floss, konnte uns nichts mehr überraschen. Der Börsenverein verlieh seinen Buchhändlerfriedenspreis kurzerhand an Johann Wolfgang von Goethe, doch bei der feierlichen Verleihung in der Paulskirche randalierte Thomas Mann, der selbst den Goethe-Preis beanspruchte, sei er doch viel goetheanischer als der verkalkte Alte aus Weimar. Man entfernte den Störer polizeilich, aber jetzt sprang ein langhaariges jugendliches Individuum von seinem Stuhle hoch und brüllte immerzu: »Friede den Hütten! Krieg den Palästen!« Da es sich zweifelsohne, wie allen anwesenden Buchhändlern und Schriftstellern schlagartig klar wurde, um den steckbrieflich gesuchten Georg Büchner handelte, bestäubten ihn elf Polizisten mit Chemical-mace und brachten den noch immer heftig um sich schlagenden Aufrührer hinaus, wo schon zwei Wasserwerfer auf ihn warteten. Auch rief man den Börsenvereinsvorsteher diskret ans Telefon, fernmündlich teilte der Bankenvereinsvorsteher ihm mit, die Devise: »Krieg den Palästen« sei gerade in Frankfurt ebenso gefährlich wie deplaziert. Man solle auch an den BfG-Palast vorm Schauspielhaus denken. Leider erlitt nun der Klassiker aus Weimar einen Schwächeanfall, denn man hatte ihn vorsichtshalber ebenfalls mit einer Ladung Tränengas bedacht. Keineswegs jedoch solidarisierte sich der wirkliche und geheime Rat Goethe, wie anderntags in einer Frankfurter Herrenzeitung zu lesen war, mit dem Zwischenrufer. Vielmehr hatte Goethe den Georg Büchner aufgefordert, sich davonzuscheren in seine ausländische Gruft und das aufrührerische Maul endlich für immer zu halten. Da ich selbst Ohrenzeuge wurde, kann ich beschwören, Goethe hatte tatsächlich die Worte »ausländische Gruft« gewählt, was als geradezu Thomas-Mann'sche Ironie, jedenfalls in der Interpretation von Prof. Hans Mayer gelten muss; weiß doch jedermann, Büchner liegt in keiner Gruft, sondern irgendwo tief im Schweizer Erdboden vergraben und verschollen. Es muss zugegeben werden, noch nie war eine Buchmesse so interessant und abwechslungsreich verlaufen. Die verstorbenen und für die Messe ins Leben zurückgekehrten Dichter leisteten sich unglaubliche Rundfunk- Realismus! forderte Jakob Michael Reinhold Lenz und schwenkte ein Exemplar seines »Hofmeister«. Romantik! murmelte Lenau und rezitierte immerzu: Lieblich war die Maiennacht, Silberwölkchen flogen. Und während alles wild gegeneinander anredete, erschien jeweils für drei Sekunden der bleiche Heinrich von Kleist, zog ein Terzerol aus der inneren Rocktasche und feuerte zwei Schuss in die Decke ab, zu welcher ordinären Begebenheit der sich im Hintergrund haltende sanfte Herr Novalis missbilligend den Kopf schüttelte, während die offensichtlich geistesverwirrten Herren Hölderlin und Nietzsche applaudierten und in sonderbares Lachen ausbrachen. Alle wiederum vereinten sich sofort, ging es gegen einen Versicherungsangestellten, welcher idiotisch unklare Geschichten vorlas, in denen ein Mensch sich zum Käfer verwandle. – Bin ich ein Käfer? fragte Johann Gottfried Herder indigniert, wobei ihm der feinsinnige Stefan Zweig zustimmte, während er seine große Sympathie mit dem Selbstmörder Kleist nicht verbergen mochte. Nachdem man den unverständlichen Kafka aus Prag gehörig in die Schranken verwiesen hatte, entstand schriller Streit zwischen Vertretern der Jüdischen Gemeinde zu Westberlin und dem Autor Lion Feuchtwanger, dem Antisemitismus vorgeworfen wurde. Feuchtwanger entgegnete ruhig: Aber ich selbst bin doch Jude! – Herren der Gemeinde schrien ihn nieder: Um so schlimmer! Schäm dich! Da sich jetzt Heinrich Mann einmischte, hießen ihn die anwesenden Geheimpolizisten kurz und bündig einen Kommunisten und volksfrontverdächtig. Ernst Toller, der ihm beispringen wollte, wurde von den Geheimpolizisten umringt: Dreckiger Räterepublikaner! schalten sie ihn; Erich Mühsam, der etwas sagen wollte, sistierten sie gleich mit. Lessing, unterstützt von einer zierlichen dunkelhaarigen Frau, murmelte beharrlich: Toleranz! Toleranz! Da drängten die Polizisten beide brutal aus dem Raum, schlimm genug, sagte ein Staatsschützer, wenn wir die Rote Rosa auf unseren Briefmarken ertragen müssen! Sie waren aber auch mit Heinrich Mann noch nicht fertig und warfen ihm vor, dass er sich habe auf einem Ostberliner Friedhof bestatten lassen, dicht bei den Kommunisten Hegel, Becher und Brecht. Jetzt arbeiteten sich die drei Genannten nach vorn, alle drei furchtbar empört: Becher murmelte immerfort den von ihm verfassten Text der DDR-Nationalhymne, der in der DDR seit Jahren nicht mehr gesungen werden durfte, Hegel verlangte, als Weltgeist, ein Pferd, um dialektisch und revolutionär voranzureiten, J. G. Fichte hielt eine flammende Rede an die Nation, die es nicht mehr gab; Brecht endlich beteuerte, für ihn sei die Bezeichnung Kommunist nichts weniger als ein Schimpfwort. Thomas Mann, als er BB erblickte, fuhr verärgert auf den ewigen Protestler los: Wie sind Sie denn überhaupt aus Ihrem festverschlossenen Zinksarg herausgekommen? - Brecht, als er Thomas Mann so dicht vor sich sah, erlitt einen Wutanfall: Halten Sie endlich Ihr großbürgerliches Schandmaul, Sie Epiker von und zu Unnütz! Dass Sie's nur wissen, ich bin zwangsweise exhumiert worden, wegen Linksabweichung! Thomas Mann höhnte höflich: Hoffentlich verbringt man Sie nicht ins Rote China der Nach-Mao-Zeit, da fänden Sie als Linksabweichler auch keine ewige Ruhe! Brecht begann jetzt unflätig zu schimpfen. Nun trat der Frankfurter Polizeipräsident in Aktion. Hier war endlich mal ein Feind, den er kannte: Er drosch mit seinem Schleppsäbel dem BB auf den Kopf. Als sein Säbel am Unsterblichen zerbrach, wunderte er sich: Nein, was diese Bolschewiken doch für harte Schädel haben! Welchen Ausspruch Brecht sofort für eine kombinierte Zörrgibel- Ich könnte hier noch über Hunderte von Seiten hinweg aufschreiben, was alles zwischen den lebenden und wiederauferstandenen Dichtern geschah, allein die Rechte an diesem Bericht kaufte ein anderer Verleger. Alles über Kurt Tucholsky z.B. hatte sich Rowohlt von vorn herein gesichert. Nachzutragen bleibt, dass sich während all dieser Gespräche der Liedermacher Wolf Biermann mit seiner Gitarre einmischte und immer sang: Wie nah sind uns manche Tote und wie tot sind uns manche, die leben. Nachdem ihm das schon von seiner DDR widerfahren war, wurde er auch aus dem Frankfurter Buchmessen-Treff ausgebürgert. So beschoss er, ein rechter Krieger zu werden. Schließlich fand sich auch für die anderen Komplikationen eine Lösung. Ein scharfsinniger Germanistik-Professor, den die Gesamt-Szene anwiderte, weil er gewohnt war, sich nur mit längstverstorbenen Klassikern zu befassen, weshalb ihn die ins Leben zurückgekehrten Dichter ebenso anekelten wie die noch nicht dahingeschiedenen, riet der Polizei, alle Literaten aus dem Hotel Frankfurter Hof, wo sie standesgemäß abgestiegen waren, in das eben fertiggestellte, vollklimatisierte Canadian Pacific Intercontinental umzuquartIeren. Man transportierte die Herrschaften in modernen Reisebussen zu dem 162 Meter hohen Hotel-Giganten. Hölderlin, der als erster den Bus verließ, betrachtete das Hochhaus, erbleichte, sprach: Nein, diese Deutschen! und rannte entsetzt davon. Ihm hinterdrein mit gespitztem Bleistift Peter Härtling; jetzt ein Gespräch mit dem Dichter, und Härtling hatte den II. Band seiner Hölderlin-Biografie schon in der Tasche. Als nächster stieg Jean Paul aus dem Bus. Den hochgeschossenen Spargel erblickend, rief er freudig: Der ist ja fast so lang wie mein kürzester Satz! Von solchen Worten ermutigt, sickerten die Dichter ins Innere des Hotels. An der Rezeption allerdings wurde Friedrich von Schiller abgewiesen, sofort durch zwei kräftige Hausdiener an die frische Luft gebracht und derb abgesetzt; man hatte ihn wegen seiner roten Haare und des leicht ungepflegten Aussehens mit Daniel Cohn-Bendit verwechselt. Den übrigen wies man Zimmer zu, womit sich alles von selbst erledigte. In den 44 Stockwerken, 666 Appartements, Dutzenden von Konferenzräumen und Restaurants verliefen sich die Dichter auf Nimmerwiedersehen. Es heißt zwar, nach Tagen sei dieser oder jener hier oder dort noch einmal gesichtet worden, manche Frankfurter berichteten eine verwunderliche Szene, wonach Reich-Ranicki und Martin Walser laut aufeinandereinschreiend vorm Volksbildungsheim gestanden hätten. Sie sind für mich tot! hörte man vom Schriftsteller und der Kritiker feixte: Das könnte Ihnen so passen, Sie Dekapist! Ich im Jenseits! – Ja, brüllte Walser zurück: Sie -FAZ-ke – Jenseits der Liebe – Daraufhin M-R-R: Sie sind doch nur Goethes Schwanz! Einige ganz Scharfäugige wollen bemerkt haben, dass E.T.A. Hoffmann und Joseph Roth noch wochenlang in der Hotelbar gebechert hätten, aber die hatten sicher selber einen über den Durst getrunken. Zur Buchmesse des folgenden Jahres tauchte kein einziger der wiederauferstandenen Dichter mehr auf. In Frankfurt am Main gibt es massenweise moderne Beton-Riesen, von denen spielend tote wie lebende Schriftsteller verschluckt werden. Warum sollte man, kriegt man lebende Autoren kaputt, nicht auch mit den verstorbenen fertigwerden? Das Poeten-Problem hatte sich von selbst erledigt. Einzig der in umgekehrter Richtung fließende Main machte weiter unlöbliche Extratouren. Im Stadtparlament ergaben sich Kampfabstimmungen, die CDU verlangte energisch nach Maßnahmen, die das Mainwasser wieder flussabwärts laufen ließen, notfalls werde man Django delegieren, der brächte dem rebellischen Strom schon die rechte Richtung bei. Klar, riefen höhnisch einige Radikale von der SPD, Rahmenrichtlinien von Django, und der beweist uns schlagend, dass der Regen von unten nach oben fällt! Die FDP formulierte ein Papier, auf dem es fraglich blieb, ob ein Fluss abwärts oder aufwärts fließen müsse. Die SPD beschloss nach qualvollen Querelen zwischen ihrem rechten und linken Flügel, die Richtung des Stroms einfach zu ignorieren und murmelte irgendwas vom allmächtigen Genossen Trend, der laufe mal so und mal so. Als ein Reporter die Meinung des Oberbürgermeisters einholte, antwortete Atom-Riki: »Wir sind für alle Veränderungen offen! Nur keine Hysterie! Sehen Sie, wenn das Wasser im Main wirklich und dauerhaft stromaufwärts fließen will, so werden wir dieser Entwicklung nicht in die Wellen fallen. Was geschieht schließlich? Es bildet sich im Quellgebiet des Main sowie in seinem gesamten Oberlauf, mitten in Bayern also, ein Gewässer, das viele Misshelligkeiten überspült. Alles wächst sich immer weiter aus, zum See, zum Meer, am Ende zu einem Bayerischen Ozean. Was könnten wohl wir Hessen dagegen haben, erstreckte sich an Stelle des heutigen schwarzen Bayern ein unendlich blauer Bayerischer Ozean?« Der Reporter mochte München, Nürnberg, Hof, das gesamte Franken und Oberbayern ganz gern und geriet in einen Loyalitätskonflikt, da ihm aber sowieso zwei Drittel seines Berichts von der Redaktion gestrichen wurden, fielen diese Feinheiten gar nicht ins Gewicht und am Ende erfuhren die Leser, Atom-Riki wolle die Bayern absaufen lassen. Was mit Corian geschehen ist, weiß ich nicht. Mag sein, kräftiger Applaus am Sarg lässt ein starkes Satirikerherz erneut schlagen. Es wird erzählt, der Krematoriumsbeamte sei mit Corian nicht fertig geworden. Der harte Knochen wollte und wollte nicht brennen. Erzürnt zog der Fachmann den Possenreißer aus dem Feuerofen und warf ihn vor die Friedhofspforte. Plötzlich habe es hinter dem Mann »Danke« gemurmelt. Der wandte sich verwundert um. Da sei Corian aufgestanden und heim nach Leipzig an die Pleiße gegangen. Darüber sei der langjährige Leichenverbrenner so erschrocken, dass er umsank und verstarb. Er wusste wohl nicht, was andere Leute, Atom-Riki zum Beispiel, ebenfalls nicht wissen wollen – Satiriker sind in Wahrheit unsterblich. Im Jahr darauf, gegen Ende des Oktober, ging ich durch die freundlich ausbetonierte B-Ebene unter der Frankfurter Hauptwache und begegnete einem Zug feierlich befrackter Herren. In angemessenem Abstand folgte ich ihnen. Sie suchten, einer nach dem anderen, das Männer-WC in der B-Ebene auf, wo sie sich, einer neben dem anderen, am Pissoir aufstellten und ihr Wasser abschlugen. Alles geschah feierlich vornehm, ich wurde neugierig, packte den rüstigsten der Pissoir-Benetzer, der mir wegen seines jugendlichen Alters von höchstens fünfundsiebzig Jahren am ansprechbarsten erschien, vorsichtig am Oberarm und fragte ihn nach dem Anlass der Zeremonie. »Ach, wissen Sie«, antwortete der Greis, »heute jährt sich der Todestag des Georg Büchner, welches gefährliche Individuum neulich seine Grube verließ und sein Unwesen in Hessen trieb.« »Aber weshalb versammeln Sie sich alle so feierlich im Klosett?« Der alte Herr näherte seine Lippen meinem Ohr und vertraute mir an: »Wir bestatteten ihn erneut, und diesmal sicherer, hier drinnen unter der Pissrinne. Damit er aber nicht dran denkt, nochmal raufzukommen, treffen wir uns getreulich an jedem Todestag und machen ihm drauf!« »Und von welchem Verein sind Sie?«, fragte ich. »Wir«, entgegnete der Herr mit äußerstem Anstand und in geradezu würdevoller Form, »wir sind von der Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung.« Am Montag, den 14. April 2008, erscheint das nächste Kapitel.
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Gerhard Zwerenz
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