Die Kunst, weder Kain noch Abel zu sein
Betrachte ich den Zustand unserer Welt und den Anteil der Christen an Gewalt, Mord und Krieg, drängt sich mir die provokatorische Frage auf, ob das 5. Gebot »Du sollst nicht töten« etwa einen Druckfehler enthalte und ob es in Wirklichkeit nicht laute: »Du sollst töten.«
Bleiben die Tötungsverbote des Neuen und Alten Testaments bis heute unbefolgt, gibt Kains Brudermord bis heute den Ton an. Diese Short-Story, die auch von Edgar Allan Poe oder Stephan King sein könnte, ist hochmodern. Ich lese im Ersten Buch Mose, viertes Kapitel von einer Handlung, die wir heute Kürzest-Krimi nennen würden.
Ohne Umschweife geht es voran. Kain wird geboren. Abel wird geboren. Es braucht nur 6 Absätze von 3 bis 5 Zeilen, und Abel liegt erschlagen vor uns. Im 9. Absatz wird Kain zur Rede gestellt: »Wo ist dein Bruder Abel?« Und der Täter antwortet unser aller Antwort: »Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein?«
Meines Bruders Hüter zu sein stört mein Wohlbefinden. Außerdem ist die Antwort eine Lüge. Der Brudermörder sucht sich auf unterlassene Aufsicht herauszureden. Er unterließ aber nicht etwas, sondern er tat etwas: Er brachte um. Dass er's leugnet, beweist, er wusste, was er tat. Oder: Er weiß danach, was er getan hat und reagiert wie wir seitdem immer: Wir leugnen.
Fragen wir nach den Tatmotiven. Abels Opfergabe wurde vom Herrn gnädiger aufgenommen als Kains Opfergabe. Kain ergrimmte und tötete. Tatmotiv: Eifersucht und Neid. Das wäre heute nur Totschlag im Affekt. Aber da steht in Mose 4,2: »Und Abel ward ein Schäfer. Kain aber ward ein Ackermann.« Da fragen wir modernen wissenschaftlich gebildeten Leser: Wurde Abel etwa dem Fortschritt geopfert? Der Landwirt löst historisch den Hirten und Schäfer ab. Ergrimmte der Landwirt Kain über den Hirten Abel, der sein Vieh auf die Felder trieb und den Ackerbau störte?
Argwöhnisch bis selbstkritisch fragen wir: Wurde damals schon der Mensch, der Bruder dem Fortschritt geopfert? Und wohin schreiten wir seither fort? Ist das mögliche Ziel die Opferung von Mensch, Natur, Schöpfung?
Ich bin kein Theologe. Lege keine Bibel aus, versuche nur eine Kurzgeschichten-Interpretation. Ich variiere die Story zu vier Fallgeschichten:
Fallgeschichte 1:
Kain erschlägt Abel aus Eifersucht und Neid.
Fallgeschichte 2:
Abel steht Kain schon lange im Wege. Kain packt die Gelegenheit beim Schopfe. Sein Ärger über den bevorzugten Bruder kommt ihm gerade recht. Gern überlässt er sich seinem Mordentschluss.
Fallgeschichte 3:
Kain will Abel töten. Die Tat ist geplant, der Stein kein Zufallsfund, sondern bereitgelegt, also Waffe. Der Stein als erste Waffe des Menschen. Die Genealogie der Waffen: Stein, Messer, Schusswaffe, Rakete. Die Wirkungen: Schlag mit Muskelkraft, Schießpulver-Explosion, Massenvernichtung durch ABC-Waffenwirkung. Von Kain und Abel zu uns, sind das 5000 Jahre Fortschritt und Höherentwicklung der Menschheit?
Wir müssen noch eine äußerst komplizierte vierte Fallgeschichte entwerfen, die uns verunsichert:
Fallgeschichte 4:
In der Schrift wird uns Abel als arglos geschildert. Nehmen wir aber an, Abel war gar nicht arglos, sondern bereit zur Verteidigung. Kain jedoch überraschte ihn. Denken wir Fall 4 durch. War Abel schuldhaft arglos? Hätte er nicht beizeiten sich vorbereiten müssen zur Abwehr? Ist es nicht ein Menschenrecht, sich zu verteidigen? Hat Abel sich schuldhaft nicht verteidigt? Ich weiß keine Antwort außer einer Erfahrung: Bekennt sich wer als Pazifist, wird ihm entgegnet: Ja, soll ich mich gegen Überfall nicht verteidigen? Nie wird dem Pazifisten geantwortet: Ja, darf ich denn niemanden überfallen? Konfrontiert mit dem auffordernden Bekenntnis zur Waffenlosigkeit, sieht sich jeder automatisch als schutzloses Opfer einer Aggression, niemand sieht sich als Angreifer, Täter, Mörder. Wie also kommen Angriff, Überfall, Mord in unsere Welt?
Kain kannte kein Tötungsverbot und kein Liebesgebot, vernahm aber eine Warnung, Gott bemerkt Kains Bruder-Neid und fragt: »Warum ergrimmst du? Und warum verstellt sich deine Gebärde?« Und weiter:.. »Wenn du fromm bist, so bist du angenehm; bist du aber nicht fromm, so ruhet die Sünde vor der Tür. Aber lass du ihr nicht ihren Willen, sondern herrsche über sie.«
Folgt 4,8: »Da redete Kain mit seinem Bruder Abel. Und es begab sich, da sie auf dem Felde waren, erhob sich Kain wider seinen Bruder Abel und schlug ihn tot.«
»Und es begab sich« ist eine Erzählfloskel, die etwas aus- und einblendet. Hier umschreibt die Floskel den Umschlag von der Brüderlichkeit zum Brudermord. Vorher war Kain nichts als ein Bruder. Nun ist er der Brudermörder Kain. Die Spanne Zeit, die es dazu braucht, ist die Kains-Zeit. Sie kann kurz sein, das Aufwallen eines blindmachenden, also »unfromm« machenden Affekts wie Neid und Eifersucht. Aber die Kains-Zeit kann auch lang andauern und geplant verlaufen: Und es begab sich, dass Stalin seine Mitrevolutionäre umbringen ließ ...Und es begab sich, dass die deutsche Endlösung befohlen wurde und der Holocaust begann ...
Der fällige Einwand lautet: Stalin und Hitler waren keine Christen. Nehmen wir ein christliches Beispiel. 1631 zerstörte der katholische Feldherr Tilly die Stadt Magdeburg. Friedrich Schiller berichtet 1791 in seiner "Geschichte des Dreißigjährigen Krieges" davon. Ich zitiere:
»Eine Würgeszene fing jetzt an, für welche die Geschichte keine Sprache und die Dichtkunst keinen Pinsel hat. Nicht die schuldfreie Kindheit, nicht das hilflose Alter, nicht Jugend, nicht Geschlecht, nicht Stand, nicht Schönheit können die Wut des Siegers entwaffnen. Frauen werden in den Armen ihrer Männer, Töchter zu den Füßen ihrer Väter misshandelt, und das wehrlose Geschlecht hat bloß das Vorrecht, einer gedoppelten Wut zum Opfer zu dienen. Keine noch so verborgene, keine noch so geheiligte Stätte konnte vor der alles durchforschenden Habsucht sichern. Dreiundfünfzig Frauenspersonen fand man in einer Kirche enthauptet. Kroaten vergnügen sich, Kinder in die Flamme zu werfen – Pappenheims Wallonen, Säuglinge an den Brüsten ihrer Mütter zu spießen. (...) In ununterbrochener Wut dauerten diese Greuel fort, bis endlich Rauch und Flammen der Raubsucht Grenzen setzten. (...) Fürchterlich war das Gedränge durch Qualm und Leichen, durch gezückte Schwerter, durch stürzende Trümmer, durch das strömende Blut. Die Atmosphäre kochte und die unerträgliche Glut zwang endlich selbst die Würger, sich in das Lager zu flüchten. In weniger als zwölf Stunden lag diese volkreiche, feste, große Stadt, eine der schönsten Deutschlands, in der Asche, zwei Kirchen und einige Hütten ausgenommen …«
Schiller stilisiert das Massaker. Es war schlimmer als geschildert. Etwa dreißigtausend Tote kostete diese Kainszeit, mehr Einwohner gab es nicht.
Kains Strafe, die Brandmarkung auf der Stirn, erstaunt durch ihre Milde. Kain war immerhin schuldbewusst: »Kain aber sprach zum Herrn: Meine Sünde ist größer, denn dass sie mir vergeben werden möge.» Nichts davon bei uns heute. Jeder Sieg wird vom Sieger gerechtfertigt. Der vorchristliche Täter verhielt sich christlicher als seine heutigen Nachkommen.
Was also ist zu tun? Warum bleibt das DU SOLLST NICHT TÖTEN so wirkungslos? Vielleicht weil nur gefordert und nicht nach den wahren Gründen geforscht wird? Vielleicht weil uns Mordmotive beherrschen, die wir zugleich leugnen? Vielleicht weil wir das Tötungsverbot mit so vielen Ausnahmen umgeben, dass es unwirksam wird? Vielleicht weil wir uns Mordmotive auferlegen lassen? Vielleicht weil wir zu gehorsam sind? Etwa indem wir Eide leisten auf unsere Tötungsbereitschaft, obwohl die Bibel derlei Eide untersagt? Werden wir vielleicht zum falschen Gehorsam erzogen?
Aristoteles kennt einen Horror vacui als Abscheu der Natur vor dem Leeren. Wenn Mensch nicht weiter weiß oder nicht weiter wissen will, ergrimmt er und seine Gebärde verstellt sich. In sein menschliches Vacuum strömt der Mord-Affekt ein. Der Mensch als potentieller Mörder wird zum realen Mörder, hat er versäumt vorzubeugen. Was ist es, das in uns mordet? Das ist es: Unser Rückfall in vorkulturelle Zustände unter Ausnutzung modernster
Tötungstechniken.
Das Postulat »Du sollst nicht töten« füllt das Vakuum nicht. Wer dem Mord nicht beizeiten widersteht, findet immer genug Gefühle, seine Bedenken schwinden zu lassen, und Argumente, den gewollten Mord-Krieg als unausweichlich, notwendig und gerecht zu erklären. Wer aber den Mord für notwendig erklärt oder sich für notwendig erklären lässt und dann gehorcht, der wird zum Finger am Abzug einer Waffe. Was also kann ich tun?
1. Frage dich, wer du bist. Nenne deinen Namen. Könnte es sein, dass dein Name Kain ist?
2. Die unbedachte Tat aus verletztem Stolz. Aus Neid, Eitelkeit, Zurücksetzung. »Da redete Kain mit seinem Bruder Abel. Und es begab sich ...« Es begibt sich nichts mit dir, wenn du es nicht willst.
3. Die bedachte Tat. Du kannst dir befehlen: ich will töten. Dann bist du der Täter. Du kannst dir befehlen lassen, den andem zu töten. Dann bist du auch der Täter. Ob du dir selbst den Befehl gibst oder ihn nur gehorsam ausführst, du bist und bleibst Kain, der Täter.
4. Die »Kains-Zeit« ist die Zeit der Vorbereitung auf die Tat. Sie umfasst alle Vorbereitungen, als da sind: Waffenproduktion, Waffenhandel, Waffenanwendung. Aber auch seelische Tötungsvorbereitung, also psychologische Aufrüstung, Feindbildung, Zielansprache, militärseelsorgerische Menschenaufrüstung und Seelenbewaffnung.
5. Willst du vermeiden, Kain zu sein, wirst du dann nicht gezwungen, Abel zu sein? Verweigerst du den Täter, macht es dich nicht zwangsläufig zum Opfer?
6. Abel war arglos. Abel wendete Kain den Rücken zu. Kain überfiel Abel von hinten und erschlug ihn. Frage: Wäre Kain zum Brudermord fähig gewesen, hätte Abel ihm nicht arglos den Rücken zugewendet?
7. Du willst nicht Abel sein. Du bewaffnest dich. Wie willst du verhindern, deinen Namen Abel zu verlieren und ein Kain zu werden?
8. Du blickst Kain bei seinen Tatvorbereitungen in die Augen. Du sprichst mit ihm. Du nennst seine Mordvorbereitungen genau beim Namen. Ist das eine Möglichkeit? Bist du stark genug dafür?
9. Du folgst deinem Jesus Christus nach und lässt dich wehrlos zum Opfer machen. Kannst du das?
10. Du bist nicht stark genug, dich zu opfern. Du greifst im allerletzten Moment zur Notwehr. Wann ist der letzte Moment?
11. Du willst auf gar keinen Fall Kain sein, dann schon lieber Abel, noch lieber aber weder Kain noch Abel. Es gibt keine Sicherheit. Du kannst nicht mit Sicherheit verhindern, Abel zu sein. Du kannst nur mit Sicherheit verhindern, Kain zu sein.
12. Bevor Kain Kain wird und Abel Abel, gibt es die Sekunde, die auch Stunde, Woche, Monat, Jahr sein kann, die »Kains- Zeit«. In ihr entscheidet sich, was darauf folgt. In dieser Zeit-Dehnung bereiten die Täter sich auf die Tat vor, und die Opfer werden ausgesucht. Es ist die Spanne, in der die potentiellen Opfer ihre Kunst der ebenso waffenlosen wie wirkungsvollen Tat-Verhinderung proben und praktizieren können. Es ist die Zeit, in der von ihnen mehr erwartet und verlangt werden kann als von den Vorbereitern des Todes. Könntest du stark genug sein zur Verhinderung?
13. Wenn du Abel nicht sein willst, musst du dich in der größten Kunst üben, die Menschen gegeben ist: Klug sein wie die Schlange, listig, phantasievoll, kreativ, kommunikativ, energisch, tapfer, elastisch, taktisch, standhaft, aufrecht, kompromisslos, friedfertig, überraschend, heftig, mitleidsvoll, aggressiv und zugleich friedensstiftend, denn bloßes Gut- und Liebsein genügt nicht, da machen sie dich nieder.
Man sagt uns, unser militant pazifistischer Widerstand gelinge nie, das sei Utopie, ein Nirgendwo, also unerreichbar. Das mag ja sein, doch wer nicht wagt, der nicht gewinnt. Wir sagen: Und wenn schon, mit weniger geben wir uns gar nicht erst ab. Es gibt genug Kriechgang auf der Welt. Wer sich aufrichtet, entlastet sein Kreuz. Lasst uns also anfangen mit der Kunst, die es bisher noch nicht gab: Der Kunst, weder Kain noch Abel zu sein.
Bis hierher wurde dieser liebenswürdige Text am 24. Mai 1991 in der Leipziger Volkszeitung abgedruckt, eingeleitet von einem intensiven Mordsbild und der Erklärung:
Kain: Gemälde von Wolfgang Mattheuer aus dem Jahre 1965. Für den Pazifisten Gerhard Zwerenz ist es an der Zeit, mit einer Kunst anzufangen: Weder Kain noch Abel zu sein. Dem Töten, dem Krieg, der Vernichtung ein Ende zu setzen. Sich in der größten Kunst zu üben, die Menschen gegeben ist: friedfertig zu sein und aggressiv zugleich. Um Frieden zu stiften. Am Sonntag wird Zwerenz diese Predigt in der Dortmunder Petri-Kirche halten.Im Rahmen des Projekts »LiteraturPredigt«, das Literaten den Weg auf die Kanzel ebnet.
Soweit ist das eine Leipziger Angelegenheit – geschrieben von einem Leipzig-Emigranten, begleitet von einem Maler der Leipziger Schule, gedruckt von einer Leipziger Zeitung mit der zutreffenden Erläuterung: »Literarische Predigt eines Atheisten zur Vorbereitung des Kirchentages …« Soweit sagte ich. Und wie weiter und was folgt daraus?
Sklavensprache XVII
Lass nie dich von Gefühlen täuschen, die sie von außen überstülpen dir und deinesgleichen. Sie wollen dich nur lebensgroß im Sarge haben. Von Anfang an, mit Wiegenliedern. Statt von der Muttermilch sollst du von Tranquilizern naschen. Auf Sicherheit und Ruhe eingestellt. Sie nehmen Maß an deinem Hosenboden, sie stecken deine Zunge ab. In deiner Bibel streichen sie die schärfsten Stellen einfach durch. Dann lassen sie dich fromme Lieder singen, und wenn du aufbegehrst, kriegst du eins drauf. Sie löchern dich und hängen deinen Hals ins Seil. Lass nie dich von den schönen Worten täuschen, mit denen sie an deiner Grube loben, was da liegt. Du bist ein braver Hund gewesen deinem Herrn.
Wegen der Frankfurter Buchmesse erscheint das nächste Kapitel – statt am Montag – am Dienstag, den 21. Oktober 2008.
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Gerhard Zwerenz
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